14.07.2010

Gemeinschaft – die größte Frage unserer Zeit

veröffentlicht in der "Mittenmang", Schulzeitung der Waldorfschule Berlin-Mitte, Michaeli 2010.


Die Frage der Gemeinschaft ist letztlich gewissermaßen das wesentlichste Thema der Waldorfpädagogik überhaupt.

Inwiefern?

Das reale Ideal der Waldorfpädagogik ist der ganze Mensch – Erziehung als helfende Begleitung zur möglichst umfassenden Inkarnation der geistigen Individualität jedes einzelnen Menschen. Die bekannte Formulierung „Erziehung zur Freiheit“ umschreibt dieses Ideal, denn wahre Freiheit ist nur in dem Maße bzw. da möglich, wo man als ganzer Mensch wesenhaft an-wesend ist.

In dem Maße, in dem der Mensch frei wird, kann er das Geheimnis der Freiheit – oder des Menschseins – entdecken ... und nicht nur entdecken, sondern auch langsam mehr und mehr verwirklichen. Dieses Geheimnis ist: die Liebe.

Wir alle wissen, wie nahezu unmöglich es zunächst ist, das Gebot der Nächstenliebe so wahr zu machen, wie es schon im Alten Testament ausgesprochen ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst“ (3. Mose 19, 18). Um wieviel mehr aber vergessen wir das Wort des Christus? „Ich aber sage euch: Liebet eure  Feinde; tut wohl denen, die euch hassen.“ (Lukas 6,27).

Auch wenn wir dies alles zunächst in der nebelhaften Sphäre der sogenannten „Ideale“ belassen, kann es uns doch immer wieder deutlich werden, dass es sich hier um etwas handelt, was mit der höchsten Verwirklichung des Menschenwesens zu tun hat. Man kann auch dies als ein „unerreichbares Ideal“ betrachten, aber man wird zumindest empfinden können, dass das Wort Mensch – oder Menschlichkeit, Menschentum – seinen wahren, vollen Inhalt erst in dem Moment findet, wo man in ihm jene wahre, volle Liebe ganz und gar mitdenken kann...

Sehnsucht, Enttäuschungen und...?

Jeder Mensch hat tief innerlich eine Sehnsucht nach dieser Liebe, selbst wenn er sich ihr volles Wesen nie bewusst machen sollte. In einer freien Schule besteht eine besondere Erwartung in Bezug auf das menschliche Miteinander: Die Eltern erwarten besonders engagierte, begeisterte Lehrer, die sehr engagierten Lehrer erwarten unterstützende und verständnisvolle Eltern und angenehme Kollegen. Wo es um Ideale geht, erwartet man immer auch ihre Erfüllung, und schnell sind dann auch Enttäuschungen im Spiel.

Die Enttäuschungen können dann auch berechtigt sein. Die entscheidende Frage aber ist: Wie geht es weiter? Welches sind die realen Kräfte, die etwas vom Ideal in die Wirklichkeit hereinholen können – immer wieder und immer mehr...?

Diese Kräfte können sehr verschiedenartig sein. Zu ihnen gehört die Wahrhaftigkeit, auf Versäumnisse hinzuweisen. Dann das Bemühen, an jener „Substanz“ zu arbeiten, die gemeinsam dem Ideal näherbringen kann. Alles, was Menschen tun, vermögen sie durch ihre Seelenfähigkeiten. Was trägt zur Vertiefung bei? Zu einem vertieften Verstehen, Denken, Fühlen und Wollen? Zu einer Vertiefung der individuellen Fähigkeiten und ihrer Entfaltung? Zu Vertrauen, Freude und Gemeinschaft?

Vertrauen entsteht durch Vertrauen. Wo Liebe waltet, kann neue Liebe aufkeimen und wachsen. Und umgekehrt: „Wer Hass sät, wird Hass ernten.“ Dennoch bleibt die Frage: Wie entsteht das Gute? – Es muss getan werden! Es muss Menschen geben, die einen Anfang machen. Dann werden andere folgen. Und gerade die Kinder und Jugendlichen sehnen sich doch nach wirklichen Vorbildern! Nicht nach Menschen, die Pflichten nur säuerlich tun oder sogar ganz liegenlassen („irgendwer wird es schon machen“), sondern nach Menschen, die sich voller Freude in die Aufgaben hineinstellen.

Das Schlimmste für eine Gemeinschaft ist es, wenn sie eigentlich gar nicht besteht. Und das kommt öfter vor als man denkt – unbewusst weiß man aber dennoch immer, wie es um die Gemeinschaft steht. Da denkt man eben doch oft, „irgendwer wird es schon machen“. Damit aber zerfällt die Gemeinschaft bereits. Sie ist nur da, wenn man sich eigentlich jedes Mal wieder fragt: „Könnte ich das tun? Könnte ich hier helfen?“ Wenn alle dies immer wieder tun – in welchem Maße auch immer –, dann blüht die Gemeinschaft wahrhaft auf. Dann freut man sich, einander zu sehen, weil man unmittelbar weiß und erlebt: Jeder tut, was er kann, und er tut es mit Freude.

Die menschliche Schwäche – und das Heilmittel

Dagegen kann es einem das Herz zerreißen, wenn man nach und nach mitbekommt, wo überall eine Gemeinschaft krank ist – wirklich krank. Denn es sind schwere Krankheitssymptome einer Gemeinschaft, wenn es Menschen gibt, die einander nicht leiden können, die nicht miteinander zusammenarbeiten wollen. „Nein, mit dem mache ich keine Aufnahmen.“, „Die schon wieder!“ und so weiter. Eine Waldorfschule im eigentlichen Sinne ist überhaupt nicht denkbar ohne ein wirklich harmonisch zusammenarbeitendes Kollegium.

Natürlich steht man bei all diesen Aspekten vor den menschlichen Schwächen. Und in jedem Menschen gibt es irgendwo verborgen die Sehnsucht, diese Schwächen zu überwinden – um immer mehr aus eigener Kraft und eigenem Willen das wahrhaft Gute tun zu können. Nur muss man sich dieser Sehnsucht bewusst werden wollen – und darf sich nicht mit den alltäglichen Schwächen, Verletzungen, Vorwürfen und Gegenvorwürfen abfinden. Sonst nämlich bliebe diese Sehnsucht für immer begraben, unerkannt, unerfüllt...

Christian Morgenstern hat einmal folgende Worte geschrieben:

„Ich meine, es müßte einmal ein sehr großer Schmerz über die Menschen kommen, wenn sie erkennen, daß sie sich nicht geliebt haben, wie sie sich hätten lieben können.“

„Wer den Einzelnen als einen Wanderer betrachtet, der immer wiederkehrt, wird aufhören, ihm entgegenzuarbeiten. Er sieht sich Schulter an Schulter mit ihm gehn und erkennt die Sinnlosigkeit jeglicher Feindschaft zwischen ihm und sich. Mag der Andre noch sein Feind sein wollen, er selber empfindet ihn nicht mehr als Feind; für ihn fällt er, wenn er sich und ihn sub specie aeterni anschaut, mit ihm selber beinahe zusammen. Mag der Andre ihn noch hassen, ja verachten, er selber wird nichts begehren, als ihm zu helfen, zu nützen, zu dienen. Er weiß, wie alles zusammenhängt. Nicht fabelt er unbestimmt von Zusammenhang, sondern der Zusammenhang liegt klar vor ihm.“


Das sind Gedanken, in denen eine spirituelle Weltanschauung konkret wird. Für einen Menschen wie Christian Morgenstern sind es nicht mehr nur Gedanken – es wird zu einem ganzmenschlichen Empfinden, zu einer echten Erkenntnis, zu einer wirk-lichen Anschauung. Das geistige Wesen des Menschen beginnt, sein eigenes Wesen – und das Wesen des Anderen, des Mitmenschen – zu erfassen.

In einer Waldorfschule, in der man danach strebt, den werdenden Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und zur Freiheit zu erziehen, muss dies zuallererst durch die erwachsenen Mitglieder der Schulgemeinschaft vor-gelebt und wahr-gemacht werden. Das ist keine moralische Forderung, sondern eine Tatsache. Man wird das eine nur dann wahrhaft erreichen können, wenn das andere mehr und mehr gelingt, denn es ist die Voraussetzung...

Wir alle – jeder einzelne Mensch – sehnen uns nach gegenseitigem Verständnis, nach Harmonie, nach Unterstützung, Anerkennung, Freude... Von alledem – wenn es fehlt – trennt uns nur zweierlei: Die Erkenntnis, wie sehr es für all dies auf uns selbst ankommt. Und die Kraft, der Wille, diese Erkenntnis (wenn sie denn immer wieder gewonnen ist) auch in die Tat umzusetzen.

Aber muss man denn nicht bezweifeln, dass dadurch „irgendetwas besser wird“, weil doch „die Anderen sich dadurch nicht wirklich ändern“? Nein, das muss man nicht bezweifeln – der Zweifel ist vielmehr ein Hinweis darauf, dass die eigene Kraft, der eigene Wille, noch nicht stark genug ist. Diese Kraft kann so stark werden, dass sie sich wirklich daran freut, das Möglichste zu tun – und in dieser Freude vergeht der abwartende, berechnende Blick, was denn „die Anderen“ wohl tun... Und man darf wirklich sicher sein: Nichts ruft die positiven Kräfte auch des Anderen so stark auf wie ein solches un-bedingtes eigenes Tun.

Was so ungeheuer lähmt, ist ja der Eindruck, dass „viele Andere“ sich nur „zu neunzig Prozent“ einbringen, „oder vielleicht noch weniger“... Das mag sein oder auch nicht sein. Aber bin ich denn besser, wenn ich mich nun auch zurücklehne und sage: „Bis hierher und nicht weiter“? Diese Resignation ist ein Teufelskreislauf, und sie hat einen Domino-Effekt – sie ist ansteckender als jede Krankheit. Heilung ist nur möglich, wenn man seine Abhängigkeit von dem, „was Andere tun“, durchbricht und sich entschlossen nur dem zuwendet, was einem die eigene Sehnsucht, das eigene Gewissen, das eigene Ideal sagen.

Wie sollte es je möglich sein, das Ideale immer wieder in die Welt hineinzutragen, wenn man in dem verharrt, was gewordene Welt ist? Wenn man in den seelischen Schwächen verbleibt und darin resigniert? „Eine bessere Welt ist möglich“ – nur dann, wenn man jene Kräfte in ihr wirksam werden lässt, die „nicht von dieser Welt“ sind, nämlich Geisteskräfte, die das unverwandelte Seelische durchdringen, überwinden und verwandeln. Man muss selbst ein anderer Mensch werden – dann wird auch die Welt eine andere. Echte Gemeinschaft kann heute nur noch entstehen, wenn man immer bewusster jenen Menschen in sich ergreift, der erst geboren werden will...

Bemühen wir uns also jeden Tag wieder, den anderen Menschen wirklich zu sehen, immer mehr zu sehen. Bemühen wir uns, ihn zu verstehen; unsere Antipathien zu überwinden; Verletzungen zu vergessen; bemühen wir uns um Wahrhaftigkeit, Freundlichkeit, Freude bei dem, was wir tun; Achtsamkeit im Großen wie im Kleinen – oder um vieles andere, es gibt unendlich vieles, was eine Gemeinschaft wachsen und leben lassen kann.

Bemühen wir uns darum, die in uns selbst verborgene Sehnsucht nach wahrer Menschwerdung wirklich ernst zu nehmen und immer mehr zu erkennen, was darin alles umfasst ist...