Waldorfschule heute

Vergessen, worum es geht?

Freiheit kann anstrengend sein. Es führt jedoch kein Weg daran vorbei, wenn wir in der Oberstufe etwas bewegen wollen, freie Lehrer zu finden und auszubilden. Denn was man gerade in der Oberstufe scheinbar gerne zwischen den Sachzwängen vergisst, ist der Anlass, warum wir Waldorfschule überhaupt machen, warum wir Schüler sie besuchen, warum Pädagogen darum ringen und Eltern sie unterstützen. [...]
Denn unfreie Lehrer werden nicht in Freiheit entlassen können. Wer sich zu einem Abschlussgehilfen degradieren lässt, eröffnet nicht, wie oft behauptet, den Schülern alle Chancen. Alle Chancen eröffnet er ihnen durch Vorleben von Freiheit (das schließt ja einen guten Abschluss nicht aus), statt ein bisschen Moralpredigt und guten Noten. [...]
Wenn ich etwas nicht mehr hören kann, dann ist es das ewige Geschwätz darüber, was die Jugend alles falsch macht. Vielleicht fragt man sich mal, warum viele von uns lieber ihrem Nachbarn einen Kuchen backen, statt auf eine Demo zu gehen, warum wir im Kleinen Gutmenschen und im Großen zu Desinteressierten werden. Wer will mehr als einen ordentlichen Beruf machen, wenn er seine letzten Schuljahre zwischen Erschöpften verbringt? Auch wenn man es manchmal nicht glauben mag, Oberstufenlehrer sind genauso Vorbild wie Klassenlehrer!
Valentin Hacken, Waldorfschüler, 12. Klasse, Mitglied im Bundesschülerrat | aus: Erziehungskunst, Januar 2010.

24.01.2010

Der Waldorflehrer – das unbekannte Wesen

Im Sinne des vorigen Aufsatzes geht es hier um die Frage: Was wäre ein wahrhafter Waldorflehrer? Aber auch: Wo liegen die – tausendfach "individuellen" – Hindernisse, den innersten Kern dieses Berufes wahr-zumachen?


Wenn Waldorfpädagogik die Erziehung zur Freiheit in ihrem tiefsten Sinne, zu wahrem Menschentum ist, dann müsste der Waldorflehrer selbst ein wahrer Mensch sein.
Je mehr man durch die Anthroposophie die ungeheure Tiefe dieses Geheimnisses erahnt, desto mehr ist klar: Es kann nur um ein Streben gehen. Dieses aber sollte so ernsthaft und kräftig wie nur möglich sein...

Nun ist aber völlig offensichtlich, dass es in der Waldorfbewegung an dem ernsten Streben nach einer wirklichen Verbindung mit der spirituellen Quelle der Waldorfpädagogik überall mehr oder weniger mangelt.

Von der Beziehung zur geistigen Welt

Angesichts des auch offiziell anerkannten "Lehrermangels" kursiert das Wort: "Es gibt Waldorflehrer, und es gibt Lehrer an Waldorfschulen." – Wenn man jedoch nicht nur die Frage der absolvierten Ausbildung oder den durchschnittlichen Ernst als Maßstab nimmt, sondern mit vollem Ernst auf die Aufgabe dieser Pädagogik schaut, müsste man sich ehrlich sagen: Wirklich gerecht werden kann ich dieser Aufgabe eigentlich nicht. Nur mein wahrhaftigstes Streben kann mir beistehen... Wer aber entfaltet dieses wahrhaftigste Streben ganz und gar? Wo wird heute überhaupt noch ernsthaftes spirituelles Streben entfaltet? Und so müsste es eigentlich heißen: "Es gibt Lehrer an Schulen-die-Waldorfschulen-heißen, und es gibt einige ernsthaft strebende Waldorflehrer".

In einer wahren Waldorfschule dürfte der spirituelle Quell eigentlich in keiner Konferenz aus dem Bewusstsein geraten, sondern immer das Zentrum bilden. Wenn dies nicht der Fall ist, zeigen sich die Folgen auch im "pädagogischen Alltag" – und umgekehrt.

Welcher Lehrer kennt die bedeutungsvolle spirituelle Schilderung, die Rudolf Steiner vor seinem Menschenkunde-Kurs den ersten Waldorflehrern gegeben hat? Hier spricht Steiner an, wie sich höhere Wesenheiten mit dem Wirken der Menschen verbinden können, wenn die Waldorflehrer ernsthaft streben – und wenn sie in diesem Streben wahrhaft vereint sind. Menschen, die sich in ihrem gemeinsamen Wirken mit Engeln, Erzengeln und dem wahren Zeitgeist verbinden können – das sind wahre Waldorflehrer!

Gibt man dieses Ideal auf, weil es an der eigenen Schule "unmöglich" ist? Oder hat man es nie gehabt?

Nimmt man sich nur eine einzige von Rudolf Steiner gegebene Meditation oder einen Spruch aus dem "Seelenkalender", so könnte sich daran schon eine halbe Welt auftun. In so vielen dieser Sprüche kann man einen wunderbaren Aufruf erleben – wie unmittelbar zum höheren Wesen des Menschen gesprochen, oder aus ihm heraus. Kann man sich davon berühren lassen? Kann man diesen Aufruf ernstnehmen, annehmen, und mit immer stärkerer Kraft und immer größerem Vertrauen danach streben, sich dieser Welt, die einen da ruft und an-rührt, zu nähern, in ihre Wirklichkeit hineinzuwachsen?

Kann man spüren, dass dies wichtiger ist als alles andere – dass alles andere Tun und Lassen immer mehr Essenz und Wesen gewinnt, wenn es aus und in der Verbindung mit dieser Wirklichkeit geschieht?

"Aus dieser tieferen Menschenerkenntnis heraus, aus demjenigen was anthroposophische Geisteswissenschaft über den Menschen selbst erkennen lernt ... soll nun nicht dasjenige werden für die Waldorfschule, was man nennen könnte eine angelernte Methodik, sondern es soll dasjenige werden, was aus Menschenerkenntnis in dem Lehrer den Willen erzeugt, dem werdenden Kinde gegenüber alles das zu tun, was gewissermaßen die menschliche Organisation selber von dem Lehrer, von dem Erzieher, von dem Unterrichtenden fordert. ... [Und] diese ungeheure, tiefe Ehrfurcht, die man hat vor dem werdenden Menschen ... für dasjenige, was das Göttliche in die Welt heruntergesendet hat, all das ist das Wesentlichste, mit dem der Waldorflehrer die Pforte seiner Klasse jeden Morgen neu betritt. Und er lernt von den täglichen Offenbarungen dieses geheimnisvollen geist-seelischen Wesens dasjenige, was er tun soll."
Rudolf Steiner, 11.11.1921, GA 304, S. 95f.

Vielfältige Hindernisse und eine Ursache

Wenn man keinen wirklichen Zugang zur Anthroposophie, zu einer spirituellen Wissenschaft vom Wesen des Menschen, finden kann – dann kann man auch nicht in vollem Sinne Waldorflehrer sein. Dieser volle Sinn schließt ein Bewusstsein von der Aufgabe ein.

Die Hindernisse im einzelnen Menschen sind so vielfältig wie die Hindernisse für einen spirituellen Entwicklungsweg überhaupt. Das kann mangelndes Interesse, mangelndes Selbstvertrauen, mangelndes Verständnis oder fehlende Willenskraft sein. Letztlich ist es aber immer ein Mangel an Willenskraft. Entweder man will es überhaupt nicht – oder man will es zwar schon, aber ... hat noch nicht den Willen! Wenn man es aber wirklich will, kann man auch alle Hindernisse überwinden. Jeder Einwand ist letztlich eine Form von Faulheit, Bequemlichkeit oder Egoismus.

Und was, wenn einzelne Kollegen sich definitiv nicht mit der Anthroposophie verbinden wollen? Nun, das ist natürlich ein großes Problem, denn da ist der Kreis des Kollegiums unterbrochen. Dennoch: Auch das wäre noch kein unüberwindliches Problem – aber die unüberwindliche Schwierigkeit ist, dass in den meisten Kollegien überhaupt nur noch eine Minderheit oder einzelne diesen Ernst in sich tragen, um den es hier geht!

Die Waldorfbewegung ist schon lange in die Lage gekommen, dass sie sich gleichsam am eigenen Schopf aus einem Sumpf herausziehen müsste. Denn der Unwille zu spiritueller Arbeit lähmt. Man kann nicht gegen den Willen von Menschen spirituell arbeiten, die dies nicht wollen. Solange es einzelne betrifft, könnte man es auffangen – wenn aber nur noch eine Minderheit überhaupt in diesem Sinne arbeiten will, ist die Bewegung verloren... Man kann sich dann zu dritt oder zu viert in einer Schule zusammenfinden und arbeiten, aber eine Waldorfschule ist dies dann nicht mehr.

Es gibt viele Lehrer, die guten Unterricht machen, die auch die Lehrplanempfehlungen von Rudolf Steiner kennen und umsetzen, die sich für ihre Schüler engagieren und so weiter. Sind das Waldorflehrer? Nein – zunächst einmal sind es gute Pädagogen, so wie es sie an vielen anderen Schulen auch gibt, nicht mehr und nicht weniger. Würde man doch nur begreifen, was ein wirkliches Hineintauchen und Sich-Erheben in die spirituelle Menschenkunde bedeuten würde! Bedeuten würde an Erkenntnis, an pädagogischen Fähigkeiten, an Selbstverwandlung, an Menschwerdung...

Betrachtet man all die Hindernisse im Verständnis, im Gefühls- und Willensleben, so muss man sagen: "Waldorflehrer" sind zunächst einmal Menschen wie alle anderen. Sie wissen zwar viel mehr von "Waldorfpädagogik" (Inhalt, Methodik, Didaktik, Menschenkunde usw.) – aber die Schwierigkeiten für einen wirklichen Zugang, für ein umfassendes und immer tieferes Sich-Verbinden mit dem spirituellen Wesen der Waldorfpädagogik bzw. des Menschen sind doch im Prinzip die gleichen.

Daher ist die wichtigste Aufgabe für den Waldorflehrer, die Hindernisse in sich zu erkennen und den Willen zu entfalten, sie zu überwinden. Der Waldorflehrer soll ja Hindernisse für die freie Entwicklung der Kinder und Jugendlichen überwinden helfen. Um dieser Aufgabe aber gerecht werden zu können, muss er vor allem immer mehr seine eigenen Hindernisse für ein volles Ergreifen dieser Aufgabe und der dazu notwendigen Fähigkeiten überwinden wollen!

Kennt der einzelne Waldorflehrer seine Hindernisse? Ist er sich voll im Klaren über sie – und über das Ausmaß, in dem er sie überwinden und nicht überwinden will? Kennt er aber auch seine allertiefste Sehnsucht, seine verborgensten Möglichkeiten und Fähigkeiten? Kennt er sich selbst?

Der Waldorflehrer – das unbekannte Wesen...