Waldorfpädagogik und Christusgeist

Worte Rudolf Steiners in der ersten Waldorfschule und aus zwei weiteren Vorträgen.

[...] Es ist im Grunde genommen der Geist des Christentums, der durch unsere Räume weht, der, von jedem Lehrer ausgehend, zu jedem Kinde hingeht, auch wenn etwas scheinbar von der Religion Fernstehendes gelehrt wird, wie zum Beispiel Rechnen. Hier ist es immer der Geist des Christus, der, von dem Lehrer ausgehend, in die Herzen der Kinder einziehen soll, dieser Geist, der von Liebe, von wahrer Menschenliebe durchweht ist. Darum möchte ich, daß ihr Kinder empfindet, wie ihr nicht nur etwas gelernt habt, sondern auch nach und nach hier empfinden gelernt habt, was die Liebe des einen zum anderen ist. Und so möchte ich, daß, wenn ihr jetzt in die Ferien geht, ihr daran denkt: allen Mitschülern gegenüber empfinde ich im Herzen das eine Wort: Auf herzliches Wiedersehen! Denkt aneinander mit diesem schönen Wort: Auf herzliches Wiedersehen dann, wenn wir gestärkt wiederum hier hereinkommen in diese Räume, wenn wir wiederum mit unseren Lehrern zusammenarbeiten können an dem, daß wir tüchtige Menschen werden.
24.7.1920, GA 298, S. 62, Abschlussfeier des ersten Schuljahres

[...] Nun, ihr kommt alle her von einer Zeit, in der jeder von euch sich erinnern müßte daran, daß es Wohltäter gibt unter den Menschen, daß schließlich die Natur auch unsere Wohltäterin ist. Aber die letzten Tage, die haben euch erinnert an den größten Wohltäter der Menschheit, haben euch erinnern müssen an denjenigen, der vor fast zweitausend Jahren durch Leiden und Tod aus Liebe zur Menschheit gegangen ist, der der Menschheit durch seine Auferstehung den Geist gegeben hat. [...]
Aber indem wir zu ihm aufblicken, indem wir fühlen, was der Christus ist, lernen wir, was andere Wohltäter sein können. Und seht ihr, eure Lehrer werden so gute Lehrer sein zu euch, weil sie sich bemüht haben, den Christus kennenzulernen, weil sie sich bemüht haben, zur Frühlings-Osterzeit in der richtigen Weise ihre Gefühle zu dem Christus hinlenken zu können. Das ist dasjenige, was euch aber von Anfang an vorschweben soll, daß eure Lehrer erfüllt sind von der Kraft, die ausgeht von diesem größten Wohltäter der Menschheit.
Und das ist es, was ich weiß, daß ich es nicht brauche zu sagen in irgendeiner auffordernden Weise, sondern nur auszusprechen brauche als eine Tatsache, daß Ihr, meine lieben Lehrer, diese Kinder heranzieht und unterrichtet in dem Sinne, daß sie von Euch wirklich ihr ganzes Leben hindurch empfinden werden, Ihr seid diejenigen Wohltäter, die das selbst sein können durch die Kraft, welche in Ihre Herzen dringt von dem Mysterium von Golgatha.
24.4.1923, GA 298, S. 169, Feier zum Beginn des fünften Schuljahres

Warum eine anthroposophische Pädagogik?

Es gibt im Grunde genommen auf keiner Stufe eine andere Erziehung als Selbsterziehung. Aus tieferen Gründen heraus wird ja das insbesondere durch die Anthroposophie eingesehen, die von wiederholten Erdenleben ein wirklich forschungsgemäßes Bewußtsein hat. Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muß.
Diese richtige Stellung des Erziehenden und Lehrenden zum Kinde kann man durch nichts anderes sich erringen als immer mehr und mehr durch die Ausbildung dieses Bewußtseins, daß es eben so ist. Für die Menschen im allgemeinen mag es verschiedene Gebete geben; für den Lehrer gibt es außerdem noch dieses Gebet: "Lieber Gott, mache, daß ich mich in bezug auf meine persönlichen Ambitionen ganz auslöschen kann." Und: "Christus, mache besonders an mir wahr den paulinischen Ausspruch: Nicht ich, sondern der Christus in mir." – Wie gesagt, für die anderen Menschen mag es mancherlei Gebete geben, für den Lehrer gibt es gerade dieses Gebet zu dem Gott im allgemeinen und zu dem Christus im besonderen, damit in ihm der richtige heilige Geist der wahren Erziehung und des wahren Unterrichts walten kann.
20.4.1923, GA 306, S. 131f.

[...] Dasjenige, was die Menschen begreifen sollen: daß das Christus-Ereignis so in der irdischen Weltgeschichte drinnensteht, daß da ein Geistiges geistig beurteilt werden muß, daß man nicht die Auferstehung nach dem Sinne der Naturwissenschaft verstehen kann, sondern nur nach dem Sinne einer Geisteswissenschaft, diese Einsicht haben die Menschen verloren, haben auch die Theologen verloren; sie sprechen nur von dem Menschen Jesus und können nicht mehr zu einem lebendigen Begreifen von dem lebendig auferstandenen Christus gelangen [...]
Wenn es uns aber nicht gelingt, ungefähr zwischen dem siebenten und vierzehnten Jahre in dem Menschen durch jene Pädagogik, von der in der Anthroposophie gesprochen wird, den lebendigen Christus innerlich zu beleben, dann tritt der Mensch in das spätere Leben hinaus, ohne mehr sich ein Verständnis für diesen lebendigen Christus erwerben zu können. Dann muß er entweder ein Leugner des Christus werden oder ein solcher, der innerlich nicht ganz wahr ist, indem er den Christus traditionell festhält, aber eigentlich gar nicht die inneren Seelenmittel hat, um zu begreifen, wie durch das, daß der Christus auferstanden ist, indem der Mensch es miterlebt, indem es der Erzieher mit dem Kinde miterlebt, wie da der lebendige Christus im Herzen, in der Seele erweckt wird. Da kann er erweckt werden, und dadurch kann der Seele die Unsterblichkeit durch ihre Verbindung mit dem Christus gegeben werden. [...]
Wollen wir herankommen an den lebendigen Menschen, so müssen wir die Kräfte zu diesem Herankommen suchen in der lebendigen Geistigkeit selbst. Unserer gegenwärtigen Zivilisation fehlt aber die Geistigkeit. [...] Wir wollen pädagogische Kunst auf Seelenkunde und Ethik gründen und haben nur eine Seelenkunde ohne Seele, eine Ethik ohne göttlich-geistige Verbindlichkeit. [...]
Will man den Christus erkennen, will man aus der Christus-Kraft heraus auch in der Schule wirken, dann braucht man [...] die lebendige Einsicht in das Leben und Wirken des Seelischen, dann braucht man die lebendige Einsicht in das Weben und Wirken der ethischen Kräfte in dem Sinne, wie die Naturkräfte wirken, als Realitäten, nicht bloß als konventionelle Gebote, denen man sich fügt aus Gewohnheit, sondern als Kräfte, in denen man leben will, weil man weiß, daß man stirbt im Geiste, wenn man nicht darinnen lebt, so wie man stirbt im Leibe, wenn einem das Blut erstarrt.
Diese Anschauungen in aller Lebendigkeit, sie müssen eben Lebensgut werden gerade für die pädagogische Kunst. Sie müssen als etwas, was belebt, was innerlich bewegt, was aus einem Toten ein Lebendiges bildet, dasjenige durchdringen, was der Lehrer in seinem Gemüte  zu tragen hat, wenn er erziehen, wenn er unterrichten will.
Wir sprechen heute von der Seele, ob wir Gebildete oder Ungebildete sind, in toten Worten, das heißt, wir leben nicht in dem seelischen Leben, wir plätschern herum um das Kind, denn wir haben keinen Zugang zu seiner Seele. Wir leben heute in den toten Worten, wenn wir vom Geiste reden. [...] Aber das Geistige müssen wir in Lebendigkeit ergreifen, wenn wir es in Kunst überführen sollen, wenn es nicht bloß in abstrakten Gedanken erfasst werden soll, die keine Wirkungskraft haben.
1.7.1923, GA 304a, S. 86ff.