21.01.2010

„Überzeuge mich – und ich glaube Dir“?

Weitere Gedanken zu der scheinbaren "Stilfrage" von "Eine Klasse voller Engel".


Mieke Mosmullers Buch „Eine Klasse voller Engel“ über das Wesen der Waldorfpädagogik scheint eine ungeheure „Stil-Frage“ aufzuwerfen. Immer wieder geht es um die Frage, ob an dem „Was“ nicht vieles richtig sei, aber das „Wie“ ungeheuer problematisch. Ich habe zu dieser Frage schon vieles geschrieben (siehe zuletzt „Der Ton macht die Musik“?). Hier will ich auf den Standpunkt derer eingehen, die das Buch außerordentlich begrüßen und ihm eine weite Verbreitung wünschen.

Ein häufiger Gedanke ist dann: Man muss doch von den konkreten Menschen ausgehen. Wenn diese das Buch und den Stil ablehnen, zeigt das doch, dass der Stil anders hätte sein müssen – vermittelnd, begeisternd, nicht belehrend. Diese Ansicht kann bis zu dem Urteil gehen: „Das Motiv und die Fragen der Autorin sind außerordentlich gut und wichtig, aber sie steht sich und der Sache mit ihrem Stil selbst im Wege...“

Hinter diesen Gedanken liegt wiederum eine ganze Welt von Gedanken, Urteilen, Ansichten usw., die man nur nach und nach sichtbar machen und zu Bewusstsein bringen kann.

Dienst am Mitmenschen?

Natürlich kann man alle diese Gedanken unmittelbar nachvollziehen. Und natürlich geht es um die Menschen, um die Frage: Wie findet das Anliegen bzw. die Wahrheit ihren Weg zu den Menschen; wie finden die Wahrheit und die konkreten Menschen zusammen? Wie muss die Idee formuliert werden, um dem Adressaten den größten Dienst zu erweisen? Wie soll man schreiben, damit eine Wahrheit begeistert aufgegriffen wird, wenn sie doch im Grunde die Sehnsucht von allen ist?

Aber all diese Fragen berühren wiederum nur die eine Seite der Sache, umschreiben eine „halbe Wahrheit“.

Das Phänomen bleibt doch merkwürdig: Die halbe Welt stürzt sich auf die „Form“, den „Stil“ usw. und weist das Buch kategorisch zurück. Sollte das wirklich nur an der „Form“ liegen?

Mieke Mosmuller hat mit Sicherheit nicht allein auf der Welt die Verantwortung, allen Menschen den größten Dienst zu erweisen. Ihr Buch ist zum einen ein ungeheurer Dienst für die Waldorfbewegung, die ihn aber als solchen erkennen müsste (und nicht erst dann, wenn er bittend, demütig und schmerzlos dahergekommen wäre) – und zum anderen die Darstellung eines Ideales im Kontrast zu einer in Bezug auf ihr spirituelles Wesen völlig in die Dekadenz geratene Waldorfpädagogik.

In dieser Hinsicht ist der Stil folgerichtig. Er kann nicht einfach nur begeistert-harmonisch-liebevoll sein („Lasst es uns doch gemeinsam in dieser wunderbaren Weise machen!“), sondern er muss das Ideal erst einmal so wie es ist hinstellen. Ohne „Beiwerk“, ohne „geneigt-machende Form“. Es muss gerade abgewartet werden, ob man es erkennen wird – in seiner Reinheit, ohne den überzeugenden Zuspruch oder eine unterlegte Harmonie-Sehnsucht der Autorin.

Wenn man das Ideal verwirklichen will, dann muss man von ihm als solchem begeistert sein – und nicht, weil die Autorin einen ganz „mitnimmt“, keine „Kritik übt“ usw. – Wenn diese Punkte einen abschrecken, geht es einem noch nicht um das Ideal.

Es sind zunächst zwei grundverschiedene Ansätze: Jemanden überzeugen wollen, das Wahre und Gute doch zu erkennen und zu wollen – oder die Wahrheit hinzustellen und zu warten, wer sie ebenfalls freudig erkennen und aufgreifen wird.

Auch Rudolf Steiner ist im wesentlichen den letzteren Weg gegangen. Dieser wird heute immer weniger verstanden. Man sagt sich heute: Es geht doch um den Menschen, um den Mitmenschen? Wenn mir das Verständnis so wichtig ist, dann muss ich es doch unbedingt in eine Form bringen, in der es auch aufgegriffen wird? Und vor allem muss es doch der größtmögliche Dienst am Mitmenschen sein? Es kann mir doch nicht um die Wahrheit als solche, sondern nur um den konkreten Mitmenschen gehen?

Der geheime Zusammenhang von Wahrheit und Freiheit

Natürlich kann man diese zwei verschiedenen Aspekte oder meine Gedanken dazu wiederum missverstehen. Denn selbstverständlich ist es Rudolf Steiner um den Menschen gegangen, hat er seine Vorträge nach den Bedürfnissen der Zuhörer gestaltet usw. – Aber: Kompromisse in Bezug auf die Wahrheit hat er dabei nie gemacht. Und: Seine Bücher hat er ganz aus der Wahrheit heraus gestaltet.

Man muss die Frage des Verhältnisses zwischen „Wahrheit“ und „Mitmenschen“ einmal sehr klar durchdenken. Dann wird man jenseits fester und eindeutiger Vorstellungen zu einigen überraschenden Erkenntnissen kommen. Denn man wird finden und empfinden können, wie der verabsolutierte Dienst am Mitmenschen dessen Freiheit verletzt.

Was verlangt man denn von Mieke Mosmuller? Sie soll den Mitmenschen von etwas überzeugen, woran er sich dann begeistert, ohne seine Egoismen überwunden zu haben, sondern weil nichts Hinderliches, Antipathisches enthalten war. Er nimmt dann den Inhalt, weil die Form ihn angesprochen hat! Ich bezweifle schon außerordentlich, inwieweit ein solcher Mensch das „Was“ dann wirklich aufgreifen würde. Vor allem aber würden auf eine solche Weise Kräfte „geschont“, die dann seine weitere Entwicklung hemmen: Er trüge das ganze Subjektive weiter mit sich herum, und seine Liebe zur Wahrheit wäre gar nicht größer geworden. Das ist der falsche Weg! Der Mensch muss lernen, die Wahrheit als solche zu erkennen und sie um ihrer selbst willen zu lieben. Sonst gerät die Menschheit auf einen wirklich ungeheuren Abweg.

Man steht hier vor einer echten Wegscheide: Richtig ist der Aspekt, dass man heute von keiner Autorität mehr irgendeine Wahrheit annehmen muss. Falsch ist der Aspekt, dass man heute glauben kann, was man will – das ist die irrige Ansicht der heutigen Angebots- und Genusskultur: „Überzeuge mich, und ich glaube dir!“. Will man das etwa auch der Wahrheit selbst ins Gesicht sagen? Nein, der Mensch muss sich zur Wahrheit erheben, diese muss sich nicht andienen. Entweder, sie überzeugt von selbst, weil man sich von ihr überzeugt – oder nicht.

An anderer Stelle schrieb ich: „Bleibt man in der Indifferenz, im Zweifel oder in der Beliebigkeit, kann die Wahrheit nicht Eigen-tum des Ich werden, kann das Ich sich nicht zum Geistigen erheben...“ Das gilt aber in gleicher Weise auch, wenn man „überzeugt werden“ will! Man selbst muss tätig werden, das Sich-Erringen der Wahrheit muss eine Tat sein – eine eigene!

Auch ein Mensch, der eine Wahrheit ausspricht, muss und darf sich also nicht andienen. Rudolf Steiner hat es wiederholt ausgesprochen: Es ist egal, wer eine Wahrheit ausspricht. Und natürlich hat jeder seine eigene Art, dies zu tun, aber darauf kommt es gar nicht an.

Die allermeisten Menschen, die Mieke Mosmullers Buch ablehnen, tun dies ja nicht deshalb, weil der Stil so „streng“ usw. ist, sondern weil ihnen der Inhalt so unerträglich ist – weil sie empfinden, dass sie das alles eben nicht verwirklichen oder weil sie es sogar auch (noch) gar nicht wirklich wollen. Dann aber ist es ein Leichtes, das am Stil festzumachen oder sich „die Dinge nicht von Mieke Mosmuller sagen lassen“ zu wollen. Der Punkt aber ist gerade: Sie will es überhaupt nur denen sagen, die es annehmen wollen – und zwar nicht, weil sie es sagt (begeisternd oder streng), sondern weil es so ist. Die Wahrheit als solche müsste am meisten begeistern...

Die Wahrheit als Aufgabe jedes einzelnen

Ganz abgesehen von „Eine Klasse voller Engel“, aber ganz im Sinne des bisher Gesagten: Man muss heute wirklich lernen, vom Stil immer mehr abzusehen bzw. die Eigenart jedes Menschen anzunehmen und zu begrüßen – und auf das hinhören zu lernen, was jemand zum Ausdruck bringen möchte. Es könnte wirklich verzweifeln lassen, wie wenig wir als Menschheit und als Waldorfbewegung hier vorangekommen sind. Will man es fortwährend weiter ausblenden?

Will man in seinem Egoismus, in Gefühlter-Kritik-und-Abwehr ewig fortfahren? „Eine Klasse voller Engel“ wirft wichtigste Fragen auf und gibt ungeheure Hinweise – und was geschieht? Fortwährend wird das Buch scheinbar wegen des „Stils“ abgelehnt. Andererseits werden viele Menschen tief davon berührt – aber es gelingt nicht einmal, ein Gespräch zwischen diesen zwei Gruppen von Menschen zu führen!

Das Seminar mit Mieke Mosmuller im April in Hamburg wird eine der allerersten Gelegenheiten sein, wo überhaupt endlich einmal ernsthaft über das Buch gesprochen werden wird – jenseits der Anwürfe, Verurteilungen und Sich-nicht-damit-beschäftigen-wollen. Es wird endlich über die Fragen gehen, die das Buch wirklich aufgeworfen hat. Ja, viele Menschen fühlen sich durch das Buch zurückgestoßen – und fragen den Veranstalter vielleicht: „Wen holst Du da?“ Sehr gut! Sollen sie kommen und selbst sehen – und tiefer an die eigentlichen Fragen herankommen.

Es gibt viele Wege zur Wahrheit – auch den der persönlichen Antipathie. Aber man muss ihn bis zu Ende gehen wollen. Wer also fragt: „Wen holst Du da?“ muss zumindest dies als echte Frage meinen, er muss wirklich kommen wollen – und sei es mit all seiner vorläufigen Antipathie. Dann wird sich die Wahrheit aus dem Subjektiven schon herausschälen... Die Wahrheit ist eine Aufgabe und ein Geschenk für jeden einzelnen. Letztlich kann dieses Geschenk kein Mensch einem anderen machen (man kann helfen, ja, aber die Gabe muss dann auch angenommen werden) – sondern jeder kann die Aufgabe nur selbst ergreifen...