19.09.2014

Können Kinder stören?

Vertiefende Gedanken zu einem immer wiederkehrenden Problem.


Können Kinder stören? Diese Frage ist natürlich provokant – denn wie oft machen wir Erwachsenen die Erfahrung, dass sie es tun; aber wie sehr legt diese Frage doch auch nahe, einmal einen vollkommen anderen Blickwinkel einzunehmen.

Können Kinder stören? Nun – Kinder sind lebendige Wesen, sie tun nicht immer, was wir wollen (sonst wären sie Maschinen oder Sklaven, aber selbst diese tun nicht immer, was man will). Wenn aber nicht alles so „läuft“, wie man will, reagiert das gewöhnliche Bewusstsein stets intolerant und antipathisch – es fühlt sich gestört. Wen also stören lebendige Kinder? Den gewöhnlichen Menschen in uns, der alles möglichst bequem und nach seinem Willen haben will. Auch ein Hund, der spielen will und einem um die Beine scharwenzelt, stört, wenn man am Computer arbeiten muss. Lebende Wesen haben es an sich, dass sie „stören“...

Etwas anderes ist es aber, wenn man den Anspruch hat, das Kind als eigenes Wesen zu beachten und zu achten. Dann muss es andere Möglichkeiten geben, als ihm den Stempel „störend“ aufzudrücken. Und wir waren es doch, die Kinder wollten – und die hoffentlich noch immer unendlich glücklich sind, dass diese Kinder da sind, bei uns sind...? Dann muss man auch akzeptieren, dass diese wunderbaren, lebendigen Wesen sich lebendig verhalten...

Selbstverständlich brauchen auch wir manchmal unsere Ruhe – zum Arbeiten, zum Ausruhen von einem Übermaß an Arbeit und so weiter –, doch selbst in diesen Fällen stellt sich die Frage: Wie finden wir die Wege zu einem echten und guten Ausgleich der Bedürfnisse, ohne dass die Antipathie überhandnimmt und man in das schlimme Urteil flüchtet: „Dieses Kind stört“? Mit anderen Worten: Wie bewahren wir die reale Liebe zu dem Kind, auch und gerade in den Momenten, wo es (für uns) schwierig wird?

Denn um die Liebe geht es doch? Erziehung sollte doch ganz und gar in der Liebe leben – und welchen Sinn hätte unser Leben, wenn wir uns im Laufe der uns geschenkten Jahre nicht immer fähiger zu wirklicher Liebe machen würden? Von Christian Morgenstern stammen die wunderbaren Worte: „Ich meine, es müsste einmal ein sehr großer Schmerz über die Menschen kommen, wenn sie erkennen, dass sie sich nicht geliebt haben, wie sie sich hätten lieben können.“ In einer tiefen inneren Selbstbesinnung kann man sich diese Worte manchmal vor die Seele stellen und sich dann deutlich machen, wie kurz das Leben ist; wie kurz auch die gemeinsame Zeit mit unseren Kindern ist und sein wird. Nur ein paar wenige Jahre – und dann werden sie schon groß sein...

Aber auch – und gerade – in der Schule hört man oft, dass Kinder „stören“. Dass vielleicht dieses oder jenes besondere Kind ganz besonders „stört“. Was liegt da vor? Es können unzählige Gründe, Umstände, Zusammenhänge und Faktoren sein! Das Kind kann ein Leid tragen. Es kann zuhause eine schwierige Situation haben. Es kann am Lehrer liegen. An einem mangelnden Interesse (niemand kann sich für alles interessieren!). Es können karmische Gründe hineinspielen. Kurz gesagt: es gibt unendlich viele Möglichkeiten. Und doch steht oft sehr schnell am Ende der Stempel: „Das Kind stört“.

Mit etwas Humor könnte man sagen: Wenn wir die Schule abschaffen, gibt es auch keine störenden Kinder mehr... Dann hätte man als Lehrer seine Ruhe – aber man wäre auch kein Lehrer mehr. Ich will nun ebensowenig den Lehrern die Schuld geben, sondern nur auf die wirkliche Tragik hinweisen, die in jedem Einzelfall droht (!), wenn es schwierig wird.

Ein Lehrer kann kaum – wenn er jetzt und hier dreißig Kinder zu unterrichten hat – seinen eigenen Anteil hinterfragen, wenn (aus seiner Sicht) „ein Kind stört“. Er kann auch jetzt und hier keine Lösung dafür finden, dass es dem Kind vielleicht schlecht geht; dass es sich vielleicht fragt, wozu man Eurythmie machen muss oder singen soll oder stricken lernen muss, wozu man später im Leben Mathe brauchen soll und so weiter. Er kann auch jetzt und hier keine Lösung dafür finden, wenn das Kind unbewusst unter einem zu abstrakten oder intellektuellen Unterricht leidet, wenn es sich innerlich einfach nicht angesprochen oder erreicht oder genährt fühlt – und wenn es vielleicht gar nichts anderes tun kann, als „zu stören“, weil es nun einmal noch nicht so „reif“ und „selbstbeherrscht“ ist wie die Erwachsenen (und sind diese es eigentlich?).

Aber eines kann der Lehrer tun und können wir alle als Erziehende tun: Wir können die Liebe zu dem Kind bewahren – aber dies muss man üben, immer und immer wieder, dieses bewusste Vertiefen der Liebe. Das ist eine Erziehung der eigenen Seele, die mindestens so schwer und anstrengend ist wie der tägliche Unterricht für die Kinder! Wann immer die Kinder uns „stören“, sollten wir uns fragen: Haben wir denn heute schon daran gearbeitet, unsere Fähigkeit zur Liebe zu vertiefen? Haben wir dies überhaupt schon einmal bewusst getan? Oder erwarten wir immer nur von den Kindern, dass sie ihre Fähigkeiten entwickeln?

Zweierlei können wir also tun: Unsere Selbsterkenntnis üben und vertiefen – und unsere Fähigkeit zu lieben. Beides ist wirkliche Selbst-Erziehung. Und gerade dies suchen und brauchen die Kinder mehr als alles Andere! Rudolf Steiner hat auf dieses Geheimnis immer wieder hingewiesen, und er legte den Waldorflehrern innig die Worte ans Herz: Alle Erziehung ist Selbsterziehung. Er meinte damit sowohl die Kinder (diese erziehen sich an uns selbst, nicht wir erziehen sie) – als auch die Erzieher (diese müssen sich erziehen, ihre eigene Seele vertiefen, um wahrhafte Erzieher für die Kinder sein zu können).

Gerade gegenüber den Kindern müssen wir uns auch immer tiefer klarmachen, was es heißt, dass der Mensch ein sich inkarnierendes Wesen ist. Der Mensch ist ein geistiges Wesen, und er will in Zusammenhang mit dem irdischen Leib erst immer mehr derjenige werden, der er seinem wahren Wesen nach ist. Dieser Prozess ist eigentlich erst im Augenblick des Todes abgeschlossen, vorläufig... Was uns im Kinde begegnet, ist noch absolut nicht das Wesen des Kindes – es ist das Wesen, das mit den Hindernissen ringt. In der Kürze kann dies nur angedeutet werden, aber hierin liegt eine ungeheure Tragik – und diese steigert sich noch, wenn dies (von den Erwachsenen) nicht gesehen wird!

Wir müssen die geistige Realität wirklich in unser Denken hineinnehmen, wenn wir den Kindern gerecht werden wollen. Erst wenn man sich sagt: Ich sehe den wirklichen Menschen überhaupt noch nicht, ich sehe nur das Physische – das ist aber nicht der wirkliche Mensch, dieser ist eigentlich unsichtbar, und er ist insbesondere bei den Kindern noch ein vollkommenes Rätsel –, erst wenn man sich dies sagen kann, beginnt man, die Dinge wahr zu sehen. Rudolf Steiner sagte einmal, dass genau dies – den Menschen so anzusehen – „michaelisches Denken“ ist. Dies kann uns gerade in der Michaeli-Zeit Gegenstand für eine tiefe Besinnung sein.

Was brauchen wir dann vor allem, wenn Kinder einmal „zum Störfaktor“ werden? Verständnis ... Verständnis und Humor! Ein Kind kann sich gerade in der Schule nicht immer wohl fühlen. Vieles in der Schule ist nicht so, wie es die Kinder brauchen würden – oder wie es gerade dieses Kind brauchen würde. Sowohl als LehrerIn als auch als Eltern können wir dem Kind aber gerade dann so viel wie möglich Verständnis entgegenbringen. Und mit diesem Verständnis und mit einem dann darauf folgenden, wahrhaft liebevollen, augenzwinkernden „Und trotzdem...“ können wir dem Kinde Brücken bauen. Das Kind muss erfahren, dass wir seine Schwierigkeiten, seine Fragen, sein Leiden oder seine Unzufriedenheit verstehen. Dieses Verstehen des Kindes ist wichtiger als alles andere. Und wenn das Kind dies spürt und erlebt – dann können wir es auch mit diesem sanften „Und trotzdem...“ erreichen.

Liebe und Verständnis – sie allein vermögen es, die Brücken nicht abzubrechen und die Hindernisse nicht immer größer werden zu lassen, sondern den Weg immer wieder gemeinsam zu gehen. Das ist Erziehung – und das wird uns die größte Dankbarkeit der Kinder entgegentragen, selbst wenn diese nicht offen geäußert wird. Das wahre Wesen des Kindes wird dafür tief dankbar sein ... und uns und sich selbst mindestens ebensosehr entgegenkommen, wie wir ihm entgegenzukommen vermochten...