12.03.2011

Wer sind die „Erzieher“ unserer Kinder?

Über das perverse Marktsegment „Kinderprint“.


Inhalt
Einleitung
Schlimmer als im Märchen
Der Gruppendruck...
...und seine Variante: „weltfremd“?

Einleitung

Wie aus der Dezember-Ausgabe der „Erziehungskunst“ zu erfahren war (oder, leicht zu googeln, direkt in der „KidsVerbraucherAnalyse 2010“), lesen rund 70% aller Kinder zwischen 6 und 13 Jahren regelmäßig Zeitschriften. Von den Jungen lesen 15% das Micky Maus Magazin, 11% Pokémon Geolino, 10% Spongebob, 9% Simpsons usw. – von den Mädchen lesen 13% Hanna Montana, 11% Wendy, 10% Yeah!, 10% Prinzessin Lillifee usw.

Über 20% der Kinder sind täglich im Internet unterwegs. Schon bei den 6- bis 9-Jährigen besitzen zwei Drittel Nintendo, eine Spielkonsole o.ä., bei den 10- bis 13-Jährigen sind es sogar 83%.

Was dies an Zerstörung und massiver Ablenkung bzw. Pervertierung der ursprünglich unendlich schöpferischen kindlichen Phantasie zur Folge hat, kann man nur ahnen, wenn man sich auf beides einmal tief einlässt – auf diese ursprüngliche Phantasie der Kinder und auf die unglaublich seelenlosen, veräußerlichenden „Spiele“ und Zeitschriften.

Oder auch auf die arrogante, völlig an dem eigentlichen Kindeswesen vorbeigehenden Sprache derjenigen, die an alledem Geld verdienen. In der Studie heißt es: „Mit einer Nettoreichweite von 70,2 Prozent ist Kinderprint als leistungsstarkes Werbemedium in dieser Zielgruppe unverzichtbar.“

Schlimmer als im Märchen

Das Problem ist die Faszination dessen, was eigentlich die Phantasie tötet – und dann der unglaubliche Gruppendruck bzw. Gruppensog. Beides kennen auch wir Erwachsenen sehr gut: Die Faszination, sich berieseln zu lassen, anstatt selbst schöpferisch zu werden (oder zu bleiben). Und den Gruppendruck bzw. das Gefühl, nicht zurückstehen zu wollen. Bei Kindern wirken diese Mechanismen noch unendlich viel stärker. Kinder haben gegenüber jeglicher Faszination noch fast keine innere Gegenwehr – und stehen auch jeder Art von Gruppendruck fast hilflos gegenüber.

Die Phantasie der Kinder ist ein unendliches Heiligtum – aber die Kinder erkennen diesen Reichtum natürlich nicht, sie leben ganz und gar in ihm. Bis dann ... das hässliche Gesicht der Faszination an sie herantritt. Plötzlich kommen von außen fertige Bilder, bunte Bilder, neue Bilder! Bilder, die sich schnell bewegen oder merkwürdig aussehen oder lustige Sprechblasen haben oder, oder, oder. Das Kind vergisst sein eigenes Königreich und wandert hinein in die armselige Welt, verirrt sich, kommt ab vom Weg...

Es ist wie im Märchen, nur dass der Held – das Kind – die Proben nicht mit seinen eigenen Kräften bestehen kann, sondern dass die wirkliche Welt sich von Anfang an gerade darauf richtet, dem Kind genau diese Kräfte zu nehmen. Es soll nicht nur seinen Ursprung vergessen, es soll seine innere Kraft verlieren. Das ist ein wesentlicher Unterschied zum Märchen, wodurch die in den Märchen geschilderten Proben noch wesentlich leichter erscheinen als die Prüfung der heutigen Welt, gegen deren Versuchungen die Kinder im Grunde überhaupt keine Chance haben. Denn wenn sie irgendwann vom Alter her in die Lage kommen, die Dinge zu durchschauen, haben jene unguten Kräfte ihr Werk längst vollbracht. Sie haben das Kind nicht nur über Jahre hinweg in eine Gefangenschaft geführt, sondern ihm auch die Fähigkeiten genommen, sich daraus wirklich zu befreien.

Schon in ganz frühen Jahren wird das Kind zu einem weitgehend bloßen Empfänger von Sinneseindrücken. Der Verlust an innerem Reichtum kann nur kompensiert werden, wenn die äußeren Reize immer stärker und reizender werden. Man soll sich nichts vormachen: Diese Entwicklung ist ein ganz, ganz wesentlicher Grund für die ungeheuer verbreitete innere Müdigkeit und Verzweiflung vieler junger Menschen und ebenso vieler Erwachsener. Konnte ein innerer Seelenreichtum nicht entwickelt werden, ist der Mensch hilflos dem Gefühl letztendlicher Sinnlosigkeit ausgeliefert – und die einzige Rettung ist das fortwährende Schwimmen in angenehmen und interessanten Eindrücken, die von außen kommen.

Micky Maus, Hanna Montana und alles andere, womit unsere Kinder „beglückt“ werden sollen, tötet unendlich viel in der Seele. Es gibt den etwas albernen Spruch, dass jeder Schluck Alkohol zahllose Gehirnzellen tötet. Dies ist wahr, aber die Wirkung von Comics und „Kinderprint“ ist noch viel stärker. Tragisch ist, dass viele Erwachsene dies selbst gar nicht mehr empfinden können. Es ist aber bereits ein riesiger Unterschied, ob man einem Kind eine fertige Puppe mit Plastikgesicht, Blinkeraugen usw. gibt – oder aber eine Stoffpuppe mit höchstens angedeutetem Gesicht. Und ein noch viel größerer Unterschied ist es, ob ein Kind mit Comics etc. aufwächst oder ohne. Das ist in etwa so, als ob Erwachsene täglich BILD oder B.Z. lesen oder nicht. Und Kinder nehmen jede Einzelheit noch viel tiefer auf und noch viel ernster und wahrer als der Erwachsene!

Der Gruppendruck...

Der Gruppendruck besteht nun darin, dass schon ein einziges Kind, was eine Zeitschrift liest oder Nintendo spielt und in der Schule davon erzählt, einen ungeheuren Sog erzeugt. Wenn es dann sogar mehrere Kinder sind, ist der Sog eine alles bestimmende Kraft – und wenn schließlich nur noch einzelne Kinder nicht Micky Maus, Wendy, Hanna Montana oder Harry Potter kennen, lesen und sammeln dürfen, dann kann das zu geradezu tragischer Verzweiflung führen.

Es gibt also drei Alternativen: Diese Verzweiflung auszuhalten. Sich dem Sturm des kommerziellen Stumpfsinns zu ergeben. Oder in der Gemeinschaft darüber zu sprechen und zu überlegen, was man wirklich will und auch wirklich vermag. Oft fühlt man sich ja als Eltern schwach gegenüber den „Wünschen“ der Kinder. Und wenn man dann noch hört: „Die und die haben das aber auch!“, dann erst recht... Wenn man sich aber als Eltern darüber klar wäre, dass diese „Wünsche“ sowohl weitgehend fremdbestimmt sind, als auch Folgen haben, die man nie wirklich wollen würde, dann kann man doch auch die Stärke finden zu sagen: „Nein, es gibt vieles, was viel schöner ist. Lass uns einmal schauen...“

„Verbote“ usw. sind heute nicht beliebt. Man will den Kindern ja nichts vorenthalten. Man will auch nicht so tun, als sei „die ganze Welt böse“, als würde man das Kind „weltfremd“ erziehen usw. – Aber das sind andererseits kurzschlüssige Reaktionen, die einem schnell wieder das gute Gefühl geben sollen, doch alles richtig zu machen. Wirkliche Verantwortung übernimmt man aber nur dann, wenn man es sich mit dieser Frage nicht zu leicht macht.

Geht es um das eigene gute Gewissen oder um das Kind? Natürlich kann man es nur schwer mit ansehen, wenn das Kind leidet, weil man ihm etwas versagen muss. Aber: Hat man dennoch die Stärke, sich dazu durchzuringen, wenn man es wirklich als richtig erkannt hat? Es wird um so leichter, je selbstverständlicher man dies tut – denn auch das gibt dem Kind die Sicherheit, die es sucht: Der Eindruck, Mama und Papa wissen genau, was sie sagen. Das Kind wird es dennoch immer wieder versuchen, aber die Sicherheit, dass das, was die Eltern tun, richtig ist, kann man nicht überschätzen. Sie ist immer größer und wichtiger als alles andere.

...und seine Variante: „weltfremd“?

Man selbst als Erwachsener ist doch auch nicht weltfremd, wenn man nicht mitspekuliert an der Börse, wenn man nicht den Weg der Profitmaximierung geht, wenn man den Schlagzeilen-Stil von BILD ablehnt, wenn man den meisten Politikern misstraut und wenn man nicht täglich Krimis und Pornos schaut? Das alles ist heute Welt, und man ist eben gerade nicht weltfremd, wenn man dabei nicht mitmacht. Man muss sich heute Kräften entgegenstellen, die immer stärker werden – denn sie werden gerade dadurch immer stärker, weil sich die meisten diesen Kräften nicht (mehr) entgegenstellen.

Die Welt ist kompliziert. Es gibt darin immer ungute und gute Kräfte. Das muss man nicht als einen simplen Dualismus von Gut und Böse abtun. Die unguten Kräfte sind vielfältig. Das Gute ist viel schwieriger zu finden. Empfinden kann man den jeweils richtigen Weg nur dadurch, dass man immer wieder das wirklich Menschliche zu empfinden sucht. Diese Suche und dieses Empfinden werden einem dann mit völliger Sicherheit sagen können, ob so etwas wie Micky Maus, Hanna Montana oder Nintendo das Richtige für einen siebenjährigen Jungen oder ein zehnjähriges Mädchen sind.

Die Antworten kann einem heute keiner abnehmen. Aber man kann sich gemeinsam auf die Suche nach Antworten begeben – und wenn man gemeinsam zu Erkenntnissen gekommen ist, kann man sich auch gegenseitig die Kraft geben, sich an diese Erkenntnisse zu halten.

Letztlich ist das im Grunde keine andere Frage als die nach guten und richtigen Regeln (z.B. dass elektronische Geräte, Zigaretten, Rauschmittel und Kaugummis nicht in die Schule gehören) – nur jetzt als gemeinsame Suche innerhalb der Elternschaft. Auch die Kräfte, die unsere Kinder nur als profitable „Zielgruppe“ sehen, arbeiten zusammen oder zumindest gleichsinnig. Man stellt sich nicht gegen „die Welt“, wenn man sich gegen diese Kräfte stellt und die Kinder vor ihren Einflüssen schützen will. Und wenn man es nicht täte, würde man sich gegen seine eigene Erkenntnis stellen. Man selbst und die eigene Erkenntnis ist aber auch Welt – und für die eigenen Kinder ist diese Welt die allerwichtigste. Weltfremd wird man gerade dann, wenn man verlernt, seinen eigenen Empfindungen zu vertrauen! Unsere Kinder aber hoffen und vertrauen auf unseren Mut, dasjenige zu erkennen und auch zu tun, was für sie wirklich gut ist...