Geisteskampf um ein Buch

 

Wer ein Buch wie das vorliegende der Öffentlichkeit übergibt, der soll mit Gelassenheit jede Art von Beurteilung seiner Ausführungen sich vorstellen können, welche in der Gegenwart möglich ist. Da könnte zum Beispiel jemand [...] zu dem folgenden Urteil kommen:

„Man ist erstaunt, wie dergleichen Behauptungen in unserer Zeit nur überhaupt möglich sind. [...] Jeder, der auch nur die Anfangsgründe dieser Wissenschaft kennt, könnte ihm zeigen, daß, was er da redet, nicht einmal die Bezeichnung Dilettantismus verdient, sondern nur mit dem Ausdruck: absolute Ignoranz belegt werden kann...“

Es könnten nun noch viele solche Sätze einer derartigen, durchaus möglichen Beurteilung hingeschrieben werden. Man könnte sich aber nach den obigen Aussprüchen auch etwa folgenden Schluß denken:

„Wer ein paar Seiten dieses Buches gelesen hat, wird es, je nach seinem Temperament, lächelnd oder entrüstet weglegen und sich sagen: 'Es ist doch sonderbar, was für Auswüchse eine verkehrte Gedankenrichtung in gegenwärtiger Zeit treiben kann. Man legt diese Ausführungen am besten zu mancherlei anderem Kuriosen, was einem jetzt begegnet'.“ [...]“

(Rudolf Steiner, Vorrede zur „Geheimwissenschaft“)

11.01.2010

Vom Verlust des spirituellen Wesens der Waldorfpädagogik

Entgegnung auf einen „Machtspruch von der Kanzel“.

Der Leiter der Akademie für anthroposophische Pädagogik in Dornach äußerte sich in symptomatischer Weise über Mieke Mosmullers Buch „Eine Klasse voller Engel“. – Antwort auf Thomas Stöckli: Missionarisches Kuriosum. In: Der Schulkreis 4/09, Die Zeitschrift der Rudolf Steiner Schulen in der Schweiz. | PDF


In der ersten Vorrede zur „Geheimwissenschaft im Umriss“ nahm Rudolf Steiner bereits alle Einwände und Urteile vorweg, die diesem Werk begegnen würden.
Er hatte für all diese Einwände Verständnis, kannte die Quelle, aus der sie entsprangen – nur die Gegner erfassten von seinem Werk nicht das Geringste.

Menschen, die von sich behaupten, sich mit der Anthroposophie verbunden zu fühlen, sollten einem Buch, das aus der Anschauung des geistigen Wesens einer „Sache“ geschrieben worden ist, vorsichtiger gegenübertreten. Um so erstaunlicher ist es, dass auch unter ihnen blinde Urteile in derselben Stärke walten, wie Rudolf Steiner sie für die Gegner seines Werkes schilderte.

Ein eklatantes Beispiel für diese Art zu urteilen findet sich in der Weihnachts-Ausgabe der Zeitschrift der Rudolf Steiner Schulen in der Schweiz, „Der Schulkreis“. Hier äußert sich in einer „Buchbesprechung“ nicht einmal irgendjemand, sondern der Leiter der Akademie für anthroposophische Pädagogik in Dornach, Thomas Stöckli.

Es geht um das von der niederländischen Anthroposophin Mieke Mosmuller geschriebene Buch „Eine Klasse voller Engel“, das einen wunderbaren Blick auf die Waldorfpädagogik in ihrer wahren, geistgemäßen Gestalt wirft – und die Bedingungen für eine Verwirklichung dieser wahren Gestalt entfaltet.

Der Waldorf-Magog – und Stöcklis „Sorgfalt“

Stöckli jedoch zieht schon gleich zu Beginn seiner „Besprechung“ abfällig über die „höheren Erkenntnisfähigkeiten“ her, die die Autorin entwickelt hat. Und verwundert fragt man sich: Hat Herr Stöckli selbst höhere Erkenntnisfähigkeiten erworben – oder glaubt er, diese von seinem normalen Standpunkt aus für nicht existent oder trügerisch erklären zu können? Und so geht es dann weiter:

„[...] pocht sie wieder und wieder auf ihre fixe Meinung [...] liefert, wie jeder Katastro­phen- und Sektenprediger, die Lösung in dieser Apokalypse mit [...] Es lohnt sich nicht, auf das abstrakte Gebäude im Einzelnen einzugehen. [...] [Wäre es nicht schon vielfach verkauft] dann hätte dieses Buch vielleicht ein paar wenige Leser als Kuri­osum erreicht. Aber zum Glück sind die Mosmüller-Anhänger und generell solche sektiererisch wir­kende Bestrebungen eine Ausnahme­erscheinung innerhalb der anthroposo­phischen Bewegung.“


Urteil folgt auf Urteil, Phrase auf Phrase: Ignoranz, Dilettantismus, Kuriosum – genau das, was schon Rudolf Steiner voraussah. Dazu kommt dann noch der Sarkasmus und die Drohung gegenüber anderen Lesern: Wer in dem Buch etwas sieht, ist ein Sektierer, steht automatisch ganz am Rande...

Und man stelle sich vor, wie dieses Urteil nun als Kollektivurteil in die Gedanken der „Schulkreis“-Leser einsickert – all jener Lehrer und Eltern, die das Buch nicht kennen. Ein einziger herablassender Satz aus autoritärem Munde ist schon die stärkste Suggestion: „Es lohnt sich nicht, auf das abstrakte Gebäude im Einzelnen einzugehen.“ – So steht es in der Verbandszeitschrift. Wer würde es wagen, sich da noch ein eigenes Urteil zu bilden?

Mit einem unglaublichen Hochmut fällt Stöckli hier also das Urteil für die gesamte Leserschaft gleich mit. Und was ist es, was er als erstes zu kritisieren hat? Die angeblich „fixe Meinung“ der Autorin, die er wie folgt zitiert: „Es gibt einen Waldorf-Magog statt einer Waldorfpädagogik. Der Magog ist eine [...] Gruppenseele, in der die freie Individualität nicht sein darf...“ – Was aber tut Stöckli? All seine Worte beweisen die Richtigkeit dieser Sätze!

Und weiter: Was ist für Stöcklis Auffassung so „abstrakt“?

„Es ist ihr neues Lehrerbildungskonzept. [...] Nach bester „Kochrezeptmethode“ wird Jahr für Jahr ein „Leib“ der neuen Lehrer geschult und ausgebil­det, erstes Jahr physischer Leib, zweites Jahr Ätherleib, drittes Jahr Astralleib, viertes Jahr das Ich, dann noch ein fünftes Jahr, und immerhin dürfen sich diese Stu­dierenden auch mit Fragen der Pädagogik befassen. [...]“


Man braucht Mieke Mosmullers Buch nicht einmal gelesen zu haben, um zu durchschauen, dass Stöckli hier grobe Unwahrheiten in die Welt setzt. Vier Jahre lang je ein Wesensglied der werdenden Lehrer geschult und ausgebildet? Wie sollte der Lehrer denn z.B. seinen physischen Leib schulen und ausbilden? Indem er nochmals Kleinkind wird? Indem er Gymnastik treibt? Hier zeigt sich, wie genau Stöckli gelesen hat – und was man von den Urteilen des Dornacher Akademie-Leiters zu halten hat. Denn in dem detailliert beschriebenen Entwurf einer neuen Lehrerbildung vertieft sich der Lehrer in das Wesen dieser Wesensglieder beim Kinde, beim Menschen überhaupt.

Menschenkunde ist die Pädagogik

In diesem einen Satz von Stöckli zeigt sich außerdem, welches Bild er selbst von Pädagogik hat: Seine Bemerkung „und immerhin dürfen sich diese Studierenden auch mit Fragen der Pädagogik befassen“ zieht einen Graben zwischen „Fragen der Pädagogik“ und einem tiefgehenden Studium der Wesensglieder des werdenden Menschen. Wenn man aber Rudolf Steiner ernst nimmt, wird man finden, dass das Wesen der Waldorfpädagogik gerade in den Wesensgliedern des werdenden Menschen, im Kinde selbst verborgen liegt. Wo sollte es auch sonst liegen?

„Wenn Sie nun Menschenkunde studieren, wie wir es getan haben, so erleben Sie das zunächst bewusst; meditieren Sie nachher darüber, so geht ein innerer geistig-seelischer Verdauungsprozeß in Ihnen vor sich, und der macht Sie zum Erzieher und Unterrichter.“ (Rudolf Steiner, GA 302a).

„Aber das „Wie“, wie den Kindern etwas beizubringen ist, das ergibt sich nur aus einer gründlichen, tiefen und liebevollen Menschenerkenntnis.“ (13.1.1921, GA 298, S. 81f).

„Man kann natürlich nicht erziehen und unterrichten, wenn man beim Erziehen und Unterrichten nicht gewissermaßen im Geiste erfühlen kann den ganzen Menschen [...] Ich möchte sagen, an dem Waldorfschul-Lehrerbewußtsein müssen wir arbeiten. Das können wir aber nur [...], wenn wir gerade auf dem Gebiete der Pädagogik zu einem wirklichen Erleben des Geistigen kommen.“ (16.9.1920, GA 302a, S.22,25).

„Was der Erzieher tut, [...] muß vielmehr in jedem Augenblicke seines Wirkens aus lebendiger Erkenntnis des werdenden Menschen heraus neu geboren sein.“ (GA 24, S. 86f).

„Mit dem Kinde müssen wir innerlich zusammenleben können! Wir müssen so das Menschliche lebendig in uns aufgenommen haben, daß wir mit dem Kinde lebendig zusammenleben können. Bloßes Verstehen des Kindes nützt gar nichts.“ (1.7.1923, GA 304a, S. 89).


Das alles gilt für Stöckli nicht – und auch keine andere Ausbildungsstätte nimmt die Menschenkunde so ernst, wie Rudolf Steiner sie in völliger Klarheit als Zentrum und Essenz wahrer Erziehungskunst hinstellt. Es gibt keine Schere zwischen der Menschenkunde und Fragen der Pädagogik – die erstere ist vielmehr eine lebendige Antwort auf alle Fragen der Pädagogik.

Weil aber die Waldorflehrer-Ausbildung diese lebendige, reale Menschenkunde nicht ganz ins Zentrum der Lehrerbildung stellt, weil sie gar nicht weiß, wie sie das machen soll, verfehlt sie die Waldorfpädagogik innerlich – auch wenn sie äußerlich noch so viel entwickelt.

Die verleugnete Veräußerlichung

Dass man an diesem Punkte mit völliger Blindheit geschlagen ist und immer wieder alles schon „zu haben“ glaubt, liegt nur daran, dass Rudolf Steiners Menschenkunde in den Ausbildungen natürlich auch „behandelt“ wird, dass ferner die „pädagogischen Konsequenzen“ von Generationen von Lehrern in der Sekundärliteratur „ausgearbeitet“ wurden usw.

Das führt dazu, dass man die geisteswissenschaftliche Erkenntnis in äußerer, abstrakter Form sehr wohl hat. Es ist aber ein elementarer Unterschied, ob man das ganze Material bis ins Verstandeswissen hinein „zur Verfügung“ hat – oder ob man diese spirituelle Menschenkunde lebendig in sich trägt, im einzelnen Kinde wiederfindet und lebendige pädagogische Intuitionen hat. Das genau ist der Unterschied zwischen einem „Masterstudium“ und Erziehungskunst... Der Maßstab ist dabei nicht der Unterschied zu den Staatsschulen, sondern das spirituelle, lebendige Wesen der Waldorfpädagogik.

Und immer mehr „flüchtet“ man sich in die Veräußerlichung. Man bildet sich fort, lernt neue Methoden kennen, trifft sich auf Tagungen. Man entwickelt neue Unter-, Mittel- und Oberstufenmodelle; Portfolio, Praxisforschung, Praxisbezug, Berufsvorbereitung... Wenn man fortwährend aktiv ist, in der Oberstufe die Jugendlichen in den Beruf führt, als Lehrer sich selbst und seine „forschenden Bemühungen um andere Unterrichtsformen“ reflektiert usw. usf., kann man meinen, dass man auf der Höhe der Zeit schwimmt; dass man den „heutigen Bedürfnissen“ der Jugendlichen so weit wie irgend möglich entgegenkommt, ihr Interesse an der Welt aufgreift und vertieft usw.

Dabei geht man jedoch mit allem Denken und Tun immer mehr in die äußerliche Welt hinein, in die intellektualistische Diskurs-Welt, in die Welt der Praxisforschung, der Master-Studiengänge... Die Vertiefung findet gerade nicht statt – sie wäre ja die umgekehrte Bewegung! „Praxisforschung“ als Ersatz für wahrhaft meditativ erarbeitete Menschenkunde? Nun – man kann sich von der Anthroposophie verabschieden ... aber dann soll man sich und anderen gegenüber ehrlich sein.

Man wird mit den angeblichen „Modernisierern“ nicht diskutieren können: Wenn die Waldorfbewegung „modern“ werden will, wird sie die wahre Spiritualität weiter von sich werfen. Doch man mag sich noch so engagiert, noch so nah „am Kind“ empfinden – wenn man nicht seine eigenen Seelenfähigkeiten vertieft, ist man auch nicht nah am Kind.

Ohne echte Spiritualität ist jede „Weiterentwicklung“ dazu verurteilt, ebenso tot wie oder noch toter als das Vorherige zu sein. Wenn aber die Spiritualität gefunden werden soll, durch die Pädagogik erst wahre Erziehungskunst wird, braucht das Buch von Mieke Mosmuller viele, viele Leser...