09.10.2009

Der Weg in die Welt und zum wahren Selbst – für die Kinder, für den Lehrer

Vom Ideal der Waldorfpädagogik und dem Mysterium der Verwandlung. | PDF


Inhalt
Vom Vertiefen des Erlebens
Von der Geburt eines zweiten Menschen
Die wahrhafte Verbindung


Was ist Waldorfpädagogik?

Ein Aspekt der Waldorfpädagogik ist es, dem Kind eine immer tiefere Verbindung mit der Welt zu ermöglichen. Der Lehrer begleitet und führt das Kind auf einer Reise, die immer tiefer in die Welt hineinführt – in das Erleben der Welt, das Sich-Verbinden mit ihr.

Vom Vertiefen des Erlebens

Das ist natürlich nur möglich, wenn auch der Lehrer darum ringt und danach strebt, sich immer tiefer mit der Welt zu verbinden. Der Lehrer muss also selbst ein tiefes Interesse an allem haben, womit er sich beschäftigt, um es dann, wenn er es in seiner eigenen Seele durchlebt hat, an die Kinder heranzubringen. Er muss empfinden, dass auch sein Interesse sich immer mehr vertiefen kann – und dass es auch für ihn nicht darum geht, sich Stoff und Wissen anzueignen, um es dann vermitteln zu können. Die Liebe zu den Welterscheinungen muss auch für ihn eine immer kräftigere Realität werden, nur so kann er dann im Unterrichten mit den Kindern mitleben und gleichsam gemeinsam mit ihnen die Welt entdecken.

Wenn der Lehrer wirklich empfinden kann, wie sehr die Kinder zunächst eigentlich mit der Welt verbunden sind, wie tief ihr Interesse an allem ist, was um sie herum geschieht und was sie an Neuem kennenlernen dürfen, dann kann er auch ermessen, wie groß der Verlust an Interesse, Liebe und Verbindung mit der Welt ist, den der erwachsene Mensch bereits erlitten hat. Sein Denken verläuft doch immer oder meistens abstrakt, selbst da, wo sich ein gewisses Interesse entwickelt. Das Denken bleibt intellektuell, man "erklärt" sich die Dinge, ordnet sie in bekannte Zusammenhänge ein, das Fühlen bleibt blass und oberflächlich, ein Wollen erwacht überhaupt nicht...

Und selbst wenn es einem innerlich schon gelingt, an den Dingen ein etwas lebendigeres Interesse zu entwickeln, muss man sich als erwachsener Mensch doch eingestehen, dass es ein weiter, weiter Weg ist, wieder eine so lebendige, tiefe Liebe zu der Welt und ihren Erscheinungen zu entwickeln, wie sie jüngere Kinder uns unmittelbar vorleben. Zu dieser Tiefe und Lebendigkeit muss aber der Lehrer zurückfinden! Denn nur wenn er dies erreicht – wie unvollkommen auch immer –, wird er dazu beitragen können, dass es den heranwachsenden Menschen nicht ebenso verlorengeht, sondern dass diese Lebendigkeit, dieses Interesse, diese Liebe zur Welt auch in ihnen wirklich genährt wird, immer wieder neu. Was in der Erziehung wirksam ist, ist eben wirklich das Sein des Lehrers – und dieses Sein muss er sich erringen!

Der wahre Mensch ist ja überhaupt noch nicht geboren! Wenn wir es vom Gesichtspunkt der Kinder aus betrachten, müssen wir ebenso sagen: Der erwachsene Mensch ist im Grunde schon gestorben. Er will uns etwas beibringen, aber alles, was er uns bringen kann, ist etwas Totes. Wenn wir es in dieser Form aufnehmen und damit heranwachsen, werden wir als Erwachsene ebenfalls alle Lebendigkeit verloren haben...

Nun trägt das, was Rudolf Steiner den Waldorflehrern als Inhalte des Unterrichts empfohlen hat, selbstverständlich sehr dazu bei, dass der Unterricht der Waldorfschule eben nicht so vollkommen tot ist wie an der Staatsschule, dass er schon seinem Inhalt nach alle Voraussetzungen in sich trägt, dem lebendigen Menschenwesen in seiner Entwicklung entgegenzukommen. Doch das Entscheidende ist eben, dass der Lehrer selbst alles in sich lebendig zu machen vermag – wirklich lebendig, und immer mehr lebendig.

Von der Geburt eines zweiten Menschen

Wenn der Lehrer diese Erkenntnis wirklich erringt dass seine eigene Verbindung mit der Welt jeden Tag tiefer werden könnte, selbst wenn er zuvor meinte, schon ein sehr lebendiges Interesse zu haben , dann ist das Tor zu einer wirklichen Selbsterziehung aufgestoßen.

Man erkennt sich als höchst unvollkommener Mensch, der im Grunde noch ganz am Anfang steht – und dies kann auch gar nicht anders sein, denn es geht um die Geburt eines zweiten Menschen! Das gerade ist das Geheimnis der Freiheit, dass der Mensch an einem bestimmten Punkte im Leben zu der klaren Erkenntnis kommt, das er sich selbst ganz und gar neu erschaffen muss (und darf), um erst wahrhaft er selbst zu werden.

Da gibt es so viele Bereiche des eigenen Seelenlebens, die gar nicht so sind, wie es unserem eigenen Ideal entspricht. Dieses Ideal, das wir mehr oder weniger bewusst in uns tragen, ist aber eine Realität – und soll auch zu einer sich offenbarenden Wirklichkeit werden. Vielleicht weiß man schon lange, dass man anderen Menschen oft nicht aufmerksam genug zuhört – oder man weiß, dass man überhaupt nur zuhört und viel zu wenig den Mut hat, selbst einmal aus sich heraus zu sprechen. Oder man weiß, dass man viel zu vergesslich ist, oder zu unpünktlich, oder zu unordentlich, oder, oder, oder...

Und nun erkennt man nicht nur, dass man in all diesem die Möglichkeit hat, sich neu zu erschaffen, sondern man spürt auch den immer stärker erwachenden Willen, es auch wirklich zu tun! Die vorhandenen Fähigkeiten zu vertiefen, die noch nicht vorhandenen zu entwickeln, überall das wahrhafte Gleichgewicht zu finden – und immer mehr die Entwicklung selbst zu lieben und zu wollen...

Vor allem aber gibt es da viele Bereiche des eigenen Seelenlebens und des noch ungeborenen Geisteswesens, die man bisher überhaupt nicht bemerkt hat, die es erst zu erwecken gilt, bevor man sie überhaupt vertiefen kann! Und im Grunde wird man zu einem wirklichen und starken Willen der Selbsterziehung und Selbstverwandlung (auch im Sinne der letzten Absätze) überhaupt nur kommen, wenn man den grundlegenden Willen zu einem wirklichen Schulungsweg entwickelt und nicht nur eine Vorstellung, sondern eine erste reale Ahnung von dem wahren Wesen des Menschen bekommt.

Es ist eine Sache, die eine oder andere Angewohnheit zu verändern, weil man selbst damit schon lange unzufrieden ist, oder auch weil man meint, als Pädagoge in dieser oder jener Richtung eine gewisse Selbsterziehung betreiben zu müssen. Eine ganz andere Sache ist es, eine wirkliche Ahnung davon zu bekommen, wie ungeboren wir noch sind, und den wirklichen Willen zu empfinden, einen zweiten, geistigen Menschen zur Entwicklung kommen zu lassen – und einen Weg zu betreten, auf dem sich alles Gewordene durch und durch ändern  und verwandeln wird...

Dann sieht man und erlebt es auch immer mehr, dass es die große, edle Aufgabe und Gnade ist, alles Gewordene (und auch alles noch gar nicht Entwickelte) in der eigenen Seele – bis hinein ins eigene Gewohnheitsleben – erstmals wirklich und bewusst von innen heraus zu ergreifen! Und man erlebt: Was ich nun von innen heraus bewusst ergreife, das schaffe ich neu, das werde ich ganz und gar selbst. Alles, was ich noch nicht wirklich ergriffen habe oder noch nicht ergreifen kann, oder vielleicht auch noch nicht einmal sehe, das bin noch nicht wirklich ich – zwar schon ich, aber noch nicht derjenige, der jetzt als voll-bewusst erlebendes, gestaltendes und wollendes Wesen langsam erwacht und in die Existenz tritt...

Die wahrhafte Verbindung

Es ist unmittelbar deutlich, dass mit diesem allergrößten Bewusstseinsschritt, den ein Mensch tun kann, nicht nur der Beginn einer umfassenden Selbsterziehung, -verwandlung und -erschaffung gegeben ist, sondern zugleich der Beginn eines vollkommen neuen Zusammenhanges mit der Welt. Denn die ganze Art und Weise des bisherigen Welterlebens verwandelt sich völlig. Indem sich die eigene Seele vertieft und erweitert, indem das eigene Geistwesen erwacht, wird die Welt erst wirklich etwas, das mir nicht gegenübersteht, sondern in dem ich immer mehr in voller Realität darinnenstehe, die ich mit allen Sinnen und ganzem Herzen erlebe, durchlebe, mitlebe...

Und zugleich eröffnet sich durch den inneren, meditativen Entwicklungsweg ein Tor in die Welt des Geistigen, das die eigentliche Heimat des Menschenwesens ist. Indem er diese Welt mehr und mehr kennenlernt, erlebt der Mensch immer mehr sein eigenes, wahres Wesen – und kann aus diesem Erleben und dieser Quelle heraus auch seine seelische Verwandlung und Selbsterziehung die richtigen Wege führen.

Die wahre Selbsterkenntnis und Selbsterziehung führt also gerade zur wirklichen Verbindung und Begegnung mit der Welt! Es gibt für den Lehrer nichts Notwendigeres, als die Notwendigkeit einer solchen Selbsterkenntnis und innerlichen Erziehung und Verwandlung zu erkennen. Denn nur, wenn er selbst diesen Weg geht, kann er ihn auch mit den Schülern gehen. Nur wenn er selbst zu einer wahren und tiefen Erkenntnis des Menschenwesens kommt und eine tiefgreifende Verwandlung des eigenen Wesens zumindest erstrebt und beginnt, findet er jene tiefe, lebensvolle Verbindung mit der Welt, auf die es ankommt. Und nur dann kann er auch den Kindern den Weg zu dieser Verbindung ebnen, weil sie sie bei ihrem Lehrer erleben und mit ihm mitleben.

Und diese wahrhafte Verbindung mit der Welt und überhaupt das Erleben dessen, was seelisch-geistig von diesem neu errungenen und immer weiter sich entwickelnden Wesen und Sein des Lehrers ausgeht, ist wiederum auch die wahrhafte Grundlage dafür, dass die heranwachsenden Menschen eine lebendige Ahnung vom Wesen des Menschen aufnehmen – und einen Keim für die Zukunft, in der dann auch ihr eigener Wille zur Selbstverwandlung und wahren Selbstwerdung erwachen kann und wird...