Waldorfschule heute

"Und Ihr, sehr verehrte Lehrer, die Ihr diese Arbeit übernommen habt, die Ihr selbst eingeführt worden seid in den Geist, der diese Schule beseelen soll, Ihr wißt ja, welch tiefe Verantwortung Euch damit auferlegt ist, und ich richte die Bitte an Sie alle, die Sie mitwirken werden als Lehrkräfte an der Waldorfschule: seien Sie sich mit mir voll bewußt der außerordentlichen Schwere der Verantwortung und hören Sie nie auf, diese Verantwortung ebenso tief wie ich jederzeit zu verspüren."
Rudolf Steiner, 7.9.1919, GA 298, S. 20, Worte zur Eröffnung der Waldorfschule.

19.08.2009

"90 Jahre Zukunft"?!

In diesem Herbst 2009 feiert die Waldorfbewegung "90 Jahre Zukunft". Eine kurze Betrachtung über Anspruch und Wirklichkeit. | PDF


In diesem Herbst 2009 feiert die Waldorfbewegung ein Jubiläum. Der Bund der Waldorfschulen veranstaltet am 23. Oktober eine Tagung mit dem Titel "90 Jahre Zukunft". Was für ein Anspruch!

Zunächst scheint die Waldorfbewegung tatsächlich eine "Erfolgsstory" zu sein: Heute gibt es über 200 Waldorfschulen in Deutschland, weltweit ist es die größte Bewegung freier Schulformen. Aus den sehr konzentrierten Lehrplanempfehlungen Rudolf Steiners ist ein "Lehrplan" von 600 Seiten entstanden, und gerade 2009 ist auch ein 400-seitiges Kompendium erschienen, das minutiös die (potentiellen) Kompetenzen der Waldorfschüler beschreibt. Etliche berühmte Persönlichkeiten besuchten eine Waldorfschule oder schick(t)en ihre Kinder auf eine solche; das zurückblickende Urteil ehemaliger Waldorfschüler war in einer deutschen Absolventenstudie überwiegend positiv. Auf regelmäßigen Delegiertentagungen, Konferenzen, Fortbildungen usw. bleibt die Bewegung in Kontakt und bildet sich weiter. Ein eigener Waldorf-Abschluss ist in Arbeit.

Lauter "Erfolgsmeldungen" – die eine perfekte (Selbst-)Illusion erzeugen.

Denn was hat ein Lehrplan für einen Sinn, wenn er nicht verwirklicht wird – oder nur ganz abstrakt? Was soll ein 400-Seiten-Werk über Kompetenzen, in dem jeglicher Geist getötet ist? Was besagt das Urteil ehemaliger Schüler (selbst wenn es überwiegend positiver als in Staatsschulen ist) über die Frage, ob das Wesen der Waldorfpädagogik verwirklicht wurde? Und was bedeuten zahllose Delegiertentagungen etc., wenn z.B. während einer Tagung über die Frage der Meditation und Selbsterziehung des Lehrers (Herbst 2008) entweder vollkommen am Thema vorbeigeredet wird oder sich eine große Leere und Ratlosigkeit offenbart?

Der wirkliche, erlebende Blick in die Realität zeigt, dass die Waldorfbewegung eine grandiose Illusion aufgebaut hat und sich immer wieder erfolgreich über die Frage nach dem Wesen der Waldorfpädagogik hinwegtäuscht und hinwegredet. Die bloßen abstrakten Tatsachen besagen nämlich überhaupt nichts. Weder die Existenz eines detaillierten Lehrplanes, noch die eines Kompetenz-Kompendiums, noch die Existenz von über 200 "Waldorfschulen" oder so-und-so-vielen jährlichen Tagungen.

Die Wirklichkeit findet sich erst in der Frage, wie die Waldorfpädagogik an den einzelnen Schulen lebt – ob sie überhaupt lebt. Das muss man empfinden lernen – erst dann kommt man weg von der furchtbaren Abstraktion und Selbsttäuschung. Denn all das Genannte – die Bücher, die Absolventenstudien, die Tagungen usw. – ist zunächst nur Abstraktion und Selbsttäuschung über die eigentliche Frage.

Die vergessene Frage

Und diese Selbsttäuschung (und Täuschung anderer) setzt sich fort in dem Titel der Jubiläumstagung: "90 Jahre Zukunft". Sie setzt sich fort in dem Untertitel, der Frage: "Wie bleibt Waldorfpädagogik zeitgemäß?". Selbsttäuschung besteht darin, dass die eigentlichen Fragen nicht gestellt werden. Dass vielmehr immer schon die (falschen) Antworten vorausgesetzt werden.

Die eigentliche Frage ist nicht: "Wie bleibt Waldorfpädagogik zeitgemäß?", sondern: "Ist das, was wir tun, eigentlich schon Waldorfpädagogik?" oder: "Wir wird unsere Pädagogik zu Waldorfpädagogik?" Das ist die wahre Frage, die Frage der Selbsterkenntnis, auf die es vor allem und immer ankommt.

Und genau dies wird vorausgesetzt – dass das, was man tut, "natürlich" Waldorfpädagogik sei. Es geht also von vornherein nur um die zweiten und dritten Fragen: "Wie können wir die Waldorfpädagogik weiter verbessern, entwickeln, voranbringen?".

Indem man die erste Frage "vergisst", ist die Illusion und Täuschung bereits perfekt. Man setzt voraus, was nie vorausgesetzt werden dürfte, sondern immer die wichtigste Frage bleiben müsste. Da man sie aber nicht stellt, bauen alle Bücher, Tagungen und Konferenzen mit am Lügengebäude – unter dem dann die essentielle Frage erst recht immer mehr begraben wird.

Schulen, in denen das Kollegium nicht von einer tiefen Liebe zur Anthroposophie beseelt ist, sind eben keine Waldorfschulen – und in ihnen kann sich keine Waldorfpädagogik finden. Ist die erste Voraussetzung nicht da – die Liebe zu wahrer Geisteswissenschaft, zur Weisheit des Menschen, zur Selbsterziehung, zu einem "Mit-dem-Geiste-ernst-machen" –, dann fehlt auch alles an tieferer Gesinnung des Waldorflehrers, dessen verschiedene Aspekte Rudolf Steiner immer wieder beschrieben hat.

Dies ist die notwendige Grundlage der Waldorfpädagogik – nicht irgendein Lehrplan, nicht irgendeine Methodik.

Waldorfpädagogik und Waldorfschulen existieren heute also (noch) gar nicht – und die "Festtagung" zum 90-jährigen „Jubiläum“ täuscht über diese Tatsache perfekt hinweg.

"90 Jahre Zukunft" – welch eine maßlos überhöhte Formulierung! Man muss vielmehr sagen: Jahrzehntelang wurde immer wieder – und immer erfolgreicher – die eigentliche Frage verdrängt, vergessen, vergraben. Und so liegt in dem Titel der Tagung dann doch eine unbeabsichtigte Wahrheit: Die Waldorfpädagogik ist heute ganz und gar ein Zukunftsimpuls, ist noch vollkommen unverwirklicht. Was heute an den "Waldorfschulen" genannten Einrichtungen geschieht, hat mit dem wesenhaften Ideal der Waldorfpädagogik nichts mehr zu tun.

90 Jahre "Waldorfpädagogik" – 90 Jahre uneingelöste, unerlöste Zukunft...