17.05.2014

Waldorfschule heute – Diagnose einer Katastrophe

Was zwei ehemalige Waldorfschüler uns sagen können – und was daran erkannt werden könnte.


Inhalt
Vom Versagen gegenüber der Verantwortung
Die Sicht von Valentin Hacken und Ansgar Martins
Vom Ungenügen äußerer Maßnahmen
Die fehlende Substanz


Vom Versagen gegenüber der Verantwortung

2010 bin ich von der Geschäftsführerin eines Vereins, der den Anspruch erhebt, der Waldorfbewegung zu dienen, entlassen worden, weil ich privat darauf hinwies, dass die Waldorfbewegung in dramatischem Ausmaß ihre spirituelle Substanz verliert bzw. de facto verloren hat.

Die führenden Vertreter dieser Bewegung hätten die unendliche Verantwortung gehabt, diese innere Katastrophe zu benennen und Wege zur Rettung oder zur Wiederbelegung dieser Substanz zu suchen. Stattdessen waren sie Teil der Katastrophe, indem sie schwiegen, scheinheilig angebliche Erfolge der Bewegung feierten und mich als Nestbeschmutzer behandelten.

In dem „Amtsblatt“ der Waldorfbewegung, der Zeitschrift „Erziehungskunst“ wird weiterhin fast nur die „schöne Seite“ der Waldorfpädagogik gezeigt (heilsame Ausnahme sind immer die Aufsätze von Henning Köhler...), und so entsteht durch wunderschöne Artikel die Illusion, die Wirklichkeit hätte auch nur annähernd damit zu tun. In einigen Klassenzimmern hat sie es vielleicht auch. Doch die Realität der „Bewegung“ sieht ganz anders aus:

Es sind Schulen, die alle, immer wieder vor den gleichen Problemen stehen. Einzelkämpfertum, immer weniger ausgebildete Waldorflehrer, Ausbildung bedeutet noch immer nicht pädagogische Fähigkeiten, aber auch absolut nicht irgendeinen Bezug zur Anthroposophie, zu irgendeiner inneren Vertiefung; überall gibt es mehr oder weniger Konflikte im Kollegium, zwischen Lehrern und Eltern, Probleme mit den Schülern. Es fehlt an echter Gemeinschaftsbildung, an pädagogischer Leuchtkraft, an wahrhaft menschlichen Vorbildern, an Menschen, in denen das wahre Wesen der Anthroposophie lebendig wird – und die dann Erziehungskünstler mit einer tiefen Liebe zum Kindeswesen werden, die dann zu sozialen Künstlern mit einer tiefen Liebe zum Menschen überhaupt werden.

Wenn man Rudolf Steiners erschütternde Worte über das Wesen der Waldorfpädagogik empfindet, über die ungeheure, aber auch wunderbare Verantwortung der Waldorflehrer, über die unendliche Bedeutung der Selbsterziehung – dann kann man nur schockiert sein über die Realität in den heutigen Waldorfschulen, die sich noch immer so nennen...

Wie diese Realität aussieht, das soll nicht durch meine Worte beschrieben werden, sondern durch Worte von Valentin Hacken, dem langjährigen Vorstandsmitglied der bundesweiten Waldorf-Schülervertretung, und Ansgar Martins, einem ehemaligen Waldorfschüler, der sich auf seinem „Waldorfblog“ extensiv mit der Situation auseinandersetzt. Beide haben im März in einem Interview miteinander gesprochen, aus dem ich die folgenden Auszüge wiedergebe.

Diese beiden ehemaligen Waldorfschüler – beide Anfang zwanzig – vertreten absolut nicht eine „innere Vertiefung“, wie ich dies in Übereinstimmung mit Rudolf Steiner tue. Ihnen kann man also keinerlei „Fanatismus“ nachsagen, den gewisse Menschen mir vorwerfen zu können und zu müssen glauben (unter anderem Ansgar Martins selbst). Ihre Einsicht in die Verhältnisse kommt sozusagen von der vollkommen anderen, der „pragmatischen“ Seite. Um so schlagender ist die Tatsache, dass ihre Aussagen mit den meinen in den Tatsachen vollkommen übereinstimmen.

Die Sicht von Valentin Hacken und Ansgar Martins

In dem auf Martins' Waldorfblog am 25.03.2014 veröffentlichten Gespräch heißt es unter anderem:

VH: [...] De facto hat die Anthroposophie an den Schulen auch die Funktion eines Machtmittels. Jedes Kollegium hat seine Despoten, die Kraft anthroposophischer Dogmatik erschlagen, was ihnen nicht passt, intellektuell grausam beengte Herrscher über das Schulgeschehen. [...]

AM: [...] Ich kenne Schulen, in denen sind die Steinerjünger längst in der Unterzahl, auf dem absteigenden Ast, und die anthroposophischen Vorstellungen, wie sich denn alles zu allem zu verhalten habe, vollends zum Phrasenhaften geworden. Natürlich glauben alle, dass sie diese irgendwie erfüllen, aber die Zielsicherheit, wie sich welche „menschenkundliche“ Angabe zur Praxis verhält, ist völlig erodiert. [...] Und da so dem Glauben das bestimmte Objekt abhanden gekommen ist, kämpft unter dem äußerlichen Schleier der Gläubigkeit pragmatisch Interessengruppe gegen Interessengruppe. Statt interner Konferenzen haben zuweilen Geschäftsführer die zentrale Überblicks- und Beraterfunktion und sitzen in jedem, ohne sie fast blinden, Schulgremium. [...] Pädagogische Konzepte werden Minimalkonsense, die für den Unterricht meistens irrelevant sind. [...]

VH: [...] Böse gesagt, es speist sich ein nicht unerheblicher Teil der Lehrerschaft aus Menschen, die in ihrem vorherigen Leben gescheitert sind und nun in der Gegenwirklichkeit der Gruppe aufgefangen werden. [...]

AM: [...] Mir scheinen die Lehrer oftmals fragmentiert nebeneinander her zu arbeiten, solange, bis es verlässlich wieder einmal zu Beschwerden oder Konflikten mit Schülern, Eltern und anderen Lehrern kommt. [...] Es kommt [...] zu Rangeleien, Machtkämpfen, Mobbing, gelegentlich auch mal zu juristischen Auseinandersetzungen. Und zwischendrin gibt es ja noch das Klassenspiel, die Hausbau-Epoche, den Erntetanz und eine Initiative für „gewaltfreie Kommunikation“. Das war dann wieder so schön, dass man der Klimakatstrophe eine Atempause gönnt. [...] Auf der Semantikebene arbeitet man am „Streben“, an „Vertiefung“, nicht an der langwierigen und ach so unkonstruktiven Aufdröselung der psychosozialen Hexenküche, die man sich da geschaffen hat. [...]

VH: [...] Das hat zum einen dazu geführt, dass sich eine geradezu parasitäre Beraterindustrie entwickelt hat, in der die Schulen und Verbände jedes Jahr hunderttausende Euro verbrennen und dazu, dass Feste wie Monatsfeiern eben dringend gebraucht werden für die Gemeinschaft, ein magischer Trick der Selbstvergewisserung, Umformung dessen, was man eigentlich nicht mehr glaubt. Dann kommt es zu Monatsfeiern, bei denen die Schüler ihre Aufführung nicht mehr als ihre erleben, sondern als Tanzbären für die wunden Seelen der Zuschauer gezeigt werden. Entlasten könnte man die Kollegien, indem man die Kompetenzen des Bunds der Freien Waldorfschulen (BdFWS) massiv stärkt, eine verbindliche Qualitätskontrolle einführt, einen Blick von außen, eine Korrektur. Doch dagegen wehren sich die Schulen mit Händen und Füßen, weil sie ihre Freiheit in Gefahr sehen. Doch sie schützen damit Versagen, Überforderung, Ineffizienz, nicht die Freiheit, mit ihren Schülern zu arbeiten. [...]
Sobald eine Schule in den BdFWS aufgenommen ist, kann sie nahezu tun und lassen was sie will, solange sie ihre Beiträge zahlt, nicht gerade die Schüler geschlagen werden und die staatliche Schulaufsicht einschreitet. [...] In meiner Zeit beim BdFWS habe ich erlebt, dass den Verantwortlichen all diese Probleme durchaus bewusst sind. Ich wünsche mir da vor allem mehr Mut, mehr Radikalität. [...] Ich finde es weniger tragisch, Mitglieder zu verlieren, als schlechten Schulen den Namen Waldorfschule zu geben. Ich denke, der Bundesvorstand muss hier absolut die Konfrontation wagen und aufzeigen, was eigentlich auf dem Spiel steht [...]. Man kann doch nicht noch mal hundert Jahre davon leben, dass man irgendwie nicht all zu schlecht ist. [...]
Wer [...] kritisiert, setzt sich dem Verdacht aus, nicht der gemeinsamen Sache dienen zu wollen und ungeheuer schnell greift die Unterscheidung in innen und außen, Freund und Feind, für uns und dagegen. Verlässt eine Familie im Zorn mit all ihren Kindern die Schulgemeinschaft, wird eher davon gesprochen, sie hätten halt zu große Erwartungen gehabt – im Einzelfall sicher manchmal zutreffend –, oder seien auf dem Schulungsweg noch nicht weit genug. [...]
Gute Aussichten haben die, welche den Stillstand verwalten, die Bestände sichern und das gut kaschieren wollen, durch minimale Korrekturen und einen freundlichen Anstrich. [...]
Die Waldorfschulen haben ein gigantisches Potential an Personen, an gestaltbaren Optionen, an Liebe und Optimismus für Bildung und Erziehung, doch momentan verbrennen sie viel zu viel davon, starrköpfig und selbstzufrieden. So finden sie auch nicht die Lehrkräfte, die sie für ihre Schüler brauchen, sondern nur solche, welche diese Schulbewegung als Halt brauchen. [...]

Vom Ungenügen äußerer Maßnahmen

Das ist wahrlich eine vernichtende Diagnose – getroffen durch zwei Waldorfschüler, die tief in die Verhältnisse hineinblicken, und deren Objektivität noch dadurch unterstrichen wird, dass sie beide betonen, selbst eine relativ gute Schulzeit gehabt zu haben. Doch dahinter steht eine Katastrophe. „Man kann doch nicht noch mal hundert Jahre davon leben, dass man irgendwie nicht all zu schlecht ist.“

Aber genau dies wird geschehen, wenn nichts geschieht. Spirituell ist die Katastrophe längst da, denn die innere Substanz ist so radikal erodiert, dass gar keine Möglichkeit mehr da ist, etwas zu ändern. Es müsste erst wieder völlig neu, durch völlig neue Menschen ein völlig neuer Wille zu einer wirklichen, starken Selbsterziehung der Seele gefasst werden. Dann könnte die Verwahrlosung auf pädagogischem und sozialem Gebiet – und beides beeinflusst sich im Moment negativ in einem Teufelskreislauf – umgekehrt werden. Dann könnten aufgrund einer realen Arbeit an der eigenen Seele wirkliche Fähigkeiten wachsen, die sowohl im Pädagogischen wie auch im Sozialen unendlich fruchtbar werden würden.

Dies wird belächelt, ja verlacht, weil man die Kraft des Geistes überhaupt nicht kennt – und weil man innerlich gar nicht den Willen zu einer solchen Selbsterziehung, einer solchen Läuterung der Seele hat. Stattdessen schlägt man sich weiter durch den immer zäher und saugender werdenden Sumpf der Katastrophe – oder fordert pragmatische Maßnahmen wie eine „bessere Ausbildung“, eine „bessere Qualitätskontrolle“, einen „stärkeren Bund der Waldorfschulen“.

All das kann gewisse Verbesserungen bringen – aber es würden Tropfen auf heiße Steine sein. Was wäre denn gewonnen, wenn man Schulen schließen müsste? Wenn es zur Konfrontation zwischen dem Bund und den einzelnen Schulen käme? An den Schulen selbst würde sich kaum etwas verbessern, denn wo es an Qualität fehlt, kann man sie auch nicht kontrollieren oder sichern. Stattdessen würden die in den Schulen schon existierenden Konflikte verstärkt auch auf die überregionale Ebene übergreifen. Die sozial auseinandertreibenden Kräfte würden sich ins Extrem steigern, es käme zu einem völligen Chaos, zu einem Auseinanderbrechen der jetzt schon nur noch sehr lose assoziierten Gesamtheit der verschiedenen Schulen. Egal, wer den Machtkampf gewinnen würde – der von den Schulen bezahlte „Bund“ oder die Schulen –, es könnten alle nur weiter verlieren.

Die fehlende Substanz

Ohne eine Einsicht in die wirkliche Ursache dieser ungeheuren Probleme kann es aus der zunehmenden Katastrophe keine Rettung geben. Die Ursache der völligen Erosion der inneren Substanz ist, dass die innere Selbsterziehung als Grundprinzip der Waldorfpädagogik an den Schulen nahezu keinerlei Wert beigemessen wird – abgesehen von einzelnen Ausnahmen.

Einer der ersten Schritte einer solchen Selbsterziehung müsste sein, die reale Bedeutung der Anthroposophie immer tiefer erkennen zu wollen, statt hochmütig zu meinen, sie könnte neben dem Leben herlaufen oder aber sogar als völlig unwesentlich, ja unzeitgemäß verachtet werden. Der erste Schritt der Selbsterziehung müsste die Bekämpfung des Hochmutes sein – des Hochmutes des Intellekts, der nicht nur das wesentliche, ja einzige Hindernis für ein wirkliches Erkennen der Anthroposophie ist, sondern auch das Hindernis für eine Ehrfurcht gegenüber dem Kindeswesen, die eine weitere Grundbedingung für Waldorfpädagogik ist... Und der Hochmut des Intellekts ist schließlich auch der einzige Grund für alle sozialen Konflikte, denn wo dieser Intellekt herrscht kann nicht die soziale Liebe herrschen, sie schließen sich gegenseitig aus.

Der aufgrund der nicht geschehenden Selbsterziehung allein-herrschende Intellekt verhindert die Liebe zur Anthroposophie, zum tiefsten Wesen des Kindes und zum Mitmenschen...

Die Kräfte, die der Mensch zunächst hat, reichen absolut nicht aus, um in den dann entstehenden Problemen und Konflikten standzuhalten. Jeder Mensch hält sich für kinderliebend, sozial umgänglich und vielleicht auch interessiert an der Anthroposophie – und dennoch nehmen die Probleme und Konflikte zu. Warum? Weil die notwendigen Fähigkeiten dennoch nicht da sind, weil es viel größere Fähigkeiten, ganz andere innere Seelenfähigkeiten und Kräfte bräuchte. Weil unsere Zeit ohne diese völlig verloren ist und die Kräfte des Antisozialen, des Trennenden und der Disharmonie im Zweifelsfall doch immer wieder dominieren – egal, welches schöne Selbstbild man von sich pflegt.

Gerade das Wesen der Anthroposophie wird nicht erkannt – wodurch all die schlimme Dogmatik zustandekommt, die Ansgar Martins mit Recht anprangert. Die pervertierte Anthroposophie ist viel schlimmer als gar keine – das hat schon Rudolf Steiner scharf betont. Das Wesen der Anthroposophie wäre eine Vertiefung, eine wahre Realisierung des Menschlichen, dessen Wesen und unendliches Potential noch überhaupt nicht geahnt wird. Anthroposophie ist also völlig unvereinbar mit jeglichem Dogmatismus – die Dogmatiker sind die Feinde der Anthroposophie. Doch auch diejenigen, die die ganze Anthroposophie abschaffen wollen, weil sie nur noch Dogmatik sehen, weil ihnen Rudolf Steiner selbst als Dogmatiker und Verkünder irrelevanter, abstruser „Wahrheiten“ erscheint, arbeiten daran, dass der einzige Kulturimpuls, der wirklich bis in die fernste Zukunft führen könnte, völlig unkenntlich gemacht wird.

Die Zukunft der Menschheit wird sich an der Frage entscheiden, ob man erkennen wird, was Anthroposophie eigentlich ist. An diesem Punkt wird sich entscheiden, ob der Mensch sein eigenes Wesen erkennen wird. An diesem Punkt wird sich entscheiden, ob der Intellekt die Menschheit in den Abgrund führen wird – oder ob das innere, sich selbst ergreifende Menschentum des Menschen die Herrschaft über den Intellekt gewinnt und diesen in eine Verwandlung bringen kann. Dieser eine Punkt, die Verwandlung des Intellekts, ist der archimedische Punkt, der die alte Welt aus den Angeln heben könnte – einzig und allein an diesem einen Punkt kann wirkliche Substanz entstehen, wirklich neue Substanz...

An diesem Punkt der Erkenntnis der Anthroposophie und des Betreten ihres Weges wird sich auch das Schicksal der Waldorfschulen entscheiden – und die Frage, ob sie überhaupt irgendeine Zukunftsaufgabe haben. Was diese Aufgabe ist, wird in dem nächsten Aufsatz weiter beschrieben werden.