27.03.2010

Von der Aufgabe der Moral in der Erziehung

Seit einiger Zeit wird eine erschreckende Tendenz deutlich: Es gibt immer mehr Jugendliche, die ohne jede Empathie für ihre Opfer schwere Gewaltverbrechen verüben (siehe z.B. "Aus heiterem Himmel", ZEIT online, 10.2.2010). Dass es sich hier um eine zunehmende Tendenz handelt – um eine immer verbreiteter abnehmende Einfühlungsfähigkeit und -bereitschaft –, ist das wirklich Erschreckende daran.

Das ganze Phänomen wirft eine eminent pädagogische Frage auf – die Frage ist nur: Wird sie auch als solche gesehen? Nein, wird sie nicht. Wie der Artikel berichtet, erfolgt nur bei den Spitzenfällen des Eisberges ein kurzer landesweiter Aufschrei – und von einem kurzen Aufschrei bis zu irgendwelchen Maßnahmen ist es ein weiter Weg ... ein zu weiter. Im Grunde zeigt sich das mangelnde Einfühlungsvermögen hier als allgemeines, gesamtgesellschaftliches Phänomen: Für kurze Augenblicke ist "man" betroffen, das reicht für die Beruhigung des eigenen Gewissens, danach geht der Alltag weiter.

In Wirklichkeit weiß natürlich jeder, dass die zunehmende Jugendgewalt eine eminent moralisch-pädagogische Frage ist. Aber niemand will in dieser Frage die Verantwortung übernehmen und Veränderungen einleiten. Das heutige Bildungswesen weigert sich immer noch weitgehend, überhaupt irgendeine engere Verbindung zwischen Moral und Pädagogik zu ziehen.

Ist nicht gerade eine gesunde Distanz des Lehrers das Zeichen echter Berufsprofessionalität? Hat der Lehrer die Kinder denn nicht vor allem fachlich auf das Leben vorzubereiten, nun ja, nebenbei auch einige soziale Kompetenzen zu vermitteln, aber das Übrige der Familie, dem Leben und dem individuellen Entwicklungsweg des Schülers zu überlassen? Zeigen nicht gerade die skandalösen Missbrauchsfälle in einigen privaten Internatsschulen, dass professionelle Distanz des Pädagogen absolut notwendig ist?

Nun, alle diese zweifelnden Fragen enthalten auf ihre Weise eine halbe Wahrheit – aber Halbwahrheiten haben es an sich, dass sie den Blick auf die ganze Wahrheit meist eher verdecken als freilegen. Die obigen Fragen sind selbst Ausdruck von Distanz, von Zweifel, und gehören als solche noch zum Teil des Problems.

Aber dieses Problem ist viel größer als der räumlich enge Bereich der Schule. Das völlig fehlende Einfühlungsvermögen der jugendlichen Intensivstraftäter ist nur die Spitze eines Eisberges, der die ganze Gesellschaft betrifft. Diese schrecklichen Straftaten sind ein Spiegel unserer Gesellschaft, die als Ganze buchstäblich mehr und mehr zu einem Eisberg wird. Was sollen Kinder und Jugendliche in einer Gesellschaft, in der Arbeitslosigkeit, Hartz-IV-Armut, Ein-Euro-Jobs, Niedriglohnsektor und vieles andere zunehmen, anderes aufnehmen als die Botschaft: Kümmere dich um dich selbst, andere tun es nicht... Nach wie vor basiert unser Wirtschaftssystem auf dem Prinzip des Egoismus – und heute wieder mehr denn je!

Gewissensberuhigung oder ... Erkenntnis

Man kann sich als Pädagoge nun natürlich auf allen möglichen Gedanken ausruhen: Natürlich kann man nicht alle Versäumnisse des Elternhauses ausgleichen; natürlich kann man die Tendenzen einer gesamten Gesellschaft nicht aufheben; natürlich kommt es auf die Vermittlung von Wissen und fachlichen Fähigkeiten an; natürlich sitzt einem der Lehrplan im Nacken, werfen die Abschlüsse ihren Schatten voraus; und und und...

Aber all das sind Entschuldigungen für das eigene Gewissen. Um das zu bemerken, braucht man seine Gedanken nur für Momente zur Ruhe zu bringen und sich die ehrliche, echte Frage zu stellen: Was ist Pädagogik denn eigentlich? Oder noch unmittelbarer auf mich bezogen: Warum bin ich denn eigentlich Lehrer geworden? Oder auch: Was sehe ich als Vater oder Mutter als meine eigentlichste Aufgabe an? Was ist mein höchstes Ideal, insofern ich mich als Erziehenden empfinde?

Und dann fallen alle Nebenschauplätze, auf denen man sein Gewissen ausruhen wollte, von denen man sich vielleicht auch selbst getrieben fühlte und gleich auch wieder fühlen wird, wie ein Nichts in sich zusammen. Dann wird ganz deutlich, dass Pädagogik im Kern mit nichts anderem zu tun hat als mit Moral – mit nichts anderem. Pädagogik ist ihrem Wesen nach reine Moral. Dann kommt lange Zeit nichts – und irgendwann kommt dann auch die Aufgabe der Fähigkeitenbildung, der Wissensvermittlung und so weiter.

Man sollte angesichts dieser Reihenfolge der Prioritäten nicht im nachhinein wieder erschrecken. Denn man sollte diese Dinge nicht statisch trennen – sie gehören doch engstens zusammen! Kinder können gar nicht anders, als Fähigkeiten zu entwickeln und Wissen zu erwerben, wenn man sie nur lässt! Am wenigsten selbstverständlich ist die Entwicklung moralischer und sozialer Fähigkeiten. Auf der anderen Seite hat gerade die moderne Lernforschung gezeigt, wie sehr alles Lernen darauf ankommt, dass das Kind echte Beziehungen erlebt, eine reiche, tiefe Gefühlswelt mit den Lerninhalten verbindet und so weiter. Insofern gilt auch in dieser Hinsicht, dass alles Lernen moralisch ist oder sein müsste, wenn es nicht nur toter Gedächtnisstoff werden soll...

Der Lehrer braucht selbst eine innige Beziehung zu dem Weltgebiet, das er mit seinen Kindern behandeln will – schon hier beginnt die moralische Frage. Das gerade ist das Kennzeichen der heutigen Welt, dass man all ihren Inhalten äußerlich, abstrakt, als unbeteiligter Zuschauer gegenübersteht. Wer ist denn wirklich berührt von einem Sonnenuntergang? Wer ist wirklich berührt von der drohenden Klimakatastrophe? Von einem Erdbeben im fernen Chile? Oder auch vom eigenen Kind? Oder vom Nachbarskind? Wer wird nicht aufgefressen vom Alltag – von jenem Alltag, der zuallererst das Fühlen ablähmt?

Wie aber sollen sich Kinder und Jugendliche mit der Welt verbinden, wenn die Erwachsenen ihnen gerade vorleben, sich von der Welt innerlich zu verabschieden? Die Erwachsenen leben den Kindern die Getrenntheit doch täglich und stündlich vor! Und selbst die engagierten Eltern und Lehrer – immer dann, wenn Engagement zu Hektik und Gehetztzeit wird. Man ist dann von sich selbst getrennt, die Fülle der Aufgaben oder Vorhaben sitzt einem im Nacken... Was werden die Kinder und Jugendlichen wohl wahrnehmen? Die Liebe zu dem, was man tut? Oder die gehetzte Gereiztheit, die zumindest unterschwellig immer da ist, wenn man nicht ganz mit sich im Einklang ist?

Die immer anwesende Verantwortung

Der Erzieher kann seiner moralischen Verantwortung gar nicht entfliehen sie ist immer eine Realität. Und das beginnt schon im Kleinsten. Ich habe gerade etwas Wichtiges zu tun, mir läuft die Zeit davon, und da kommt mein kleiner Sohn und will mir etwas sagen und etwas zeigen... Kann ich ihm in dieser Situation für zehn Sekunden, die sich zur Ewigkeit weiten, mit meiner ganzen Seele zuhören? Oder höre ich so nebenbei zu und meine Gedanken kreisen nur um die Tatsache, dass ich in fünf Minuten fertig sein muss? Allgemein formuliert heißt die Frage: Kann ich in meiner Seele empfinden, was in jedem Moment das Wichtigste ist? Wonach die Kinder und Jugendlichen sich wirklich sehnen, was sie wirklich brauchen? Kann ich mich darauf einlassen – und ihnen dies dann auch geben? Oder verweigere ich mich schon der Frage danach...?

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Erziehung vor allem und immer Beziehung ist und sein muss. Wahrhaft moralisch ist diese Beziehung dann, wenn sie Liebe und Freiheit vereinigt. Der Erzieher darf das Kind innerlich nie im Stich lassen – aber er muss es immer frei lassen... Die Liebe des Erziehers zeigt sich gerade darin, dass er bewusst oder unbewusst in all seinen Handlungen stets die größtmögliche Freiheit des werdenden Menschen im Auge hat – eine Freiheit, die sich dann, wenn der junge Mensch erwachsen geworden ist, als großartige Frucht des ganzen Weges in vollem Umfang offenbaren wird.

Kinder brauchen das Erlebnis, dass sie gesehen und geliebt werden. Sie brauchen das Erlebnis, dass der Erzieher die Welt liebt und sich für vieles tief interessiert. Auf diese Weise erleben sie, dass Mensch und Welt wirklich verbunden sind. Das Erlebnis der Getrenntheit wird wieder überbrückt – und führt nicht in eine tiefe Sinn- und Empfindungskrise. Wenn die Kinder solche Erzieher um sich haben, dann werden sie selbst Menschen, die lebendig Liebe und Moral in sich tragen, die dieses lebendige Geheimnis in sich immer weiter vertiefen können, statt Gleichgültigkeit und Hass zu entwickeln.

Wir wissen aus unzähligen Beispielen, dass oft schon ein Mensch in der Biographie eines anderen Menschen reicht, um ihn vor einer Katastrophe zu bewahren. Da war ein Mensch, dessen mild leuchtendes Licht unauslöschlich das Dunkel der eigenen Seele erhellte, selbst da, wo sie tief verzweifelt war... Aus all diesen Beispielen kann man unmittelbar empfinden, wie sehr es auf das Moralische ankommt. Natürlich war dieser eine Mensch dann wirklich nur die Rettung – worauf es ankäme, wäre, dass die Seelen gerade der jungen Menschen gar nicht erst Schiffbruch erleiden – sondern mit der vollen Kraft des in ihnen liegenden seelischen Potentials über die Weltmeere segeln dürften, die sich vor ihnen auftun werden...

Dies aber gibt uns Erwachsenen die große Aufgabe der Selbsterziehung. Es reicht nicht, dass wir uns innerlich für dies oder jenes in der Welt interessieren. Unser Interesse, unsere Liebe für die Welt und den anderen Menschen muss nach außen strahlen, sie selbst muss in jedem Moment – oder so oft wie möglich – sichtbar werden. Sie muss das eigentliche Licht sein, das wir scheinen lassen können, damit es die sanft wärmende Sonne sein kann, unter der unsere Kinder heranwachsen dürfen. Je mehr solches Seelenlicht wahrhaftig in der Umgebung der Kinder und Jugendlichen scheint, desto weniger können sie in den dunklen Abgrund des Hasses, der Sinnlosigkeit und Gewalt hineingerissen werden. Moral ist etwas, was als warmes, freilassendes Liebeslicht durch den erwachsenen Menschen in die Welt hinausleuchten muss...