18.01.2010

„Der Ton macht die Musik“?

Von Wahrheitsliebe, dem Erbe der 68er und der nicht überwundenen Katastrophe

Zum Vorwurf der "Stilfrage" der Bücher von Mieke Mosmuller.


Ein immer wieder geäußertes Urteil gegenüber Mieke Mosmuller betrifft das, was man dann als „Stil“, „Ton“ usw. bezeichnet. Man meint dann, sie schreibe oder sei „zu streng“, glaube „allein die Wahrheit zu kennen“ usw. – Man könnte all diese Vorwürfe unter das Sprichwort fassen: „Der Ton macht die Musik.“

Doch die entscheidende Frage ist immer wieder: Sind die Dinge, die jemand ausspricht, wahr – oder nicht? Spricht jemand unangenehme Wahrheiten aus, so ist es ein leichtes, sich diesen Wahrheiten mit all den oben genannten „Argumenten“ zu entziehen. Das angeführte Sprichwort ist selbst nichts weiter als die Offenbarung eines ungeheuren Hochmutes, der glaubt, die Wahrheit erst hinnehmen zu müssen, wenn sie als bescheidenes, bittendes Angebot daherkommt!

Über die Wahrheit lässt sich nicht streiten, und man wird im heutigen Denken immer seine Probleme damit haben, wenn Menschen auftreten und in irgendeiner Weise sagen: Das ist so! Aus demselben Grund gibt es so ungeheuer viele Menschen, die mit Rudolf Steiner Probleme haben. Man will einfach nicht wirklich anerkennen, dass er wusste, wovon er sprach. Wenn man eine Wahrheit aber nicht annehmen möchte, ist man noch nicht bereit dafür. Man muss die Wahrheit erkennen wollen, man muss nicht „überredet“ werden wollen!

Ja, Mieke Mosmuller spricht sehr klar und auch mit einer gewissen „Strenge“ aus, was notwendig wäre, um dem wirklichen Impuls der Waldorfpädagogik reale Lebensbedingungen zu schaffen. Man kann sich durch diese Strenge „vor den Kopf gestoßen fühlen“. Aber – das eigentliche Skandalon ist doch, dass die Waldorfbewegung all diese spirituellen Fragen – letztlich – konsequent ausblendet. Sie treibt in die Veräußerlichung, ohne dies zuzugeben und ohne mit aller Kraft irgendetwas dagegen zu tun. Wenn dann Mieke Mosmullers Buch scheinbar „schonungslos“ diese Realität feststellt und mit völliger Klarheit und Sicherheit sagt, was zu tun wäre, um das Wesen der Waldorfpädagogik überhaupt zu finden und dann auch nach seiner Verwirklichung zu streben, dann ist es einerseits völlig klar, dass sie große Ablehnung erfahren wird – aber andererseits kann nur dies überhaupt ein Weckruf sein.

Hätte sie ein wohlwollendes Buch geschrieben, nur mit dem vorsichtigen Hinweis, dass es doch eigentlich auf Ehrfurcht usw. ankomme, die man so und so entwickeln könne – glaubt man wirklich, irgendeine nennenswerte Zahl von Menschen hätte dieses Buch anders aufgenommen? Wäre man auf einmal begeistert gewesen, weil es den Intellekt nicht sofort vor den Kopf stößt, sondern in der „gehörigen Bescheidenheit“ daherkommt? Nein. Man hätte das Buch dann zwar nicht mehr entrüstet von sich gewiesen, hätte aber auch sonst nichts getan, sondern wäre einfach so – lächelnd – zur Tagesordnung übergegangen...

Ich glaube nicht, dass ein Buch, das nur in begeisterter Weise die Notwendigkeit der Ehrfurcht und das Wesen der Waldorfpädagogik geschildert hätte, Menschen zu einer Erkenntnis geführt hätte, die sie nicht von sich aus schon hatten. Mit der Schilderung dessen, wie es heute ist, wird dieses Buch zu einem Weckruf – natürlich auch wiederum nur für all jene, die ihn hören wollen. Dennoch kann gerade der Kontrast die eigentliche Aufgabe und ihre Größe empfinden lassen. Hinter einem wunderbaren Buch über das Ideal der Waldorfpädagogik könnten sich noch immer alle verstecken und sagen: Endlich fasst einmal jemand so schön in Worte, was wir schon 90 Jahre lang tun...!

Die halbe Wahrheit der 68er

Es kann sein, dass es vielen Menschen so geht, dass sie Wahrheit im Grunde nur im Diskurs akzeptieren: „Ich denke, dass... Was denkst du?“. Wenn einem dann etwas wie eine unumstößliche Wahrheit entgegentritt, ist die Ablehnung automatisch da... Doch in Bezug auf die Wahrheit gälte es zuallererst, dieses „Gespräch“ mit sich selbst abzumachen. Man selbst muss sich angesichts eines hingestellten Gedankens fragen: Was denke ich?

Aber mehr noch: Kann ich die geäußerten Gedanken überhaupt nachdenken und mitdenken, bevor ich sofort etwas „Eigenes“ denke (was ja oft genug darauf hinausläuft, das schon immer „Gewusste“ zu reproduzieren oder den unmittelbar aufsteigenden Urteilen nachzugeben)?

Und eine andere Frage, die man mit sich selbst abzumachen hätte, ist: Warum stößt mich der „Ton“, diese scheinbare Sicherheit usw. so ab? – Ist eine solche Frage nicht auch eine weitere wunderbare Gelegenheit zu einer Selbsterkenntnis?

Viele Reaktionen, die in dieser Richtung aufkommen, scheinen mit dem „Erbe der 68er“ zu tun zu haben. Was zeichnet denn dieses Erbe aus? Dass man keine „Obrigkeit“ und „Autorität“ mehr anerkennt, weil man die Hohlheit, Verlogenheit und Falschheit all dieser alten Autoritäten durchschaut hat. Das ist wunderbar! Aber die Gefahr liegt nun natürlich im Pendelschlag in das andere Extrem – liegt darin, dass man nun blind gegenüber jedem Höheren wird. Damit aber würde man selbst auch hohl und unwahrhaftig. Die frühere „Obrigkeit“ hatte – obwohl es zuletzt dekadent und falsch war – an ihre „Mission“ geglaubt. Nun aber glauben die 68er an ihre „Mission“, dass es keine Wahrheit mehr gibt als die, die man selbst (heute v.a.: im „Diskurs“) zur Wahrheit macht. Beides ist gleichermaßen falsch. Man kann niemandem etwas aufzwingen (alte Obrigkeit) – aber die Wahrheit ist genauso wenig beliebig.

Wenn man glaubt oder empfindet, Mieke Mosmuller würde bzw. wolle jemandem die Wahrheit aufzwingen, bleibt man selbst noch in der Polarität befangen. Die 68er-Brille sieht natürlich überall das „Autoritäre“. Alles, was streng und absolut überzeugt daherkommt, ist schon „Zwang“ oder zumindest autoritärer Hochmut. Man sieht dagegen nicht, dass die eigene Ablehnung von allem erst recht wirklicher Hochmut ist. Mieke Mosmuller kann mit Sicherheit damit leben, dass man die Wahrheit nicht annehmen will – das ist schließlich die Freiheit jedes einzelnen, und die Wahrheit kann nur durch die Einsicht gefunden werden –, aber sie hat alles Recht der Welt (und ebenfalls völlige Freiheit), erkannte Wahrheiten so auszusprechen, wie sie sind.

Dennoch liegt in all ihren Worten nicht nur Strenge und Klarheit, sondern auch so viel Liebe, Aufruf... Nicht Härte, sondern Klarheit...

Das Erbe der 68er ist zweischneidig. Ganze Generationen haben unter falschen Autoritäten (einschließlich erzkatholischer Erziehung usw.) gelitten und bleibenden Schaden davongetragen. Dazu gehört auch, dass man sich von seinen eigenen Wunden und Vorurteilen kaum befreien kann. Dennoch muss auch diese Generation lernen, Falsches und Wahres wahrhaft zu unterscheiden. Wir werden auch in Zukunft immer und immer wieder vor diesen Prüfungen stehen: Das Wahre wird missbraucht und in sein Gegenteil verkehrt werden, jeder geistige Impuls steht nach seinem Eintritt in die Welt sogleich vor der Gefahr der Veräußerlichung... – Wenn man keinen Sinn für das Wahre entwickelt und immer mehr lernt, zu erkennen, ist Entwicklung nicht möglich.

Mieke Mosmuller spricht nicht als Obrigkeit und auch nicht aus irgendeinem anderen Hochmut – sondern aus Verantwortung für die Wahrheit. Das gibt rein äußerlich gesehen scheinbar die „gleiche“ Strenge, aber diese muss man eben unterscheiden lernen. Die Wahrheit selbst hat doch eine Strenge? Wenn man diese Strenge – und das heißt, Wahrheit als solche –, nicht lieben lernen kann, dann wird einem die Wahrheit immer zu unbequem sein. Insofern ist jede Strenge immer auch eine Prüfung: Worum geht es dir eigentlich?

Das dunkle Erbe des Faschismus

Wenn man sich selbst entwickeln will, muss man auch streng zu sich sein. Das hat nichts mit Lieblosigkeit und Hartherzigkeit zu tun. Sondern es gehört gerade dazu, liebevoll die eigenen Schwächen anzuerkennen, das im Moment noch nicht Mögliche zu sehen – aber zugleich entschlossen und streng zu sein und eine innere Kraft zu finden, damit die Schwächen nicht bleiben, was sie sind, sondern immer mehr das wahre Wesen erscheinen kann. Je strenger man hier vorgeht – und das heißt nichts anderes als: je mehr man den Willen hat –, desto mehr darf dieses Wesen erscheinen, denn die Schwächen sind niemals das Wesen...

Wahrheit, Strenge, Ernst, Begeisterung, Streben, Entwicklung, Freude – all das sind keine Widersprüche, sondern bilden eine in sich notwendige (und befreiende) Ganzheit!

Die dunkle Zeit des Nationalsozialismus hat – über alles ungeheure einzelne Leid hinaus – einen furchtbarsten Gegen-Impuls zur Anthroposophie gebracht, der bis heute nachwirkt. Weil die höchsten Ideale auf so allerschlimmste Weise missbraucht wurden, ist heute Begeisterung, Ehrfurcht und Aufschauen zu etwas Höherem für viele nicht nur unmöglich (zu tun), sondern sogar buchstäblich undenkbar geworden.

Aber es ist nicht möglich, sich dem Wesen der Anthroposophie auch nur zu nähern, wenn man nicht all diese Kräfte wieder in sich findet und gereinigt von aller Schändung und allem eigenen Niederen immer mehr entwickeln kann. Es waren und sind niemals die Kräfte als solche schlimm – sondern immer nur das Falsche, auf die man sie richtet. Wenn man aber erkennt, wie sehr sie missbraucht wurden, kann man mit um so größerem Willen und Einsatz daran gehen, sie wieder zu heiligen!

Die „kritischen“ Zeitgenossen, für die Ehrfurcht – oder sogar schon Wahrheit – ein „Reizwort“ ist, sollten sich realisieren, dass sie zwar in gewisser Weise etwas durchschauen, dass sie aber abgesehen von dieser relativen Erkenntnis innerlich „bequem“ bleiben, und das Schlimme ist: Sie bleiben immer noch Opfer der Nazizeit – und tragen auf diese Weise dazu bei, dass der Impuls der Gegenmächte nach wie vor kraftvoll weiterwirkt. Denn das spirituelle Ziel dieses dunkelsten Impulses in der Geschichte war es ja, die allerhöchsten Kräfte für alle Zeit in Misskredit zu bringen und (übertragen und buchstäblich) unmöglich zu machen.

So unmöglich, dass man schon bei dem bloßen Wort zurückzuckt, dass man nicht einmal zu einem Gedanken kommt, geschweige denn zu einem Gefühl, und erst recht niemals zu einem Wollen, einer inneren Realität...

Ein Buch über das Wesen der Waldorfpädagogik kann sich nur an jene richten, die diese Dinge erlebend durchschauen oder zumindest „durch-fühlen“. Denn die Waldorfpädagogik kann nicht anders, als mit diesen höchsten und heiligsten Kräften zu arbeiten. Dafür müssen sie im einzelnen Menschen wieder gefunden werden...

Wenn aber die Sehnsucht nach diesen entscheidenden Kräfte in der Menschenseele wieder wachsen wird, dann wird auch ein Buch wie „Eine Klasse voller Engel“ in vollem Umfang verstanden und empfunden werden. Dann wird man ein wahres Hinblicken auf die bisherige Realität nicht mehr als „Kritik“ bekämpfen und zurückweisen, sondern man wird die Selbsterkenntnis bejahen und sich mit der ganzen Kraft seiner Seele dem Not-wendigen zuwenden ... und immer mehr „die Wahrheit tun“.