23.09.2009

Weltfremde Ideale?!

Eine Antwort auf die ideal-fernen Einwände gegen „Eine Klasse voller Engel“ und die darin entworfene Lehrerbildung. | PDF


Inhalt
Einleitung
Der zentrale Blick auf das Geistige
Bedingungen einer Erziehung zur Freiheit
„Nicht von dieser Welt“
Das Ideal als Wirklichkeit


Einleitung

In ihrem Buch „Eine Klasse voller Engel“ entwirft Mieke Mosmuller eine völlig neue Ausbildung für werdende Waldorflehrer – eine wunderbare Ausbildung, in der die Studenten immer wieder zu einem eigenen Erleben geführt werden. Sie werden Schritt für Schritt mit dem Physischen, dem Ätherischen, dem Wesen der Seele und des Geistes vertraut – um so schließlich aus einem reichen eigenen Erfahrungshintergrund heraus werdende Menschen wahrhaft erziehen zu können.

Dass Mieke Mosmuller in ihrem Buch vieles nur andeuten konnte, ist selbstverständlich – zunächst wäre es notwendig, sich überhaupt einmal ernsthaft mit diesem Entwurf auseinanderzusetzen, sich auf das darin Enthaltene einzulassen, die innere Notwendigkeit einer solchen Ausbildung zu erfassen...

Stattdessen erlebte ich gegenüber diesem Entwurf einer Lehrerbildung nun schon mehrfach den Einwand, es handele sich da um ein „weltfremdes Konzept“, um den weltfremden Versuch, „abstrakte Ideale“ in die Form einer Ausbildung zu gießen.

Abgesehen davon, dass dieser Einwand in dieser Form selbst billig, abstrakt und ganz un-gegründet ist, seien im Folgenden einige wesentliche Aspekte der ganzen, damit zusammenhängenden Frage aufgeworfen.

Die eigentliche Hauptfrage ist immer wieder die folgende: Was ist Waldorfpädagogik und wie kann sie verwirklicht werden?

Der zentrale Blick auf das Geistige

Ziel der Waldorfpädagogik ist ein tiefes, umfassendes Verständnis des Menschenwesens – und die Verwirklichung solcher Bedingungen (einer solchen „Umwelt“), dass jenes Wesen des Menschen sich wirklich entwickeln kann.

Damit hat man es von vornherein mit zwei Bereichen der Wirklichkeit zu tun: Mit der Welt des Idealen und der Welt des Irdischen. Im Irdischen soll der ganze Mensch zur Entwicklung, zur Erscheinung, zur Offenbarung kommen! Der Mensch aber ist ein geistiges Wesen, jeder Mensch ist eine ewige Individualität, und tief zu seinem Wesen gehört es, was der individuelle Mensch aus den geistigen Welten mit auf die Erde bringt – an karmischen Impulsen, an später erwachenden Idealen – und was er als erwachsener Mensch für moralische Intuitionen erringen kann.

Die große Frage ist, ob sich all dies, was unmittelbar mit dem Wesenskern des Menschen zusammenhängt, offenbaren, ausleben kann – oder ob es auf unüberwindliche Hindernisse trifft...

Die Waldorfpädagogik hat ihrem wahren Wesen nach immer diesen Blick auf die Welt des Geistigen, das im Irdischen, inmitten von Hindernissen und Gegenkräften, zur Entwicklung und schließlich zur Erscheinung kommen will.

Wenn aber die Waldorfpädagogik ganz zentral diesen Blick auf das idealische Wesen des Menschen hat, mutet es schon von daher seltsam an, wenn dem Entwurf einer Lehrerausbildung der Vorwurf „weltfremder Idealismus“ gemacht wird. Sehen wir weiter...

Bedingungen einer Erziehung zur Freiheit

Das wahre Wesen eines Menschen einschließlich seiner individuell mitgebrachten Impulse kann nicht zur Erscheinung kommen, wenn es sich nicht auf der Grundlage einer wahrhaftigen, tiefgehenden Moralität entwickeln kann. Das wahre Wesen des Menschen ist durch und durch moralisch, deshalb kann es sich nur offenbaren, wenn die Seele die moralischen Kräfte tief in sich aufnimmt – weil sie dadurch dem geistigen Wesenskern ähnlich wird, und so für dessen Erscheinung „der Weg bereitet“ wird.

Heute bestehen vielfältige Vorbehalte gegen „Moralerziehung“ jeglicher Art – zugleich ist aber völlig offensichtlich, dass eine Welt ohne Moral (auf die wir uns schrittweise zubewegen) in die völlige Katastrophe führen wird. Alle Bedenken gegen eine moralische Erziehung laufen auf ein einziges hinaus: dass eine von außen herangetragene Moral nicht die eigene ist.

Die Waldorfpädagogik jedoch gibt auf dieses Dilemma von Anfang an eine vollgültige Antwort: Wenn man nicht abstrakte Moral predigt, sondern Moral vorlebt und moralische Bilder entwirft, dann erwacht im werdenden Menschen ein moralisches Empfinden – und er wird auf der Grundlage dieses Empfindens später zu einem völlig freien, eigenständigen moralischen Urteil erwachen können, weil der Mensch selbst seinem Wesen nach moralisch ist.

Eine Bedingung allerdings gibt es: Bilder, die der Erzieher entwirft, ohne dass er selbst ganz in ihnen lebt; Moral, die der Erzieher vormacht, ohne dass er sie wahrhaftig mit seinem ganzen eigenen Wesen vorlebt, wirkt immer noch dogmatisch – oder gar nicht.

Eine wahrhaftige Erziehung zur (moralischen) Freiheit setzt voraus, dass der Erzieher selbst durch und durch ein tief moralischer Mensch ist. Damit muss man dann aber Ernst machen wollen. Jeder Mensch, der wahrhaft Waldorflehrer werden will, wird diesen Wunsch nach Selbsterziehung und moralischer Vervollkommnung in seiner Seele tragen – und sei er zunächst noch so verborgen. Genau hier knüpft die von Mieke Mosmuller skizzierte Ausbildung an: Bei den absoluten Grundvoraussetzungen des Waldorflehrer-Berufes und bei den innersten Impulsen jener Menschen, die wahrhaft nach diesem Beruf streben.

Wenn man dies als „weltfremd“ bezeichnet, dann hat man vom Wesen der Waldorfpädagogik keine Ahnung.

Das Gleiche gilt für die weiteren Inhalte und Studienjahre, wie sie in „Eine Klasse voller Engel“ beschrieben sind. Ohne ein wirklich errungenes tiefes Verständnis des Ätherischen, des Seelischen und des Geistes wird man nicht im Sinne der Waldorfpädagogik erziehen können.

„Nicht von dieser Welt“

Wenn man die von Mieke Mosmuller in ihren Umrissen beschriebene Lehrerbildung für weltfremd erklärt, offenbart man nur, wie weit man sich selbst schon an die „Welt“ angepasst hat. Denn was ist der Grundzug der heutigen Welt? Ihre ungeheure Geistferne, Idealferne, Abstraktheit, Intellektualität. Man spricht von „Pragmatismus“ und „Realitätssinn“ und meint doch nichts anderes als „was heute eben noch geht“.

Merkwürdig ist nur, dass man schon ein Urteil über den Entwurf von „Eine Klasse voller Engel“ haben zu können meint, bevor man auch nur versucht hat, ihn zu realisieren. Das muss wohl heißen, dass man die Realität dieses Entwurfes nicht einmal in sich selbst erleben kann. Damit ist jener Entwurf jedoch nicht welt-, sondern nur einem selbst fremd...

Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass auch in der „Welt“ immer weniger Empfindung für den Geist da ist. „Weltnähe“ würde also darin bestehen, sich an diese Geistleere anzupassen. „Weltfremdheit“ als Vorwurf wäre geradezu ein Hinweis auf Geistiges!

Denn man muss sich doch ganz und gar klar darüber sein, dass die Worte des Christus: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt!“ heute mehr denn je gelten. Wer heute im Sinne des Christusimpulses wirken will, wird überall auf die Hindernisse stoßen, die sich dann in so schöne Worte wie „Pragmatismus“ und „Realitätssinn“ kleiden. „Weltfremd“ – das ist ein willkommenes Schlagwort jener Mächte, die das wirkliche, wirkende Geistige gänzlich ausschalten wollen.

Der wahrhafte Waldorflehrer, dem es um das Geistige, das durch und durch Moralische im werdenden Menschen geht, der muss im besten Sinne „weltfremd“ sein! Er muss ganz in der Welt stehen können, aber er muss zugleich wissen: Das, wofür ich wirke, und das, aus dem heraus ich zu wirken strebe, ist nicht von dieser Welt.

Das Ideal als Wirklichkeit

Und dennoch ist das reine Ideal der Waldorfpädagogik nicht weltfremd. Denn dieses reine Ideal ist im Grunde das Wesen des Kindes selbst. In ihm allein sind die Zukunftskräfte zu finden, die der Welt überhaupt eine Zukunft ermöglichen.

Die Welt des Ideals, die Welt des Geistes – sie ist „weltfremd“, denn sie ist nicht von dieser Welt, aber sie ist zugleich absolut nicht weltfremd, denn in ihr allein liegt die Zukunft der Welt. Und sie tritt ganz und gar in die Welt ein, wenn Menschen aus der Kraft des Ideals heraus zu wirken beginnen. Dann sind Ideal und Wirklichkeit bzw. Welt kein Widerspruch mehr – dann ist das Ideal eine Wirk-lichkeit.

Der Mensch selbst ist ein geistiges Wesen. Der Mensch selbst ist „nicht von dieser Welt“, ist „weltfremd“ – aber er verbindet das Geistige mit dem Irdischen: Das Geistige, das wahrhaft Moralische, auf Erden Wirklichkeit werden zu lassen, das ist die Aufgabe und Fähigkeit des sich selbst verstehenden Menschen.

Diese Aufgabe vor allem muss der Waldorflehrer tief ernst nehmen, muss sie in sich selbst zu verwirklichen suchen, wenn er seiner Berufung gerecht werden will: Dem Wesen des werdenden Menschen die Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

Der Entwurf einer Lehrerausbildung von Mieke Mosmuller ist kein „weltfremdes Ideal“, er hat ganz und gar das Wesen des Kindes im Blick. Wer dies nicht erleben kann, ist vielmehr umgekehrt schon zu sehr Bürger einer idealfremden Welt geworden.