17.06.2009

Zwei Arten von Waldorfpädagogik – oder: Trugbild und Wesen

Vom Geisteskampf um ein Buch über das Wesen der Waldorfpädagogik.

„Der Mensch in der Welt wirkt nicht nur durch dasjenige, was er tut, sondern vor allem durch dasjenige, was er ist.“ (Rudolf Steiner). | PDF

Zwei Arten von Anthroposophie...

Durch mein Eintreten für das wunderbare Buch „Eine Klasse voller Engel. Über die Erziehungskunst“ wurde mir nochmals schlagartig klarer, dass es zwei Arten von „Anthroposophie“ und „Anthroposophen“ gibt.

Die eine Art „Anthroposophen“ sind im wesentlichen mit dem Sein und Werden der heutigen „Anthroposophie“ zufrieden. Sie haben ein gutes Gefühl damit, dass sie immer weiter an der „Anthroposophie“ arbeiten, die „Tochterbewegungen“ weiterentwickeln usw.

Diese Gruppe bildet im wesentlichen das Netz der etablierten anthroposophischen Bewegung und ihrer Tochterbewegungen. Es gibt feste Strukturen, Institutionen, aktiv tätige Menschen, Tagungen und Seminare, die Weihnachtstagung ist nicht „verduftet“, alles ist in Ordnung, auch wenn es natürlich immer noch besser sein könnte – aber daran wird gearbeitet...

Die andere Art von Anthroposophen hat ein ganz anderes Empfinden und Erkennen: Ihre Liebe zur Anthroposophie geht so tief, dass sie empfinden und sehen, wie das Wesen der Anthroposophie überall noch nicht verwirklicht wird – ja, wie es durch diese tätige Nicht-Verwirklichung noch nicht einmal berührt wird. Es gibt tatsächlich zwei Arten von Anthroposophie... Es sind die wahre, wesenhafte Anthroposophia und ihr heutiges, äußeres Scheinbild bzw. Trugbild.

Diese Anthroposophen, die die Anthroposophie wirklich lieben, blicken ehrfürchtig auf das, was sie nur ansatzweise erahnen, ansatzweise erkennen, denn Anthroposophia ist immer viel größer... Diese Anthroposophen sind die „Stillen im Lande“, jene, die sich in ihrem wahrhaftigen Ernst und ihrer tiefen Liebe für die Anthroposophie in allen etablierten Strukturen zurückgestoßen finden – oder selbst gar kein Bedürfnis haben, sich auf dieses äußerliche Scheinbild einzulassen (obwohl sie im Leben ebenso tätig und aktiv sind!).

Wenn diese Anthroposophen gegenüber den ersteren von ihrem Erleben der Anthroposophie sprechen, werden sie nicht verstanden. Man antwortet ihnen: „Was denn? Wir tun doch schon alles, was wir tun können... Schließt euch doch uns an...“

Der Unterschied zwischen beiden ist nicht die Frage, ob „das Glas halbvoll oder halbleer“ ist – es ist die Frage, ob man überhaupt von einem Glas oder einem ganzen Kosmos spricht... Man spricht von völlig Verschiedenem!

... und Waldorfpädagogik

Welche Anthroposophie die wahre ist, offenbart sich dann, wenn beide aufeinandertreffen.

Dies geschah, als das Buch „Eine Klasse voller Engel“ erschien und von mir der Schulbewegung empfohlen wurde. Die erste Art von „Anthroposophen“ bzw. „Waldorfpädagogen“ sieht in dem Buch eine üble, „persönliche Kritik“ an der Waldorfbewegung und im Positiven allenfalls ein paar „gute Ansätze und Ideen“. Die zweite Art sieht in dem Buch die Entfaltung der Idee und des Wesens der Waldorfpädagogik... Und die Kritik erkennen diese letzteren Anthroposophen als Beschreibung von Symptomen, die ganz klar zeigen, wo überall die Anthroposophie als Grundlage der Waldorfpädagogik vollkommen fehlt – wo man also dem äußeren Schein nach (Lehrplan, Methodik usw.) von „Waldorfpädagogik“ sprechen kann, aber ihre Grundlage, ihr Wesen überhaupt nicht da ist...

Es ist keine Frage, dass „jeder sich nach besten Kräften bemüht“ – die Frage ist, um was man sich bemüht. Und wieder sind wir bei den zwei verschiedenen Arten von Anthroposophie oder auch Waldorfpädagogik. Die eine erschöpft sich im Streben nach einer Verbesserung der Qualität durch „Qualitätssicherung“, im Entwickeln von „neuen Abschlüssen“, in Neuerungen wie „Bewegtes Klassenzimmer“ oder Portfolio, im gelegentlichen Arbeiten an Texten Rudolf Steiners (bzw. Sekundärliteratur). Die andere sieht das Wesen der Waldorfpädagogik in einer Vertiefung der Anthroposophie, des Verständnisses für das heranwachsende Kind, des Mitempfinden- und Mitleben-Könnens mit dem Kind, des eigenen ganzen Menschseins. Für diese Waldorfpädagogen ist das folgende Zitat ein wirklicher, fortwährender Leitsatz:

„Sie werden nicht gute Erzieher ... wenn Sie bloß auf dasjenige sehen werden, was Sie tun ... Der Mensch in der Welt wirkt nicht nur durch dasjenige, was er tut, sondern vor allem durch dasjenige, was er ist.“


Es ist klar, dass das volle Ideal nie Realität werden kann. Aber es kommt auf das Streben an – und auf die Erkenntnis, wo das Ideal nicht verwirklicht ist. Der wahre Waldorflehrer wird an den Unvollkommenheiten immer leiden – er ist sein eigener schärfster Kritiker. Wer aber die Kritik anderer als zu scharf empfindet oder sie sogar als ganz unberechtigt zurückweist, zeigt nur, dass er eben von einer ganz anderen „Waldorfpädagogik“ spricht.

Auch diese Menschen können ihre „Waldorfpädagogik“ lieben – aber es geht ihnen weniger um die Anthroposophie als um den Status Quo und eine graduelle Verbesserung. Man liebt den Status Quo, sich selbst, sein Ringen, die „Bewegung“... Wenn dann jemand mit Kritik kommt, dann gilt er als Querulant, denn „es ist doch grundsätzlich alles in Ordnung“? Es gibt vielleicht einen Lehrermangel, viele Lehrer interessieren sich gar nicht für Anthroposophie, im Kollegium wird vielleicht etwas wenig (oder gar keine) Grundlagenarbeit gemacht, mit der „Allgemeinen Menschenkunde“ kann man eigentlich fast nichts anfangen usw. – aber eigentlich ist doch alles in Ordnung, und an der „ständigen Verbesserung“ wird gearbeitet...

Das also ist das positive (Selbst-)Bild der ersten Art von Menschen. Wenn die anderen Menschen dann ihr Ideal der Waldorfpädagogik schildern und im Kontrast dazu Beispiele, wo dieses Ideal in schlimmer Weise verletzt wird, dann wird ihnen vorgeworfen, sie würden „persönliche Kritik“ üben, eine „verbitterte Grundstimmung“ in sich tragen usw. – kurz: man blickt auf ihre „Kritik“ und stößt sie (mitsamt Kritik und Ideal und allem sonstigen) völlig zurück. Ihre Kritik will immer der Sache dienen, sie aber werden menschlich-persönlich abgewehrt. Man wirft ihnen vor, immer nur zu kritisieren, aber ihr Ideal interessiert entweder überhaupt nicht oder man sieht es nicht einmal. Man wirft ihnen mangelnde Sozialfähigkeit vor – aber man selbst will mit ihnen nichts zu tun haben...!

Abschluss

Wie gravierend die heutigen Probleme sind und wie real die Tatsache der „zwei Arten von Anthroposophie bzw. Waldorfpädagogik“ ist, zeigt sich beispielhaft – wiederum als Symptom – an der Rückmeldung eines Waldorflehrers, die ich erhielt:

„Vielen Dank für die Buchempfehlung "Eine Klasse..." von Mieke Mosmuller! Ich habe sie also erhalten und mich sehr gefreut, dass Frau Mosmuller nun auch direkt der Waldorfbewegung wieder die Gelegenheit gibt, sich auf die eigentliche "Quelle" zu besinnen.
Diese Besinnung wird immer notwendiger, wie ich selbst ja gerade ganz konkret in der letzten Zeit erfahren habe. Hätte ich mein "Köpfchen" gebeugt und hätte ich brav gewisse aus meiner Sicht absurde Entwicklungen mitgemacht, dann wäre auch ich jetzt noch ein "lieber Kollege". Doch es ist schon alles gut, denn wie sich das Kollegium fast geschlossen nach meinem Weggang benommen hat, das bestätigt mich in meinem Entschluss. Immerhin gab es kräftig Rückendeckung von Schüler- und Elternseite, und zwei weitere Kolleginnen haben (mehr oder weniger aus Solidarität) ebenfalls gekündigt...“