11.02.2013

Will man die Waldorfpädagogik tot oder lebendig?

Entgegnung auf Prof. Schierens Vortrag „Die spirituelle Dimension der Waldorfpädagogik“.


Inhalt
Die ungeheure Tragik
Die ungeschönte Realität der Waldorfbewegung
Die Autorität des heutigen Anti-Spiritualismus
Erkennen und Wirklichkeit – und die „Lehre“
Vor- und nach-aufklärerische Standpunkte
Professor Schierens „Denkbegriff“
Die Kapitulation vor der „Wissenschaft“
Konsequenzen? Der Verlust des eigentlichen spirituellen Elements
„Das Größte, was man vorbereiten kann“, wird unerkennbar
Der entscheidende fehlende Schritt
„Solange ... kann man auch nicht über Pädagogik reden“
„...es wird selber ein Akt der Befreiung“


Die ungeheure Tragik

Vor drei Monaten hielt Prof. Jost Schieren (Alanus-Hochschule) auf der Mitgliederversammlung des Bundes der Freien Waldorfschulen einen Vortrag über die spirituelle Dimension der Waldorfpädagogik.

Wer das reale Wesen der Waldorfpädagogik kennt, wie es an den Vorträgen Rudolf Steiners real-geistig erlebbar werden kann, in dessen Seele klingen bei dieser Frage unmittelbar ganze Welten an. Das ganze, unendlich hohe, übersinnliche Wesen des Menschen, die ganze Erdenentwicklung, die Bewusstseinsgeschichte der Menschheit, der geistige Blick auf die Welt…

All dies ist zunächst die spirituelle Sicht der Anthroposophie, damit aber auch die spirituelle Dimension der Waldorfpädagogik. Denn aus der Geisteswissenschaft geht nicht nur die wahre Ehrfurcht vor dem Wesen des Menschen hervor, sondern auch jede einzelne Anregung für eine wahrhaftige, diesem Menschenwesen und seiner Entwicklung dienenden Pädagogik.

Doch nichts von diesen Welten des inneren Erlebens und der geistigen Realität ist in dem Vortrag von Schieren zu finden. Man fühlt sich lesend – und sich sehnend nach einem Wiedererkennen der Geisteswissenschaft, des lebendigen wahren Erkennens des Menschenwesens – wie ein Durstiger in der Wüste, dazu verurteilt, weiterhin nur Wüste zu sehen…

2010 wurde ich von den „Freunden der Erziehungskunst“ (die tatsächlich noch immer den Namen Rudolf Steiners für ihren eigenen Namen zu vereinnahmen wagen) entlassen, weil ich die Abstraktheiten in den Äußerungen und Schriften führender „Waldorfvertreter“ aufgezeigt habe und immer wieder darauf hinwies, dass auf diese Weise die spirituelle Dimension der Waldorfpädagogik gerade vernichtet wird.

Das Erleben dieser Dimension führt dazu, dass man einem Vortrag mit diesem Titel wiederum mit Sehnsucht entgegentritt und hofft, darin etwas von dem lebendigen spirituellen Wesen dieser Pädagogik zu finden. Aber – es hat sich nichts geändert. Diese Dimension wird in dem Vortrag von Prof. Schieren nicht lebendig. Es ist, wie wenn man selbst eine wunderbar lebendige, farbige, vom warmen Sonnenlicht durchströmte Welt kennen würde, aus der ein totes, erstarrtes, von fahlem Mondlicht beschienenes Abbild gemacht würde.

Ich kann nur wiederum versuchen, diese erschütternde Tatsache ein wenig erlebbar zu machen. Hierzu werde ich zuerst dem Vortrag von Prof. Schieren folgen und danach im vollen Kontrast dazu einige wenige Worte Rudolf Steiners wiedergeben. Um in die geistige Lebendigkeit und wirkliche Spiritualität der Waldorfpädagogik einzutauchen und so den abgrundtiefen Kontrast zu erleben, sollte man natürlich viel intensiver in die eigenen Worte Steiners eintauchen – und man wollte wirklich unzählige Stellen aus seinem Lebenswerk angeben, wo dieser lebendige Geist immer wieder wie mit (geistigen) Händen zu greifen ist.

Man kann hinblicken, wo man will, in Steiners Schilderungen kommt die „spirituelle Dimension der Waldorfpädagogik“ zu einer unmittelbaren Auferstehung, wird erlebbar, berührt das Denken, Fühlen und Wollen – und es ist eigentlich nicht zu verstehen, wie man, wenn man dies wirklich erlebt hat, dann noch in einer abstrakten Sprache abstrakt die sogenannte „spirituelle Dimension“ schildern kann.

Aber dies geschieht. Doch man dient damit nicht dem Wesen dieser wunderbaren Pädagogik, man dient dem Wesen des Intellekts. Es kommt zu einem Schein-Verständnis, und gerade dieser Schein ist so verführerisch. Eine volle Unwahrheit wäre besser als die Halb- und Viertelwahrheiten, denn sie würde wirklich gleich als solche erkannt werden können. Mit den Halbwahrheiten jedoch lässt sich wunderbar der Anschluss an die akademischen Wissenschaften und Diskurse finden, womit man der Waldorfpädagogik zu dienen glaubt, obwohl man gerade ihrem Tod dient. Intellektuell kann nun verstanden werden, was die Waldorfpädagogik will – und verschiedene „Erziehungswissenschaftler“ werden sich dem sicherlich interessiert zuwenden, vielleicht auch, weil tief in ihnen unhörbar leise irgendetwas anklingt, aber man wird aus dem Intellekt nicht herauskommen. Gerade das ist der Tod. Nie dürfte über die Waldorfpädagogik in dieser Weise gesprochen werden, denn dieses intellektuelle Sprechen über das im Grunde unmittelbar Spirituelle nimmt der Waldorfpädagogik das Wesen – selbst wenn über es gesprochen wird!

Es kann im Sprechen über die Waldorfpädagogik nur eine winzige Nuance fehlen – und doch kann diese die entscheidende sein. Man kann die Realität dessen vielleicht in folgendem Bild empfinden: Man hat vor sich eine lebendige Pflanze – und nun bricht man einen winzigen Teil ab. Wenn dieser winzige Teil der entscheidende Wachstumspol ganz an der Spitze ist, aus dem alles hervorgeht, so hat man die ganze Pflanze vernichtet. Sie wird nie wieder wachsen, wird niemals mehr eine Blüte hervorbringen…

Die ungeschönte Realität der Waldorfbewegung

Schieren beginnt seinen Vortrag bereits mit den Worten: „Über die spirituelle Dimension der Waldorfpädagogik zu sprechen, erscheint in mehrfacher Hinsicht problematisch und auch heikel zu sein. Warum ist das so?“

Ja, warum ist das so? Einerseits deshalb, weil wir – wie Schieren im Folgenden richtig beschreibt – in einer anti-spirituellen Kultur leben. Andererseits aber deshalb, weil es niemanden gibt, der so von dem Spirituellen sprechen kann, dass es von anderen Menschen in voller Übereinstimmung mit den Idealen, aus denen die neuzeitliche Wissenschaft hervorgegangen ist, aufgenommen werden kann. Schieren glaubt gerade, dies zu tun – aber der notwendige Weg wäre gerade ein entgegengesetzter!

Schieren passt sich dem Intellekt an – stattdessen müsste mit dem vollen Mut zur Esoterik gesprochen werden, das heißt, das Spirituelle müsste unmittelbar in den Worten leben, aus den Worten herausströmen, herauswärmen, herausblitzen – und diese Worte müssten zugleich so sein, dass deutlich wird: Diese Erkenntnisse, sie können in der vollen Bewusstseinsklarheit und voller Gewissheit ihrer Wahrheit gewonnen werden! Eine Wissenschaft vom Geist ist möglich! – Das müsste der Grundtenor jedes Sprechens von Waldorfpädagogik sein. Stattdessen aber wird ein abstrakt Geistiges in abstrakten Worten dargestellt. Ohne Begeisterung jedoch und ohne absolute Wahrhaftigkeit und Verantwortlichkeit vor dem Geistigen lebt der Geist nicht – und kann auch vom Leser oder Hörer nicht erlebt werden.

Schieren beginnt den Vortrag dann mit dem Hinweis auf den Praxiserfolg der Waldorfschulen. Im Weiteren erwähnt er in einigen kurzen Sätzen aber auch erstaunlich offen die Probleme, vor denen die Waldorfbewegung steht. Er sagt:

Wir wissen nur zu gut um die eigenen Qualitätsprobleme, wissen […] um die Problematik mancher festgefahrener Schulkollegien, die irgendwie in der Selbstverwaltungsfalle stecken geblieben sind […].
[…] von vermeintlich wohlmeinender Kritikerseite wird angeraten – wie Der Spiegel vor einigen Jahren vorschlug – „Waldorfschulen ohne Steiner“ zu schaffen. Und die heutige Schulwirklichkeit an Waldorfschulen scheint diesen Rat schon viel deutlicher einzulösen, als mancher Kritiker vermuten würde. Die vorliegenden Zahlen belegen, dass 50 % der an Waldorfschulen tätigen Lehrerinnen und Lehrer über keine Waldorfausbildung verfügen. Und die jüngste Lehrerstudie […] belegt, dass nur etwa 30 % der Waldorflehrer eine aktive Beschäftigung mit der Anthroposophie pflegen.


Das ist die Realität! Die Hälfte der an Waldorfschulen tätigen Lehrer haben keine Waldorfausbildung. 70 Prozent beschäftigen sich nicht mit der Anthroposophie! Und was heißt „Beschäftigung“? Wenn man davon ausgeht, dass die „Beschäftigung mit der Anthroposophie“ so ist, wie sie sich in einem Vortrag wie diesem von Prof. Schieren offenbart, dann sind es allenfalls noch Einzelne, die sich wirklich tief und lebendig mit der Anthroposophie verbunden fühlen – und es auch sind. Man lese wirklich die Bücher, die die Lehrer der ersten Waldorfschule geschrieben haben, und man findet noch eine lebendige Essenz.

Heute sind es einsame Einzelne – in jedem Kollegium vielleicht noch ein, zwei Kollegen –, die gegenüber der Anthroposophie und der geistigen Welt eine Art reale Verantwortung empfinden. Diese einzelnen Kollegen stehen einsam – der reale Alltag in den Schulen, in den Kollegien, in den Konferenzen ist nicht spirituell. Der Alltag ist Wüste, die einsamen Einzelnen sind am Verdursten... Schieren nennt die Zahlen offen, aber er sagt nicht klar, was sie bedeuten. Sie bedeuten aber genau dies.

Die Autorität des heutigen Anti-Spiritualismus

Dann nennt Schieren die Aspekte des realen Anti-Spiritualismus der heutigen „westlichen Wertegemeinschaft“. Man wirft ununterschieden jeder Spiritualität vor, sie sei nicht mit Wissenschaftlichkeit vereinbar, daneben aber kritisiert man Exklusivität (Eingeweihtenwissen, anti-demokratisch), Devotion (Gurutum), Dogmatismus und Sektierertum. Schieren sagt dann weiter:

„Ich denke, wir befinden uns allerdings gegenwärtig in einer Zeit, in der sich Anthroposophen und Waldorfpädagogen der letzten Reste einer anmaßend unmodernen Spiritualität zu entledigen suchen. [...] Die Frage, vor der wir stehen, ist allerdings, wie eine moderne Spiritualität, die nicht voraufklärerisch ist und die zugleich als Grundlage einer Pädagogik dienen kann, gedacht werden muss.“


Schieren zitiert dann den Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich, der bei aller Würdigung der Waldorfpädagogik doch in radikaler Weise ihren Erkenntnishintergrund verkennt und verurteilt:

„Im Gegensatz zur bewussten methodischen Selbstbegrenzung, zur Pluralität und Unabschließbarkeit moderner Wissenschaftlichkeit wollen Steiner und seine Schülerschaft das wohlgeordnete Ganze der Welt gleich einer ewig unwandelbaren Wahrheit dogmatisch wissen bzw. schauen […] Ihre Denkform ist degenerierte Philosophie, ist Weltanschauung […]“


Schieren lässt dies so stehen und weist nur vorsichtig darauf hin, dass aus einer solchen Art zu urteilen auch die Verweigerung der Akkreditierung der Mannheimer Schule durch den Wissenschaftsrat entsprungen ist. Dabei müsste hier viel schärfer darauf hingewiesen werden, dass hier doch völlig offenbar wird, wie aggressiv weltanschaulich die heutige Wissenschaft ihre wohltönende „Selbstbegrenzung“ und „Unabschließbarkeit“ verkündet, nur um reale Erkenntniswege, die sie nicht akzeptieren und verstehen will, als unwissenschaftlich, ja degeneriert zu brandmarken! Erinnert uns dies nicht an finsterste Zeiten der jüngeren Geschichte?

Und wird hier nicht ganz deutlich, warum Steiner ein freies Geistesleben für unbedingt notwendig hielt, wenn die Kultur nicht ganz in die Dekadenz kommen will? Der Zugang zur Realität des Geistes wird  heute nicht nur nicht verstanden – es wird staatlich verboten, Einrichtungen zu schaffen, in denen zumindest vom äußeren Anspruch her auch nach solchen Zugängen gestrebt wird! Wir haben eine Diktatur einer einseitigen, geist-bekämpfenden „Wissenschaft“ – und diese einseitige Welt-Anschauung wird mit der Macht staatlicher Sanktionsgewalt durchgesetzt.

Schieren äußert sich hierzu nicht weiter, sondern passt sich diesen Machtverhältnissen an. Er bleibt im akademischen Diskurs, sich der vom unsichtbaren Diktator auferlegten „pluralen Selbstbegrenzung“ beugend, und fragt nur vorsichtig:

„Muss man sich damit von einer spirituellen Pädagogik verabschieden? Oder ist es möglich, ein neues und modernes Spiritualitätsverständnis zu entwickeln, welches eben nicht vor-aufklärerisch ist, sondern welches auf den Ergebnissen und Idealen der Aufklärung aufbaut und nicht zugleich einen spirituellen Weltzugang verunmöglicht? Es sei, um hier weiterzukommen, auf das spezifische Spiritualitätskonzept Rudolf Steiners geblickt.“


Verwundert fragt man sich: Ging es denn nicht von Anfang an um die Spiritualität der Anthroposophie? Aber darum geht es offenbar nicht! Sondern „es sei“ im folgenden, akademisch korrekt, „auf das spezifische Spiritualitätskonzept Rudolf Steiners“ geblickt. Glaubt man denn wirklich, auf diese Weise zu realer Spiritualität zu kommen? Warum erkennt Schieren nicht, dass er auf diese Weise durch und durch dem Intellekt verpflichtet bleibt? Und warum erkennt er nicht, dass es niemals eine Verbindung, eine Brücke zwischen Intellekt und Spiritualität geben kann!?

Geisteswissenschaft ist eine Wissenschaft, sie wird mit voller Klarheit und Bewusstheit geführt. Doch um zum Geist zu kommen, muss der Intellekt spiritualisiert werden. Dann ist er aber nicht mehr Intellekt! Das Denken kann entweder Intellekt bleiben, toter Schein – oder es kann lebendiges Organ für das Geistige werden. Ist es dies aber, wird es nie wieder die Form des Intellekts annehmen, weil der Mensch dann weiß, dass der Intellekt nie zum Geist führen, sondern nur vom Geist wegführen kann. Es muss anders gesprochen werden! Nur wenn anders gesprochen wird, kann man ein Zeuge des Geistes werden, statt ein Zeuge und Diener des Intellektes zu sein.

Erkennen und Wirklichkeit – und die „Lehre“

Nun sagt Schieren:

„Bei vielen Vertretern der Anthroposophie und auch der Waldorfpädagogik wird aus meiner Sicht der besondere spirituelle Ansatz Rudolf Steiners oftmals nicht trennscharf genug herausgestellt. Dadurch kann leicht der Eindruck entstehen, als enthalte Anthroposophie die Lehre einer an sich bestehenden geistigen Welt, entsprechend ausgestattet mit Engel- und Widersacherwesen, die Einflüsse auf die unselbstständigen Menschenseelen ausüben.“


Und er betont, dass Steiner gerade erstmals Spiritualität und Freiheit verbunden hat. – Nun ist dies tatsächlich der entscheidende Punkt. Doch ebenso wahr bleibt es, dass eine solche geistige Welt besteht und dass sie Einflüsse auf die Menschenseelen ausübt und dass der Mensch erst dadurch frei wird, dass er sich befreit! Und dass er erst dann in die Lage kommt, wieder bewusst mit dieser tatsächlich „an sich bestehenden“ geistigen Welt zusammenzuwirken – und ihr etwas Wesentliches hinzuzufügen!

Wenn es diese „an sich bestehende“ geistige Welt mit ihren Widersacherwesen nicht gäbe, wie hätte dann der Mensch jemals in den Materialismus hineingeraten können? Einst hatte der Mensch noch die Verbindung mit dem Geist – war aber gleichsam noch wie ein Kind mit der geistigen Welt verbunden. Dann begannen Einflüsse zu wirken – wesenhafte, nicht abstrakte Einflüsse –, durch die des Menschen Blick und Bewusstsein immer mehr auf die äußere, die bloß äußere, sinnliche Welt gerichtet wurde. Der Mensch verlor das Bewusstsein eines Zusammenhanges mit einer real geistigen, übersinnlichen Welt – und er geriet … in den Intellekt. In diesem kann er auch sein eigenes geistiges Wesen nicht erleben.

An diesem Punkt jedoch liegt die Freiheit des Menschen – denn nun kann er aus voller Freiheit heraus dazu aufsteigen, sein eigenes wahres Wesen zu erkennen – und zu verwirklichen. Der Mensch kann den Geist erkennen, und er kann seinen eigenen Geist wahrmachen, bewusst „realisieren“. Das ist die Befreiung, das Finden der Freiheit.

Die Weltentwicklung, die Bewusstseinsentwicklung – und hiermit sind Wesenheiten verbunden – hat den Menschen in den Intellekt geführt. Sie hat ihn damit bis zur Grundlage seiner Freiheit geführt, zugleich aber auch in eine Gefangenschaft, in eine Vergessenheit seiner Heimat, seines wahren Wesens und der wahren Welt, die ihn eigentlich umgibt. Von diesem Punkt aus kann und muss der Mensch selbst zur Freiheit kommen – dies tut er, indem er den Geist findet. Und dies tut er, indem er ihn zuerst in sich selbst findet und verwirklicht – und damit befreit er sich zugleich vom Intellekt. Diejenige Freiheit, auf die Rudolf Steiner hinweist, gibt es ohne die Spiritualisierung des Intellekts nicht.

„Das Besondere an Steiners Anthroposophie“ ist, wie Schieren schreibt, tatsächlich nicht „dass sie eine spirituelle Lehre beinhaltet“ (denn solche gab es weltgeschichtlich immer schon). Das Besondere ist aber die Art der sogenannten „Lehre“, denn diese gehört essentiell dazu, ist ja selbst die „Gestalt“ der Anthroposophie und führt den Menschen, der sie nicht bloß intellektuell aufnimmt, bereits die ersten Schritte auf dem Weg der Befreiung. Die „Lehre“ erweckt etwas im Menscheninneren, was sich ahnend bewusst wird, dass es sich befreien muss – und was im Aufnehmen der Schilderung übersinnlicher Tatsachen (!) bereits seine eigene Befreiung beginnt...

Die Gedanken und Worte von Prof. Schieren erwecken dagegen nichts im Inneren. Er schildert im folgenden trocken und akademisch „Steiners Erkenntnisbegriff“. Steiner wende sich gegen naiv realistisches Wirklichkeitsverständnis, das „der Wirklichkeit eine außerhalb des menschlichen Bewusstseins und davon unabhängige Daseinsform zuschreibt“, die das menschliche Erkennen dann nur noch „abbilde“.

Schon hier vermischen sich wieder „Dichtung und Wahrheit“, denn selbstverständlich ist die Rose, die Wolke, der Regenbogen, der Engel (wenn auch nicht wahrgenommen) eine Wirklichkeit. Doch der Mensch als Erkennender kommt nicht nur zu einem Abbild, er kommt zu einer wirklichen Vereinigung mit der Wirklichkeit – und kann sich dieser ungeheuerlichen Tatsache bewusst werden. Dieses Bewusstwerden ist selbst ein Geschehen, selbst eine Wirklichkeit – es fügt der Wirklichkeit etwas hinzu, was niemals zuvor da war...

Wenn das Erkennen zu einer eigenen, bewussten Realität gemacht wird, so ist etwas in die Welt gekommen, was zuvor nie da war und ohne den Menschen nie da sein kann. Es kommt etwas in die Welt, auf das eigentlich die ganze Weltentwicklung bis zu diesem Punkt der Entwicklung der Welt, der Menschheit und des Bewusstseins dieser Menschheit zugelaufen ist. Aber diese reale Verwirklichung der „Substanz“ des Erkennens kann keine Wirklichkeit werden, wenn nicht verstanden wird, worauf Steiner hindeutet – und wenn es intellektuell referiert und sogar noch verfälscht wird.

Vor- und nach-aufklärerische Standpunkte

Schieren sagt, Steiner mache auf die „Beteiligung des Bewusstseins beim Zustandekommen von Wirklichkeit“ aufmerksam. Dies sei „durchaus ein Ansatz der Aufklärung“, denn auch Kant (!) habe die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis untersucht. Kant jedoch kam zu dem Schluss, das menschliche Erkennen sei vom Sein der Welt prinzipiell getrennt, während  nach Steiner – so Schierens Worte – „das menschliche Erkennen in die Seinsgründe der Welt involviert ist“.

Schieren verweist dann auf Steiners berühmte zwei Wurzelfragen im Vorwort der „Philosophie der Freiheit“, zunächst auf die erste, „ob es eine Möglichkeit gibt, die menschliche Wesenheit so anzuschauen, dass diese Anschauung sich als Stütze erweist für alles andere, was durch Erleben oder Wissenschaft an den Menschen herankommt, wovon er aber die Empfindung hat, es könne sich nicht selber stützen.“

Nun meint Schieren, diese Fragestellung erweise sich als nach-aufklärerisch, weil sie anders als irgendein Offenbarungsglaube davon ausgeht, dass in den an das Bewusstsein herantretenden Erfahrungen kein letztgültiger Wahrheitsgrund gefunden werden könne.

Schieren fasst die Frage jedoch nicht tief genug auf – denn schon diese Fragestellung Steiners entzieht der heutigen wissenschaftlichen Auffassung den Boden. Nicht nur übersinnliche „Offenbarungen“ treten an das Bewusstsein heran, sondern auch die Offenbarungen der Sinne, der Sinneswelt. Aber in alledem – das haben die Anschauungen Kants und die Entwicklungen bis hin zur heutigen Wissenschaft gezeigt – kann der Mensch keine letzte Sicherheit über die „wirkliche Wirklichkeit“ finden. All diese Dinge können sich nicht selber stützen.

Ohne wirkliche Klärung der tiefsten Seins- und Erkenntnisfragen geht die Wissenschaft heute fraglos von Kants Überzeugungen aus – und arbeitet mit Sinnesdaten und Hypothesen, Urteilen und Schlussfolgerungen des Denkens. All dies geschieht im Grunde unreflektiert. In den einzelnen Prozessen reflektiert der Wissenschaftler sehr wohl, aber die Grundfragen des Erkennens stellt er heute überhaupt nicht mehr. Hier steht er wieder auf einem Standpunkt vor der Aufklärung. Er hängt einem neuen Dogmenglauben an – und das Dogma heißt heute wie vor 150 Jahren (Du Bois- Reymonds) bzw. 200 Jahren (Kant): Ignorabimus.

Der heutige Wissenschaftler hat keine Fragen mehr über die Grundlagen des Erkennens, er will sich nicht aufklären über die Bedingungen und Möglichkeiten des menschlichen Erkennens. Ihm reicht das herrschende Dogma...

Nicht Steiner muss verteidigt werden, um zu zeigen, dass sein „Ansatz“ „nach-aufklärerisch“ sei, sondern es muss energisch gezeigt werden, dass die heutige Wissenschaft längst wieder trotz all ihrer immensen Daten-, Interpretations- und Erkenntnisfülle in einen vor-aufklärerischen Zustand zurückgefallen ist!

Schieren dagegen reiht sich vollauf ein in die Folgen dieses dogmatischen Nicht-Erkennen-Wollens, in den Pluralismus und in das Ignorabimus:

„Ein modernes Bewusstsein zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es Erkenntnis nicht als quasi objektiven Vorgang, sondern als menschenbedingt und menschengemacht begreift. Insofern spricht beispielsweise Karl R. Popper von der „Falsifikation“ als Erkenntniskriterium und verwahrt sich damit gegen die Behauptung letztgültiger Erkenntnis, indem er die prinzipielle Vorläufigkeit aller Erkenntnisleistungen herausstellt.“


Hier befinden wir uns mitten in der Relativierung und im Aufrichten absoluter Erkenntnisgrenzen! Karl Popper und Immanuel Kant befinden sich in trauter Gemeinsamkeit – sie können die bahnbrechende Entdeckung Steiners mit ihren Erkenntnis-Vorurteilen niemals nachvollziehen (und das heißt auch: nach ihm nun selbst ebenfalls vollziehen). Damit erweisen sie sich aber gerade nicht als modern – oder höchstens im Sinne des heute herrschenden Dogmas modern. Dann aber muss man sagen: Die wirkliche Moderne ist noch gar nicht angebrochen. Denn sie würde erst mit einer zweiten Aufklärung beginnen – mit jener Aufklärung, die die bis heute unverstandene „Philosophie der Freiheit“ geleistet hat.

Professor Schierens „Denkbegriff“

Schieren referiert nun Steiners „Denkbegriff“ und nennt als „zwei zentrale Merkmalsbestimmungen des Denkens“ einerseits die „individuelle Vollzugsförmigkeit“ und andererseits die „universelle Gesetzmäßigkeit“. Mit anderen Worten: Der Mensch selbst muss das Denken hervorbringen – aber im Denken selbst zeigen sich auf sich selbst beruhende Gesetzmäßigkeiten.

Zum ersten Aspekt sagt Schieren:

„Das Denken ist eine durch und durch individuelle, nur vom einzelnen Menschen zu erbringende Tätigkeit. Sie liegt vollständig in seiner Verfügungsgewalt und wird als Tätigkeit nicht von außen (beispielsweise vom Gehirn), sondern als reine Willenshandlung nur durch das Ich selbst vollzogen.“


Dies ist wiederum eine absolute Verkürzung Steiners, eigentlich zunächst eine volle Unwahrheit. Denn dieser Satz kann nur formuliert werden, wenn er zur Erfahrung geworden ist. Vorher ist er unwahr! Der Mensch erlebt seinen realen Willen zunächst absolut nicht. Er erlebt immer nur Wirkungen – auch im Denken. Der Mensch weiß nicht und erlebt nicht, wie er denkt – er denkt einfach. Oder denkt noch etwas anderes in ihm? Was ist mit Gedanken-Assoziationen? Woher kommen sie? Woher kommen aufsteigende Wünsche, Impulse, Begierden, die dann auch Gedankenform annehmen? Zu behaupten, dies sei eine „reine Willenshandlung“ des Ich spricht allem Hohn, was Rudolf Steiner an Realitäten in dieser Frage geschildert hat.

Das heutige Denken ist – grob gesagt – keine Willenshandlung, und selbst wenn das Ich daran beteiligt sein sollte, so ist es vom heutigen Menschen noch gar nicht in seiner Wirklichkeit gefunden. Man muss die Perspektiven, die Steiner gibt, ernst nehmen – und man muss sie tief genug nehmen. Erst wenn sie zu einer scharfen Herausforderung werden, beginnt man, sie zu erfassen – und erst wird man Steiner allmählich gerecht.

Bei Schieren hat man fortwährend das Gefühl, was Steiner wunderbar bildhaft im zweiten Vortrag seines „Pädagogischen Jugendkurses“ schildert. Nachdem er im ersten Vortrag erlebbar gemacht hat, wie in das heutige Leben immer mehr die Phrase eingezogen ist, schildert er im zweiten Vortrag, wie die „Wissenschaft“ begonnen hat, wie eine reale Autorität unter den Menschen zu wandeln, ihre Anschauungen zum allein gültigen Dogma erhebend, und die daneben ganz verschämt eine zweite Gestalt immer mehr sich verbergen musste: die Philosophia, die einst die tiefsten Fragen nach dem Wesen des Menschen und der Erkenntnis zu stellen berufen war…

Schieren zitiert Steiner mit einem seiner ungeheuerlichen Aussagen:

„Unsere Erkenntnistheorie führt zu dem positiven Ergebnis, dass das Denken das Wesen der Welt ist und dass das individuelle menschliche Denken die einzelne Erscheinungsform dieses Wesens ist.“


Eine solche Aussage müsste erst einmal tief verstanden werden! Ihre ontologische und epistemologische Begründung müsste entwickelt und offenbar gemacht werden. Bei Schieren steht sie nur am Ende eines kleinen Absatzes, mit dem er glaubt irgendetwas Substantielles zu Steiners Hinführung zur wahren Natur des Denkens gesagt zu haben!

Die Kapitulation vor der „Wissenschaft“

Stattdessen lässt Schieren nach diesen wie ein geistiges Gebirge dastehenden Worten Steiners sofort im Anschluss gleichsam jene personifizierte „Wissenschaft“ zu Wort kommen:

„Nun kann eingewendet werden, dass diese Auffassung und dieser Denkbegriff gerade das Mystische und Vor-Aufklärerische in der Anthroposophie bezeichnet. Denn von einem Wahrheitsgrund oder dergleichen zu sprechen ist wissenschaftstheoretisch obsolet geworden. […]“


Und tatsächlich verhält sich Schieren im Folgenden ganz so wie die Philosophia, die vor dieser mächtig autoritären „Wissenschaft“ ebenfalls verschämt zurückweisen musste. Zwar hören sich Schierens Worte wie eine Rechtfertigung an, aber sie stehen auf schwankendem Boden, auf mageren, spindeldürren Beinchen. Denn er weist darauf hin, dass Steiner ja nicht jeden einzelnen Gedanken als gültig und wahr bezeichne, sondern auf die „prinzipielle Unhintergehbarkeit“ des Denkens ziele. Es gehe

„[...] bei Steiner eben nicht darum, jede einzelne Denkleistung mit dem Wahrheitsanspruch aufzuladen, sondern um ein gesundes und im Prinzip gerechtfertigtes Denkvertrauen, welches selbstverständlich in einem aufklärerischen Verständnis, die eigenen Vollzüge kritisch überprüft und den eigenen Irrtumsvorbehalt nicht aufgibt. Ohne dieses gesunde Denkvertrauen wären wir kaum in der Lage, unseren Alltag zu bewältigen. Wir würden kein Auto oder Flugzeug besteigen, kein Telefon oder Handy benutzen, wenn wir nicht das Vertrauen hätten, dass das Denken, das zu solchen technischen Produkten geführt hat, zwar immer verbesserungsbedürftig bleibt, aber im Prinzip richtig ist.“


Dies ist nun wirklich die Bankrotterklärung. Würde die lebendige Anthroposophia so sprechen, so hätte sie wie die von Steiner bildlich geschilderte Gestalt der Philosophia sich in die hinterste dunkle Ecke der Besenkammer versteckt, um vor dem Zorn und den allmächtigen bösen Blicken der „Wissenschaft“ einigermaßen geschützt zu sein und sich noch einen Rest an Daseinsrecht zu behaupten...

Man mache sich einmal klar, was hier geschieht! Das Denken selbst muss sich vor der „Wissenschaft“ behaupten und seine eigene Berechtigung beweisen! Und es muss sich auf einen Standpunkt zurückziehen, in dem es der Wissenschaft bequem und ungefährlich erscheint, es darf nicht etwa den Anspruch zu erheben, etwas zu erkennen, was sie, die „Wissenschaft“ nicht gestatten würde.

Rudolf Steiner vertritt das Denken selbst – er hat gezeigt, was das Denken vermag, und den Weg geebnet, wie jeder Mensch sich selbst zu dieser Erfahrung hinentwickeln kann, indem er die eigentliche Natur und Potenz des Denkens wahrmacht. Schieren jedoch stellt sich angesichts des drohenden Nahens der „Wissenschaft“ schützend vor Steiner – und zieht dessen Standpunkt eigentlich auf ein erbärmliches, winziges, belangloses Niveau herunter.

Schieren tut dies, damit die erschreckende Gestalt der „Wissenschaft“ ihr Interesse an diesem niedlichen, unwichtigen, blassen Steiner verliert und auch ihn, Schieren, seinen selbsternannten Vertreter in Ruhe lässt. Später, wenn die „Wissenschaft“ sich höhnisch wieder abwendet, kann Schieren die Vorstellung hegen, sich gegen sie behauptet und sogar noch etwas ausgerichtet, den Spielraum für die „Anthroposophie“ vergrößert zu haben, ja sogar, eine Brücke zu dieser „Wissenschaft“ geschlagen zu haben! Denn je weniger das Ungeheuer sich aufregt, desto mehr muss man ja wohl akzeptiert und – vielleicht – auch verstanden worden sein? Aber was nützt es, wenn ein Drache eine Maus versteht, die in Wahrheit ein geistiger Riese und ein Drachentöter wäre, wenn man ihr Wesen in sich aufnehmen könnte?

Und denken wir doch Schierens bloße Sätze einmal wirklich mit! Was ist denn bei ihm das „gerechtfertigte Denkvertrauen“ und wie versucht er, es plausibel zu machen? Was er da beschreibt an „kritischer Überprüfung“, „Irrtumsvorbehalt“ usw. ist selbst exakt jener verewigte pluralistisch-konsensuale Intellekt, vor dem Steiner immer gewarnt hat und vor dem Schieren Steiner nicht beschützen muss, sondern sich selbst schützen sollte!

Und was sollen die Beispiele von Flugzeug bis Handy? Schieren spricht von einem „gesunden Denkvertrauen“, das nichts anderes mehr ist als ein vertrauender Glaube in das Denken Anderer – welches schon deshalb nicht ganz falsch sein kann, weil die ganzen technischen Dinge ja funktionieren. Schieren verweist also auf einen fremdbestimmten Offenbarungsglauben! Die undurchschaubare Welt der Technik offenbart sich mir täglich als eine funktionerende. Dadurch fühle ich mich veranlasst, in das Denken Anderer „Vertrauen“ zu haben... Diametraler kann man sich Rudolf Steiner nicht entgegenstellen... Dieses technische Denken führt nicht zum Geist, sondern von ihm fort – und selbst dieses Denken ist noch nicht einmal mein eigenes!

Konsequenzen? Der Verlust des eigentlichen spirituellen Elements

Im Folgenden zeigt Schieren dann, „welche Konsequenzen“ dieser harmlos und abstrakt, ja beliebig gewordene „Denkbegriff“ für die „Waldorfpädagogik“ hat. Mit der Renaissance habe „eine neue Bewusstseinsform [...] Einzug gehalten, die dem individuellen und autonomen menschlichen Denken einen viel höheren Stellenwert beimisst.“ Für die Pädagogik bedeute dies, dass z.B. Lehrinhalte nicht mehr allein „top-down“ an die herangetragen werden sollten. Steiner kritisiere laut Schieren, dass trotzdem noch immer „das individuelle Denkvermögen der Schülerinnen und Schüler viel zu wenig angesprochen werde“. Dies solle durch die Waldorfpädagogik geändert werden.

Dann fährt Schieren fort, heute mögen solche Forderungen mit „entdeckendem Lernen“ usw. längst eingelöst erscheinen, und er weist mit Recht darauf hin, dass dies jedoch meist allein dazu diene, nach wie vor feststehende Wissensbestände geschickter und leichter zu vermitteln – und dann in Prüfungen abzurufen. Auch die neuere „Kompetenzorientierung“ ändere daran nichts, die „Eigentätigkeit“ der Schüler sei lediglich Mittel zum Zweck.

In der Waldorfpädagogik dagegen sei die Eigenaktivität des menschlichen Denkens und Verstehens die „Grundorientierung“, an der sich Methodik und Inhalte ausrichten würden. Als Beispiele nennt Schieren einen sinnes- und erfahrungsbasierten, phänomenologischen Unterricht, einen in Natur- und Tierkunde ganzheitlichen Unterricht, einen in den unteren Klassen bildhaften Unterricht und „Fähigkeitenbildung“. Hier wird er besonders abstrakt und nichtssagend:

„Ein wesentlicher Aspekt der Waldorfpädagogik liegt darin, dass der Fähigkeitenbildung ein hoher Wert beigemessen wird. Das hängt damit zusammen, dass Fähigkeiten auf der Handlungsebene anschaulich vergegenwärtigen und erfahrbar machen, wie individueller Vollzug und in sich gültige Gesetzmäßigkeit zusammengehen.“


Wer erkennt darin noch irgendein lebendiges Wesen, einen lebendigen werdenden Menschen oder eine lebendige spirituelle Pädagogik? Schieren hat überhaupt keinen lebendigen Begriff vom werdenden Menschen – und keinen Begriff vom realen Wesen der Waldorfpädagogik. Dies beginnt schon damit, dass er hier Konsequenzen von Steiners „Denkbegriff“ aufzeigen will, obwohl das Denken der „Philosophie der Freiheit“ erst im Erwachsenenalter möglich wird und die Entwicklung des Denkens im engeren Sinne erst ab der Pubertät einsetzt.

Selbstverständlich ist die ganze Waldorfpädagogik eine „Erziehung zur Freiheit“ – aber dies muss tief und grundlegend verstanden werden! Man kann nicht nur mit ein paar Begriffen herumwerfen und glauben, damit etwas gesagt zu haben. Das ist gerade das Problem an dieser Stelle: Noch bevor man Steiners Denkbegriff überhaupt ansatzweise erfasst hat, wird schon mit seinen „Konsequenzen“ jongliert, die dann wiederum nett und wohlklingend zusammengestellt werden, ohne dass man irgendeinen wirklichen Unterschied zu irgendeiner „Reformpädagogik“ finden könnte.

Dass die Bilder und Geschichten der Unterstufe gar nicht in erster Linie auf das Denken wirken, sondern Gefühl und Willen ansprechen sollen und das hiermit erst der ganze Mensch umfasst ist, geht in dem gesamten Abschnitt Schierens eigentlich völlig unter. Doch erst diese Ganzheitlichkeit legt die Grundlage für die spätere (mögliche) Verwirklichung der menschlichen Freiheit.

Real betrachtet schildert Schieren überhaupt nur die Oberstufe der Waldorfpädagogik! Er reißt das Denken als „spirituellen Aspekt“ aus dem wesentlichen Gesamtzusammenhang heraus – und zerreißt so die Dreigliederung als den eigentlichen spirituellen Aspekt der anthroposophischen Menschenerkenntnis und Waldorfpädagogik. Diese Dreigliederung wird auf diese Weise völlig unkenntlich, sie darf nicht erscheinen! Und warum tut Schieren dies? Weil „das Denken“ von ihm und der Wissenschaft noch am ehesten verstanden wird, noch am leichtesten für den Zugriff des Intellekts verfügbar scheint?

„Das Größte, was man vorbereiten kann“, wird unerkennbar

Dann kommt Schieren zum „Ich“ als dem von ihm gemeinten zweitem Element der „spirituellen Dimension der Waldorfpädagogik“. Dieses steht mit der zweiten Wurzelfrage (s.o.), der Frage nach der Freiheit, in Verbindung. Schieren weist darauf hin, dass man sich im gegenwärtigen akademischen Diskurs von einem solchen Ich-Begriff verabschiedet habe und den Menschen mehr oder weniger als ein Konglomerat verschiedenster Sozialisationserfahrungen denke. Die Waldorfpädagogik sei dagegen die einzige Pädagogik, die auf einem dezidierten Ich-Begriff basiere. Dann zitiert er Rudolf Steiner:

„Das Größte, was man vorbereiten kann in dem werdenden Menschen, in dem Kinde, das ist, dass es im rechten Momente durch das Verstehen seiner selbst zu dem Erleben der Freiheit kommt. Wahre Freiheit ist inneres Erleben.“


Da kann man nun fragen: Wie ernst nehmen die einzelnen Schulen, Kollegien, Lehrer diese zentrale Frage eigentlich überhaupt? Für Rudolf Steiner, das zeigen seine Worte, ist diese Frage dasjenige unendlich bedeutsame Ereignis, auf das die gesamte Pädagogik eigentlich zulaufen muss. Es müsste also dem Waldorflehrer täglich in vollem Bewusstsein vor dem inneren Auge stehen, er müsste eine tiefe Ehrfurcht vor diesem Ziele empfinden. Er müsste ganz real erleben, wie in jedem einzelnen heranwachsenden Menschen eine innere, verborgene Wesenheit sich zur Freiheit emporringen will. Dieses Grundgefühl müsste lebendig die ganze Pädagogik durchströmen. Wo ist dieses tiefe spirituelle Erleben eine Realität?

Bei Prof. Jost Schieren ist dieses Erleben keine Realität. Denn er kommt nach diesem Ehrfurcht weckenden Zitat sofort wieder zu einem furchtbaren Relativismus. Nachdem er betont hat, dass die Waldorfpädagogik nicht selber ich-bildend sei, sondern nur vorbereitenden Charakter für etwas habe, das viel später im rechten Moment eintreten könne, sagt er:

„Das einzige, was die Waldorfpädagogik anstrebt, ist, dem Kind und Jugendlichen den pädagogischen Rahmen dafür zu geben, dass die einzelnen Schülerinnen und Schüler in eine gewisse Nähe zu sich selbst treten können. Das bedeutet, dass sie im pädagogischen Prozess auch wirklich als Personen, als Ich-Wesen angesprochen werden.“


Auf diese Trivialität also wird das Größte, was man vorbereiten kann, heruntergebrochen: „eine gewisse Nähe zu sich selbst“, durch eine Ansprache „als Personen“! Als Beispiele dafür nennt Schieren die bleibende Klassengemeinschaft („Ein Ich wird am Ich gebildet“) und das Klassenlehrerprinzip.

Um das vollkommen Unzureichende seiner Darstellungen deutlich zu machen, muss man die Dinge nur umdrehen: Was wäre erreicht, wenn Staatsschulen diese beiden Aspekte übernehmen würden? Es würde sicher eine menschlichere Schule entstehen. Aber so unendlich vieles bleibt von Schieren ungesagt! Es werden wirklich nur Allgemeinheiten abstrakt ausgesprochen – selbst wenn diese über das Staatsschulwesen hinausgehen:

„Die Idee der mindestens zwölfjährigen Klassengemeinschaft in der Waldorfpädagogik schafft demgegenüber einen Rahmen, in dem sich jeder – auch ein ggf. intellektuell schwächerer Schüler – respektiert und geachtet erleben kann. Es werden individuelle Leistungen - nicht nur im intellektuellen Bereich – gleichermaßen gewürdigt und es werden individuelle Entwicklungsgeschwindigkeiten toleriert.“

Reicht ein „Rahmen“ schon aus, damit sich eine wirkliche Gemeinschaft bildet? Muss der „ggf. intellektuell schwächere“ Schüler wirklich durch dreifache Heraushebung diskriminiert werden? Zuerst durch die explizite Nennung, dann durch ein „auch“ und schließlich noch durch ein „gegebenenfalls“? Warum kann man nicht schlicht und einfach nur „Jeder“ sagen – oder betonen: unabhängig von ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit? Warum wird nicht gleich ganz deutlich gesagt, dass es viel mehr und viel wichtigere Seiten des menschlichen Wesens gibt – und dass diese in der Waldorfbewegung ganz besonders gefördert und geweckt werden? Und was hat es damit auf sich, dass individuelle Entwicklungsgeschwindigkeiten nur „toleriert“ werden – statt zu betonen, dass diese ganz selbstverständlich sind, weil alles andere lebensfremd wäre?

Der entscheidende fehlende Schritt

Zum Schluss nennt Schieren noch ein weiteres Merkmal, „das für ein spirituelles Bewusstsein bedeutsam ist“. Er nennt es „Prozessbewusstsein“. Steiner mache darauf aufmerksam, dass das menschliche Ich nur als Vollzug, als Tat erfahren werden kann. Schieren weist nun darauf hin, dass wir heute in einer ausgeprägten Bewertungs- und Bestätigungskultur leben, die Vorstellung des eigenen Wertes kommt also sehr von außen. Die Medienkultur führt zu der Suggestion, dass sogar schon die bloße „Inszenierung im und durch das Medium“ werthaltig sei. Aus Sicht der Waldorfpädagogik sei es dagegen wichtig, im Prozess des Tuns selber zu erleben, ob etwas gut oder schlecht, richtig oder angemessen ist. So sei insbesondere die Eurythmie „darauf angelegt, dass durch eine vertiefte Wahrnehmung und Aufmerksamkeit ein kontinuierliches Prozessbewusstsein“ aufrecht erhalten werde.

Schieren zieht einen Vergleich mit dem Mythos von Orpheus und Eurydike und will zum Ausdruck bringen, dass durch ein nur reflexives, zurückblickendes Bewusstsein das Ich nicht gefunden werden kann:

„Um ihm nahezukommen, müssen wir bereit sein, in die Tiefen unseres Innern hinabzusteigen. Wir können es aber nur in unser Bewusstsein holen, wenn wir im tätigen Vollzug voranschreiten. [...] wir lernen es im Vollzug immer sicherer und selbstbewusster zu ergreifen.“


Das ist wieder eine furchtbare Halbwahrheit. Der erste Satz geht durch die folgenden bereits wieder völlig unter. Denn so richtig es ist, dass im Vollzug von Taten der menschliche Wille wirkt, so schwer oder unmöglich kann in diesen gewöhnlichen Vollzügen auch nur in erster Näherung der Mensch sich wirklich in seinem Ich erfassen. Aber, wie Rudolf Steiner oftmals betonte, stehen viele sogenannte „Praktiker“, die fortwährend „aktiv“ sind, der wirklichen Lebenspraxis und erst recht der wirklichen Selbsterkenntnis viel ferner als Andere. Es kommt wirklich darauf an, in die Tiefen hinabzusteigen – die Tiefen der Welterkenntnis und Selbsterkenntnis.

Wir müssen zum Denken zurückkehren. Schieren zieht diese Verbindung nicht. Er schildert zwei Aspekte – das Denken und das „Ich“ und in Zusammenhang damit das „Prozessbewusstsein“. Aber die Abstraktion, die seinen ganzen Vortrag auszeichnet, würde erst überwunden werden können, wenn sich diese Aspekte in der Realität miteinander verbinden würden. Wenn wirklich der Wille in das Denken einströmt – und wenn das Denken ein realer, als Realität erlebter Vollzug wird. Das ist der zentrale Punkt der „Philosophie der Freiheit“. Hier, in diesem spirituellen Ausnahmezustand findet der Mensch all das, wovon Schieren nur einzeln, abstrakt und unerkennbar spricht: die Freiheit, das Ich, die wirkliche Selbsterkenntnis, das Ur-Erleben tätigen Vollzuges.

Wenn aber die Pädagogen diese wahrhaft spirituelle Erfahrung der realen Freiheit gar nicht kennen, weil sie das reale Erleben des reinen Denkens gar nicht kennen, wie wollen Sie dann Kinder erziehen – zu jener Freiheit, die ihnen selbst gar nicht bekannt ist? Das ist schlicht unmöglich.

Erst der Weg zur wirklichen Erkenntnis des Wesens des Denkens würde den Pädagogen auch zum wirklichen Erziehungskünstler machen – denn im lebendigen Denken ist zugleich das Wesen der Kunst, der Phantasie, der Imagination zu finden. Es gibt einen Menschen, der heute, etwa 100 Jahre nach Rudolf Steiner, ebenfalls immer wieder auf diesen entscheidenden Schritt hinweist: die niederländische Ärztin und Anthroposophin Mieke Mosmuller. In ihren Büchern lebt die Anthroposophie – und auch in ihrem Buch über die Waldorfpädagogik hat sie wiederum auf diesen entscheidenden Punkt hingedeutet.

In der Waldorfbewegung aber wurde es gerade von führenden Vertretern totgeschwiegen – und ich wurde auch wegen meines Eintretens für dieses Buch nach über zehn Jahren Arbeit für die „Freunde der Erziehungskunst“ entlassen. Das ist die Realität. Wenn Spiritualität real werden will, dann wird sie abgewehrt. Nicht nur von den 90 Prozent der „Waldorflehrer“, die sich der Anthroposophie ohnehin nicht tief verbunden fühlen, sondern gerade von den führenden Vertretern dieser Pädagogik – die die Spiritualität zwar im Munde führen, aber sie nicht wirklich erkennen, geschweige denn in vollem Ernst und mit echtem Geistesmut wahrmachen wollen.

„Solange ... kann man auch nicht über Pädagogik reden“

Zum Abschluss sei es in eindringlichen Worten ausgesprochen: Auch für die Waldorfpädagogik, wenn sie spirituell und wahrhaftig sein will, gilt das Wort Christi: Man kann nicht zwei Herren dienen. Wer mit dem Intellekt verbunden bleibt und den Anschluss an eine diesem Intellekt durch und durch verhaftete, absterbende Wissenschaft sucht, der kann nicht den Zukunftsimpulsen und einer ganz auf das Spirituelle des Menschen gerichteten Pädagogik dienen. Man lasse die Toten ihre Toten begraben und ergreife den lebendigen Geist, wenn man dazu fähig ist! Dieser Schritt ist der tief notwendige – und er erfordert alle Energie, die man dafür aufbringen kann, denn sonst wird man den lebendigen Geist nicht ergreifen, und der Intellekt wird einen unbemerkt in seinem eisernen Griff behalten.

Zum Schluss möchte ich Rudolf Steiners Worte wiedergeben. Zunächst  sind dies Worte aus dem zweiten Vortrag seines „Pädagogischen Jugendkurses“. Daran wird sehr, sehr klar werden, was für eine Pädagogik Rudolf Steiner initiieren wollte – und in welchem Gegensatz dazu die heute Praxis steht, weil sie nicht den Mut zur Wahrhaftigkeit hat. Man muss nur gleich die ersten Sätze in ihrem umfassenden, erschütternden Ernst verstehen. Wahrscheinlich wird man dies nur können, wenn man zumindest die ersten beiden Vorträge möglichst vollständig liest:

Die Waldorfschul-Pädagogik ist überhaupt kein pädagogisches System, sondern eine Kunst, um dasjenige, was da ist im Menschen, aufzuwecken. Im Grunde genommen will die Waldorfschul-Pädagogik gar nicht erziehen, sondern aufwecken. Denn heute handelt es sich um das Aufwecken. Erst müssen die Lehrer aufgeweckt werden, dann müssen die Lehrer wieder die Kinder und jungen Menschen aufwecken. Es handelt sich tatsächlich um ein Aufwecken, nachdem die Menschheit abgekoppelt, abgeschnürt worden ist von dem fortlaufenden Strome der Weltentwickelung. Wie eine Hand einschläft, wenn sie abgeschnürt wird, so schlief die Menschheit seelisch-geistig ein. [...]
Es ist ja richtig: im Intellekt sind die Menschen seit dem fünfzehnten Jahrhundert furchtbar weit gekommen. Dieser Intellekt hat etwas schauderhaft Verführerisches, denn im Intellekt halten sich alle Menschen für wach. Aber der Intellekt lehrt uns gar nichts über die Welt. [...] Man steht durch den Intellekt in keiner objektiven Verbindung mehr mit der Welt. [...]
Es ist durchaus nicht in einem oberflächlichen, sondern in einem tieferen Sinne klar, daß zum ersten Male in der weltgeschichtlichen Entwickelung der Menschheit jetzt etwas erlebt werden muß, was ganz und gar aus den Menschen selber heraus kommt. Solange man das nicht weiß, kann man auch nicht über Pädagogik reden. Man muß sich klar sein darüber, daß aus der tiefsten Wurzel heraus gefragt werden muß: Wie kommt man zum ursprünglichsten geistigen Erleben in der Menschenseele? [...] Wie bringt der Mensch sein Tiefstes, das er in sich hat, zum Aufwachen, wie kann der Mensch sich erwecken? [...]
Wenn es sich um ein Aufwecken handelt, geht es wirklich nicht, daß man den Intellektualismus weitertreibt. Diese objektive Wissenschaft, die da herumgeht und alle alten Kleider abgelegt hat, weil sie sich fürchtet, daß man durch irgendein altes Kleid noch etwas Menschliches finden könnte, hat sich umgeben mit der dichtesten Nebelhülle: mit der Hülle der Objektivität; und so merkt man eigentlich gar nichts von dem, was in dieser Objektivität der Wissenschaft herumgeht. Man braucht wieder etwas Menschliches, man muß aufgeweckt werden.
Ja, meine lieben Freunde, wenn aufgeweckt werden soll, dann muß eben das Mysterium von Golgatha noch einmal erlebt werden. Aber bei dem Mysterium von Golgatha ist außer dem irdischen Jesus noch eine Geistwesenheit in die Erde hereingekommen. Das hat man früher noch erfaßt, mit alten Kräften. Vom zwanzigsten Jahrhundert wird gefordert, daß man es mit neuen Kräften erfaßt. [...] Nur dann kommen wir weiter, wenn wir uns diese tragische Gestalt des Weltgeschehens in unserer Zeit klarmachen: daß wir eigentlich gegenüber dem Nichts stehen, an das wir in der Erdenentwickelung notwendigerweise einmal herankommen mußten zur Begründung der menschlichen Freiheit. Und gegenüber dem Nichts brauchen wir das Aufwecken im Geiste. [...]
- Vortrag vom 4.10.1922, GA 217, S. 36-41.


Immer wieder betont Rudolf Steiner den notwendigen tiefen Ernst:

Sie selbst als Lehrer der Waldorfschule werden sich immer mehr in die Durchschlagskraft des Geistes hineinfinden und die Möglichkeit finden, alle Kompromisse beiseite zu lassen. [...] Wenn solche Leute, die im heutigen pädagogischen Leben drinnenstehen, uns loben, da müssen wir denken, da muß etwas bei uns nicht stimmen. [...] Wir müssen auch innerlich, dem Gemüte nach, tatsächlich Anthroposophen sein im tiefsten Sinne des Wortes als Waldorflehrer [...].
- Konferenz vom 24.7.1920, GA 300a, S. 166f.

Ohne das wird unsere Waldorfschule nur eine Phrase bleiben. Wir werden alles Schöne sagen über die Waldorfschule, aber wir werden auf einem durchlöcherten Boden stehen, bis solche Löcher so groß werden, dass wir keinen Boden mehr haben, auf dem wir herumgehen können. Wir müssen die Sache innerlich wahrmachen.
- Vortrag vom 17.6.1921, GA 302, S. 95.

„...es wird selber ein Akt der Befreiung“

Und an unzähligen Stellen seiner vielen Vorträge und Schriften wird deutlich, dass es immer wieder um die entscheidende Frage der Befreiung aus dem Intellekt, um die Spiritualisierung des Denkens, um das Sich-Ergreifen des Menschen im Denken geht – und dass dies nichts mit dem abstrakt bleibenden „Denken“ zu tun hat, von dem Prof. Schieren spricht. Erst viel, viel konkreter wird es real:

Denken heißt für den Menschen von heute, passiv die Erscheinungen verfolgen und über ihre Regelmäßigkeit oder Unregelmäßigkeit sich eben Vorstellungen zu bilden. Man läßt die Gedanken gewissermaßen an den Erscheinungen auftreten, man läßt sie passiv anwesend sein in der menschlichen Seele. Demgegenüber habe ich in meiner „Philosophie der Freiheit“ das aktive Element im menschlichen Denken betont, habe betont, wie der Wille einschlägt in das Gedankenelement, wie man gewahr werden kann die eigene innere Tätigkeit im sogenannten reinen Denken, indem ich zugleich gezeigt habe, daß aus diesem reinen Denken herausfließt alles dasjenige, was in Wirklichkeit moralische Impulse sein können. So daß ich also den Einschlag des Willens in die passive Gedankenwelt, dadurch die Auferweckung der passiven Gedankenwelt zu etwas, was der Mensch innerlich tätig, aktiv verrichtet, aufzuzeigen versucht habe.
Was für eine Art von Lesen war nun vorausgesetzt bei dieser „Philosophie der Freiheit“? Bei dieser „Philosophie der Freiheit“ war eine besondere Art des Lesens vorausgesetzt. Es war vorausgesetzt, daß der Leser, während er das Buch liest, eine Art inneren Erlebnisses durchmacht, welches man wirklich äußerlich vergleichen kann mit dem Aufwachen, das man morgens früh erlebt, wenn man vom Schlaf- in den Wachzustand übergeht. Man sollte [...] sich gewissermaßen sagen: Ja, ich habe bisher gedacht, aber dieses Denken bestand eigentlich darin, daß ich die Gedanken in mir strömen ließ, ich gab mich hin dem Strom der Gedanken. Jetzt beginne ich Stück für Stück meine innere Tätigkeit zu verbinden mit dem Gedanken. [...]
Solange man bloß auf das passive Denken hinblickt, ist einem eben das Denken dasjenige, was sich im Menschenleibe entwickelt, wenn dieser Menschenleib durch seine Sinne die äußeren Dinge ansieht. Läßt man aber in dieses passive Denken hineinfahren die Aktivität des inneren Menschen, dann kann man dasjenige, was man früher gehabt hat, mit etwas anderem vergleichen; dann kann man erst anfangen, über das Wesen dieses passiven Denkens sich aufzuklären. Und dann kommt man dazu, daß dieses passive Denken ja eigentlich im Seelenleben sich so ausnimmt wie ein Leichnam eines Menschen in der physischen Welt. [...] Will man einen Leichnam verstehen, so muß man daneben einen lebendigen Menschen anschauen. Will man das gewöhnliche Denken verstehen, so muß man sich sagen: Es ist tot, es ist ein Seelenleichnam, und das Lebendige davon war in dem vorirdischen Leben; da lebte die Seele ohne den Leib in der Lebendigkeit dieses Denkens, und das, was mir geblieben ist hier im irdischen Leben, das muß ich betrachten wie den Seelenleichnam der lebendigen Seele des vorirdischen Lebens.
Das wird innere Erfahrung. Darüber kann man sich innerlich aufklären, wenn man eben den Willen hineinschießen läßt in das Denken. In der Art muß man dieses Denken schon betrachten, indem man im Sinne der heutigen Menschheitsentwickelung die ethischen, die moralischen Impulse im reinen Denken aufsucht. Dann kommt man dazu, durch das reine Denken selber hinausgehoben zu werden aus seinem Leib in eine Welt, die nicht die irdische ist, und man weiß jetzt: Das, was du in deinem lebendigen Denken hast, das geht eigentlich diese physische Welt zunächst nichts an, aber es ist eine Realität; das geht eine Welt an, die deine Augen hier nicht sehen, in der du warst, bevor du in deinen physischen Leib heruntergestiegen bist. Das geht eine geistige Welt an.
- Vortrag vom 6.2.1923, GA 257, S. 51-54.

Man kann, wenn man diese Freiheit erfassen will, die ja ein unmittelbar mit dem Menschen identisches Erlebnis ist, nicht an Äußeres sich anlehnen. Man muß das Denken selber verbinden mit demjenigen, was man, ich möchte sagen, in dem Prozesse seines Ichs ist. Man muß dasjenige anschauen, was in der Freiheit vor einem steht, aber indem man anschaut, muß man zu gleicher Zeit das Denken entwickeln, wie man es sonst an den Erscheinungen der äußeren Natur entwickelt.
Was Goethe so gefallen hat, als Heinroth sein Denken ein gegenständliches genannt hat, das muß auf einer noch höheren Stufe zutage treten, wenn man die Offenbarung der Freiheit erfassen will, denn Goethe verband sein Denken mit dem Äußerlich-Sinnlichen der pflanzlichen Welt. Da gelang es ihm, das Denken untertauchen zu lassen in das Objekt, mit dem aktiven Denken in dem Objekt selbst drinnen zu leben; aber das Objekt blieb passiv. Will man dieses, wenn ich es da noch so nennen darf, gegenständliche Denken auf die Freiheit anwenden, dann muß man ein Übersinnlich-Geistiges, das im Menschenseelenweben in fortwährender Tätigkeit ist, noch auf eine viel innigere Weise durchdringen mit der Aktivität des Denkens. Man muß nicht ein Äußerliches, man muß dasjenige, was in einem selber sich entwickelt, mit der Aktivität des Denkens durchdringen. Dadurch aber reißt sich das, was nun Inhalt des Denkens wird, los von einem jeglichen Haften an einem Objekt im gewöhnlichen Sinne.
Was hier das Denken vollzieht, es wird selber ein Akt der Befreiung. Es hebt sich das Denken, indem es nicht inhaltlos wird, sondern gerade indem es angefüllt ist mit dem intimsten Fließen des Menschenwesens selbst, herauf zu einem freien Flusse, der das eine aus dem andern hervorströmen läßt. Es erfüllt sich der Seeleninhalt mit etwas, das er selber erzeugt und das in seiner Erzeugung zu gleicher Zeit objektiv ist. Der Geist naturwissenschaftlicher Denkungsweise ist heraufgetragen in das Aufsuchen der dem Menschen wichtigsten Seelenresultate. [...]
Qualitativ ist dasjenige, was da erstrebt worden ist als seelische Beobachtungsresultate, nichts anderes, als was später von mir geltend gemacht worden ist mit Bezug auf die Erforschung der verschiedenen Gebiete der übersinnlichen Welten. Man [...] verfährt mit Bezug auf das Innerste der Seelenverfassung auch für diese übersinnlichen Gebiete nicht anders, als man zu verfahren hat, wenn man das Wesen der menschlichen Freiheit untersucht, so daß man eine wirkliche Erkenntnis dieses Wesens erhält.
Man beschränkt den Gegenstand der Untersuchung zunächst auf den Menschen als freies Wesen innerhalb der physischen Welt, aber dieses freie Wesen wurzelt in einem Übersinnlichen. Man bewegt sich in den Freiheitsuntersuchungen in einem Strom übersinnlicher Forschung. Wer dann in vollem Sinne ernst nimmt, was er da eigentlich tut, was da eigentlich in ihm geschieht, indem er sich in diesem Strom übersinnlicher Forschung bewegt, bei dem bietet sich nach und nach selbst der Weg, dasjenige, was er nun angewendet hat behufs Untersuchung der menschlichen Freiheit, auch für weitere Gebiete anzuwenden.
- Vortrag vom 31.8.1921, GA 78, S. 49-51.

In dem, was ich anthroposophische Geisteswissenschaft nenne, schon in meinem Vorwort zu der ""Philosophie der Freiheit"", tritt Ihnen etwas entgegen, was Sie nicht erfassen können, wenn Sie sich nur jenem passiven Denken hingeben, das man heute besonders liebt, jenem gottverlassenen Denken, dem sich die meisten Menschen hingeben, und das schon im vorigen Leben gottverlassen war; sondern Sie können es nur erfassen, wenn Sie in Freiheit den inneren Impuls entwickeln, Aktivität in das Denken hineinzubringen. Sie kommen eben mit demjenigen, was in der Geisteswissenschaft lebt, nicht mit, wenn nicht jener Funke, jener Blitz hineinschlägt, durch den das Denken voller Aktivität wird. [...] Es läßt sich dabei weder schlafen noch intellektualistisch träumen. Man muß mit, man muß das Denken in Bewegung setzen; in dem Augenblicke, wo man das tut, kommt man mit. Da hört auf dasjenige, was ich modernes Hellsehen nennen möchte, etwas Wunderbares zu sein.
- Vortrag vom 10.10.1922, GA 217, S. 119f.

Und wenn Sie [...] fühlen, was dieses reine Denken ist, so fühlen Sie, daß ein neuer innerer Mensch in Ihnen geboren ist, der aus dem Geiste heraus Willensentfaltung bringen kann. [...]
In dieser Beziehung sollte mein Buch ein Erziehungsmittel sein. Es wollte nicht bloß einen Inhalt vermitteln, sondern es wollte in einer ganz bestimmten Art sprechen, so daß es als Erziehungsmittel hätte wirken können. Daher finden Sie in meiner "Philosophie der Freiheit" eine Auseinandersetzung über Begriffskunst, das heißt eine Schilderung dessen, was im menschlichen Seelenleben vorgeht, wenn man sich mit seinen Begriffen nicht bloß an die äußeren Eindrücke hält, sondern im freien Gedankenstrome leben kann.
Das aber, meine lieben Freunde, ist eine Tätigkeit, die zwar auf Erkenntnisse in einem viel tieferen Sinne abzielt als die äußere Naturerkenntnis, und die zu gleicher Zeit künstlerisch ist, ganz identisch ist mit der künstlerischen Tätigkeit. In dem Augenblick, wo das reine Denken als Wille erlebt wird, ist der Mensch in künstlerischer Verfassung. Und diese künstlerische Verfassung ist es auch, die der heutige Pädagoge braucht, um die Jugend zu leiten vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, oder sogar darüber hinaus. Es ist dies die Stimmung, die man hat, wenn man aus dem Innerlich-Seelischen heraus zu einem zweiten Menschen gekommen ist, der [...] erlebt werden muß, daher er mit Recht "Lebensleib" oder "Ätherleib" genannt werden kann, wenn man die Ausdrücke nur nicht wieder im alten Sprachgebrauche nimmt. [...]
Nicht mit Phrasen, sondern aus einer pädagogischen Kunst heraus, die sich nicht scheut, sich auf wirkliche geisteswissenschaftliche Erkenntnis zu stützen, muß man die Kluft zwischen dem Alter und der Jugend überbrücken. Daher sagte ich vor einigen Tagen: Worauf geht diese Kunst? Sie geht auf ein Erleben des realen Geistigen.
- Vortrag vom 12.10.1922, GA 217, S. 143-147.