01.07.2009

Einleitung

In meiner Buchbesprechung schrieb ich:

Es gibt Hunderte von Büchern über die Waldorfpädagogik. Vor diesem einen jedoch steht man staunend, nirgendwo habe ich zuvor ein solches gefunden. Man liest und erlebt eine wesenhafte Beschreibung von etwas; das Erleben des Lesers wird angesprochen, aufgerufen. Ganz real entfaltet sich ein Ideal – und im Leser beginnt eine Begeisterung zu erwachen, die nur vergleichbar ist mit jener, welche man empfinden kann, wenn man die pädagogischen Schriften von Rudolf Steiner selbst liest, als wenn es das erste Mal wäre...


Mittlerweile hat sich gezeigt, dass es durchaus nicht jedem Leser so geht... Es ist vielmehr so, dass die Reaktionen auf dieses Buch nicht gegensätzlicher sein könnten!

Was sind die Einwände?

- Das Ideal des Buches sei abstrakt und weltfremd.
- Die Autorin sei ja überhaupt keine Waldorflehrerin.
- Es gebe gute Waldorflehrer, die überhaupt keine Anthroposophen sind.
- Das Ideal sei ja gut und schön, aber die Kritik sei absolut unmöglich.
- Die Autorin tue so, als wüsste sie alleine, was richtig ist.
- Kritisieren sei immer einfach.
- Die Kritik sei lieblos, einseitig und destruktiv.
- Die Kritik mache eine bestimmte Schule unmöglich.
- Die Kritik spiele unmittelbar den Gegnern in die Hände.
- Trotz des Substanzverlustes in der Waldorfbewegung müsse man die Situation nehmen wie sie ist.
- Man könne nur vom Positiven ausgehen und vorhandene Ansätze stärken.


Wenn man diese Einwände auf sich wirken lässt, kann man geradezu zweifeln, ob man überhaupt von demselben Buch spricht... Es ist dasselbe Buch, aber die Gedanken darüber gehen bei verschiedenen Menschen diametral auseinander, und die Empfindungen reichen von tiefer Begeisterung bis zu tief antipathischer Verurteilung und völliger Ablehnung.

Im Folgenden gehe ich auf die genannten Einwände der Reihe nach ein.

Abstraktes, weltfremdes Ideal?

Das Ideal des Buches ist das Wesen der Waldorfpädagogik – eine lebendige, tiefe, reiche Erkenntnis des werdenden Menschen, aus der dann die Intuitionen für das Handeln des Erziehers quellen.

Der Vorwurf der Abstraktheit lässt sich nicht einmal im Ansatz aufrechterhalten, wenn man das Buch wirklich gelesen hat. Die Autorin geht immer wieder bis ins Einzelne auf ganz konkrete Fragen ein, die mit dem Wesen dieses Ideals zusammenhängen. Gerade diese Entfaltung des Ideals macht es so tief erlebbar...

Der Vorwurf der Weltfremdheit dürfte sich vor allem auf den ersten Teil des Buches beziehen, in dem eine völlig erneuerte Lehrerbildung entwickelt wird. In dieser entwickeln die Studenten echte Ehrfurcht vor ihrer Aufgabe und dem Wesen des Kindes, einen kräftigen guten Willen und ein tiefes Verständnis des physischen Leibes, des Lebens, der Seele und des Geistes – und daneben und damit einhergehend ihre Phantasie, die Methodik, die Didaktik...

Wer dies als Grundlage leugnet oder heute für unmöglich bzw. weltfremd erklärt, der leugnet das Wesen der Waldorfpädagogik – oder er glaubt, dass es mit einigen Seminarstunden über die „Allgemeine Menschenkunde“ getan ist...

Das eben ist es gerade, was Mieke Mosmuller kritisiert: In der heutigen Ausbildung wird das „anthroposophische Menschenverständnis“ durch die „Menschenkunde“ und/oder die „Theosophie“ von außen an die Studenten herangebracht. Dieses „von außen“ ist aber die Grundlage aller Dogmatik, und gerade hier liegt die Abstraktion – nicht bei Mieke Mosmuller.

Wenn man die angedeuteten Grundlagen ablehnt, möge man auch Rudolf Steiner selbst und seine eigenen Worte ablehnen:

Es gibt nur eine Stimmung gegenüber dem Kinde, welche die richtigen Impulse zum Erziehen und Unterrichten gibt; und das ist gerade dem Kinde gegenüber die religiöse Stimmung.
Rudolf Steiner, 19.8.1922, GA 305, S. 71f.


Das Buch „Eine Klasse voller Engel“ entfaltet das wunderbare Ideal der Waldorfpädagogik – und entwickelt eine erneuerte Ausbildung, in der es vor allem um dieses Ideal und seine Lebensgrundlagen geht. Dieses Ideal ist das Konkreteste, was es gibt. Waldorflehrer wird man in dem Maße, in dem dieses Ideal im eigenen Wesen zu einer lebendigen, wirkenden Realität zu werden beginnt. Dann bilden Ideal und Wirklichkeit eine Einheit – und das Wesen der Waldorfpädagogik tritt in die Erscheinung...

[siehe auch den Aufsatz >> Weltfremde Ideale?!].

Keine Kompetenz, sich zu äußern?

Allein schon durch das zuvor Gesagte zeigt sich die Haltlosigkeit dieses nächsten Vorwurfes. Wenn ein Mensch das Ideal der Waldorfpädagogik so tief fasst wie Mieke Mosmuller, dann ist das Gerede von „fehlender Kompetenz“ nichts weiter als ein Totschlagargument – und wirft ein bezeichnendes Licht auf die Menschen, die es äußern.

Warum sollte eine auf dem inneren Schulungsweg weit fortgeschrittene Anthroposophin nicht über die Waldorfpädagogik schreiben können? Etwa weil sie keine Waldorflehrerin ist? War Rudolf Steiner Waldorflehrer? Und wie wird man Waldorflehrer? Indem man eine Ausbildung macht? Indem man Kinder unterrichtet? Nein, sondern der Mensch wird ein guter Erzieher vor allem durch dasjenige, was er ist.

Mieke Mosmuller muss nicht den Beruf des Waldorflehrers ergriffen und praktiziert haben, um über das Wesen der Waldorfpädagogik schreiben zu können. Das Buch selbst ist der schönste Beweis dieser Tatsache.

Waldorflehrer und Anthroposophie?

Mit Blick auf das angeblich „weltfremde Ideal“ wird auch damit argumentiert, dass es viele gute Waldorflehrer gebe, die überhaupt keine Anthroposophen seien.

Was aber versteht man unter „guten Waldorflehrern“? Ein begeisterter Lehrer, der seine Kinder liebt und intuitiv erkennt, was sie gerade brauchen, ist – wenn es wirklich so ist – in der Tat ein guter Waldorflehrer. Man könnte auch sagen: Ein pädagogisches Naturtalent. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass vielen Lehrern entweder die Begeisterung oder die Liebe oder die Erkenntnis fehlt – und dass es eine andere Ausbildung bräuchte, in der es gerade um diese Grundlagen geht!

Und noch einmal sei wiederholt, dass gerade in der von Mieke Mosmuller entworfenen Lehrerbildung keine „Anthroposophen“ ausgebildet werden sollen. Doch gerade hier entwickeln die werdenden Lehrer so viel guten Willen, Begeisterung und auch lebendige Erkenntnis, dass sie in diesem Sinne zugleich wahre Waldorflehrer und Anthroposophen werden, ohne dass sie sich mit dem letzteren Namen bezeichnen müssen, der heute so missverstanden und auch missbraucht ist...

Die Kritik – absolut „unmöglich“?

Teilweise wird das Ideal des Buches anerkannt, aber man stößt sich an der Kritik, die das Buch auch enthält. Warum aber sollte man keine Kritik üben dürfen? Heute ist „Kritikfähigkeit“ als Kompetenz in aller Munde – aber es scheint doch schlecht um sie bestellt zu sein. Schon immer wurden unliebsame Wahrheiten mit allen möglichen Mitteln unter Verschluss gehalten – oder verketzert.

Immer wieder greift in Bezug auf unliebsame Wahrheiten ein kollektives Verhalten, dem die Regel zugrunde liegt, dass „nicht sein kann, was nicht sein darf“. Es scheint, als glaube man, dass das Problem schon dadurch verschwindet, dass man nicht darüber spricht...

[Siehe auch den Aufastz: Vom rechten Verständnis von „Eine Klasse voller Engel“].

Weiß etwa nur die Autorin, was richtig ist?

Das ist natürlich ein höchst willkommenes „Argument“ gegen jeden kräftig geäußerten Gedanken... Doch es besagt überhaupt nichts!

Wenn es jemandem wirklich um die Wahrheit geht, sollte er seine persönlichen Antipathien tunlichst ausschalten. Reagiert man schon antipathisch, bloß weil jemand auf eine Art auftritt, als sei von ihm die Wahrheit beschrieben, gehört man eben nicht zu den Wahrheitssuchern, denn was wäre, wenn die Autorin Recht hätte?

Mieke Mosmuller weist darauf hin, dass die heutigen Ausbildungen die Ausbildung grundlegender Fähigkeiten vernachlässigen bzw. mit falschen Ansätzen verfolgen. Diesen Gedanken kann man ernst nehmen oder nicht. Aus ihm folgt jedoch zwangsläufig, dass die heute existierenden Ausbildungen einen falschen Ansatz gewählt hätten, denn tatsächlich gleicht keiner auch nur ansatzweise dem, was Mieke Mosmuller auf sehr klare und völlig nachvollziehbare Weise entwickelt.

Es gibt viele Menschen, die erkennen, dass Mieke Mosmuller Recht hat. Wenn man dies jedoch nicht sieht und nicht sehen will (und auch all jene „übersieht“, die ihr zustimmen), dann allerdings hätte sie leider „allein Recht“. Das aber wäre/ist erst der eigentliche Skandal, denn es zeigt, dass man die Wahrheit gar nicht haben will... Man lehnt eine Wahrheit ab, macht weiter wie bisher und fragt verächtlich: „Sollte sie etwa allein Recht haben?“ Dafür gibt es in der Geschichte unzählige Beispiele: Kopernikus, Galilei, Goethe, Rudolf Steiner...

„Kritisieren ist einfach...“

Natürlich – auch dies ist eine Binsenweisheit. Man übersieht aber auch hier, dass dieses Argument auf das Buch von Mieke Mosmuller kaum anwendbar ist. Es trifft jene, die immer bloß kritisieren, ohne zu sagen, wie man es besser machen kann. Mieke Mosmuller dagegen entfaltet ein ganzes Konzept einer völlig neuen Lehrerbildung und gibt viele weitere Hinweise. Gegen diese Tatsache kann man sich nur wehren, indem man sie vom Tisch wischt („weltfremd“).

Tatsache ist, dass die eigentliche Kritik an der heutigen Waldorfpädagogik nur einen kleineren Teil des Buches ausmacht – und dass das Buch gerade dann in gewisser Weise weltfremd oder zumindest abstrakt geblieben wäre, wenn es diese Realität nicht auch einbezöge!

Mieke Mosmuller kritisiert also nicht nur und nicht einmal in erster Linie – sie entwirft das konkrete Ideal der Waldorfpädagogik, und die Kritik beleuchtet nur die Tatsache, wie wenig dieses heute verwirklicht ist. Wie schwer dies trotz allem ist, weiß die Autorin sicher am besten – entscheidend aber ist der Wille, es überhaupt zu tun...

Auch der Begriff des „Kritisierens“ wäre einmal grundsätzlich zu hinterfragen. Die Autorin schildert im mittleren Teil Zustände und Ereignisse, die dem Wesen der Waldorfpädagogik tiefgreifend widersprechen. Diese Zustände und Vorkommnisse sind an sich – in ihrer Realität – eine scharfe Kritik am Bestehenden. Wenn man das In-Worte-Fassen dieser Tatsachen mit „Kritisieren ist einfach“ abtut, tut man der Waldorfpädagogik keinen Dienst – im Gegenteil, man verhindert das klare Bewusstsein über den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit.

Gerade den Gegnern des Buches wäre zu erwidern: „Kritisieren ist einfach“! Schwerer ist es, sich mit den realen Tatsachen und mit den Gedanken der Autorin auseinanderzusetzen. Das muss man wirklich wollen...

Persönliche, einseitige, destruktive Kritik?

Auch mit diesem Argument bleibt man selbst im Subjektiven. Wenn man der Autorin vorwirft, sie würde aus einer persönlichen Verbitterung o.ä. schreiben, nimmt man eben die Tatsachen nicht zur Kenntnis. Mieke Mosmuller schreibt aus dem unmittelbaren Erleben des Ideals und sie schildert auch das, was diesem Ideal widerspricht.

Die „Kritik“ ist letztlich nichts anderes als eine Beschreibung von Symptomen, die ganz klar zeigen, wo überall die Anthroposophie als Grundlage der Waldorfpädagogik vollkommen fehlt – wo man also dem äußeren Schein nach (Lehrplan, Methodik usw.) von „Waldorfpädagogik“ sprechen kann, wo aber ihre Grundlage, ihr Wesen überhaupt nicht da ist...

Warum empfindet man die Erwähnung gewisser Tatsachen in dem Buch als derart schlimm? Weil diese Tatsachen selbst schlimm sind. Dann aber sollte man nicht ihre Erwähnung verteufeln und an dieser Erwähnung leiden – sondern an den Tatsachen selbst!

Das Buch enthält zum Beispiel Rückblicke von sechs ehemaligen Waldorfschülern – die sehr differenziert sind, insgesamt aber sehr negativ. Wenn der Leser schon beim Lesen dieser Rückblicke leidet (von wegen: „destruktive Kritik“ o.ä.), wie schlimm muss die Sache dann erst als reale Biographie dieser sechs Schüler sein? Dass man beim Lesen an den „Schaden für die Waldorfbewegung“ denkt und nicht an jeden einzelnen dieser sechs Schüler, ist bereits ein Teil der „Krankheit“, die Mieke Mosmuller in ihrem Buch schildert.

Wenn man das Ideal der Waldorfpädagogik und die Kinder und jungen Menschen liebt, dann wird man selbst doch furchtbar (mit)leiden, wenn man miterlebt, dass ehemalige Schüler so auf ihre Schulzeit zurückblicken? Wenn man beim Lesen jedoch an etwas anderem mehr leidet, wäre das sehr bezeichnend...

Ein anderes Argument ist dann, die Kritik sei einseitig, die Autorin hätte überhaupt nicht das Positive geschildert. Das stimmt nicht. Es stimmt nicht einmal in Bezug auf diese sechs Rückblicke – diese sind im übrigen nur das Gegengewicht zu der großen Einseitigkeit, die in der Waldorfbewegung selbst zu finden ist. Denn dort wird ja doch immer wieder der Status Quo hingenommen und schöngeredet, ja es werden die eigenen Schwächen überhaupt nicht wahrgenommen! Ich frage mich, ob irgendein Lehrer weiß, dass in vielen jungen Menschen am Ende ein solches Erleben der Waldorfschulzeit zurückbleibt? Und selbst wenn es nur die Minderheit wäre, ist doch jedes einzelne dieser Schicksale eines zu viel!

Man kann größtes Verständnis für den einzelnen Lehrer und die größten Schwächen haben – und man sollte der Autorin dieses Verständnis unbedingt zutrauen –, doch wofür man kein Verständnis haben darf, ist, dass diese Dinge „normal“ sind, dass sie zugelassen werden, dass sie sich wiederholen, dass sie einen nicht wirklich kümmern, dass man also an diesen Dingen eben gerade nicht tief leidet.

Und was passiert stattdessen? Es gibt um das Buch einen Riesenaufruhr und man wirft der Autorin vor, dass sie von solchen Dingen schreibt und die schöne, erfolgreiche Waldorfpädagogik beschmutzt. Man macht aus ihr die „böse Kritikerin“ und verdreht so die Dinge um 180 Grad!

Das Verständnis für das individuelle menschliche Versagen, die mangelnden Kräfte usw. ist bei Mieke Mosmuller mit absoluter Sicherheit in voller Stärke da. Worüber sie in ihrem Buch schreibt, ist aber etwas anderes – es ist etwas, mit dem sich die Waldorfbewegung als ganze auseinandersetzen muss.

Und wenn man an die scharfe Kritik Rudolf Steiners denkt, die er auch gegenüber den ersten Waldorflehrern immer wieder äußern musste (musste!), dann hatte auch er innerlich immer das größte Verständnis für alles, was menschliche Schwäche ist. Aber um der Sache willen musste er ungeschminkt aussprechen, wie stark man gegen das Ideal, die Idee (gemäß der man doch handeln wollte) und die Kinder sündigte...

[Siehe auch den Aufastz: Vom rechten Verständnis von „Eine Klasse voller Engel“].

Kritik an einer bestimmten Schule und bestimmten Menschen?

Neben allen anderen Argumenten wird der Autorin auch vorgeworfen, sie schildere im Zusammenhang mit ihrer Kritik Geschehnisse an einer bestimmten Schule, gehe auf eine bestimmte Ausbildungsstätte ein, erwähne bestimmte Menschen...

Das ist ja heutzutage vielleicht sogar das gewichtigste Argument. Gerade in „anthroposophischen Zusammenhängen“ ist sogenannte „persönliche Kritik“ (also Kritik, die sich, selbst wenn sie objektiv ist, auf eine bestimmte Person bezieht) ein sehr großes Tabu. In allgemeiner Form kann man gerne alles sagen, doch sobald es konkret wird... Rudolf Steiner sagte zu dieser ganzen Frage einmal:

... müssen wir als höchstes, heiligstes Gut, das wir haben, immer die Wahrhaftigkeit pflegen, niemals Konzessionen machen, die gegen die Wahrheit verstoßen, denn an der Wahrheit darf sich der Esoteriker nie versündigen. Es ist schrecklich und schwerwiegend, wenn ein Esoteriker die Wahrheit um der Brüderlichkeit willen verdreht, wenn er, um einen Menschen nicht zu kränken, die Wahrheit auch nur im Geringsten trübt, denn er schadet auch dem betreffenden Menschen damit. ... Wenn wir auch die Taten eines Menschen verurteilen müssen, den Menschen selber sollen wir nicht kritisieren, sondern ihn lieben.
Rudolf Steiner, 20.9.1912, GA 264, S. 336.


Mieke Mosmuller hatte den Mut, die Wahrheit zu schildern, obwohl es ihr mit Sicherheit schwer fiel, das Licht der Wahrheit auf diese Weise auf konkrete Menschen, auf eine konkrete Schule fallen lassen zu müssen.

Wem es ebenso um die Wahrheit geht, der sollte an der Wahrheit nicht so leiden, dass er die „Kritikerin“ bekämpft oder beschimpft! Überhaupt ist doch die Frage: Wie sollte sich Mieke Mosmuller denn anders äußern, als dass sie Erfahrungen schildert, die sie als Mutter an der Waldorfschule machte, die ihre Kinder besuchten? Wenn sie in ihren Äußerungen ganz allgemein geblieben wäre, hätten dieselben Kritiker ihr sicher vorgeworfen, sie äußere „abstrakte Vorwürfe“, die sie doch bitte einmal genauer belegen möge...

Gefundenes Fressen für die Gegner?

Mit dem Argument, Mieke Mosmullers Buch spiele den Gegnern der Waldorfpädagogik in die Hände, sollte man sich eigentlich nicht ernsthaft auseinandersetzen müssen. Denn auch mit einem solchen Argument kann man alles bekämpfen, was auf notwendige Veränderungen hinweist. Dieses Argument zeigt sehr genau, wie ausgeprägt die Kritikunfähigkeit ist.

Wenn man der Meinung ist, die heutige Waldorfpädagogik sei gesund, sie ruhe stabil auf gesunden Grundlagen, dann kann man die Dinge sicherlich anders sehen. Wenn man jedoch sieht, wie die eigentlichen Grundlagen rasant wegbrechen bzw. schon lange nicht mehr da sind, dann ist man mit jedem Verschweigen der weit fortgeschrittenen Krankheit und ihrer Symptome sein eigener gefährlichster Gegner...

Was derzeit in der Waldorfbewegung stattfindet, ist ein kollektiver Selbstbetrug. Man will nicht wahrhaben, dass die innere Schulung des Lehrers die nicht hintergehbare Grundlage der wahren Waldorfpädagogik ist. Man will nicht wahrhaben, dass diese notwendige Grundlage nicht ausgebildet und nicht genährt wird. Dass dieses Buch, welches das Ideal der Waldorfpädagogik liebt, nun aus den eigenen Reihen bekämpft wird, zeigt, wie „ernst“ man dieses Ideal nimmt...

Die Situation nehmen wie sie ist?

Und dann gibt es jene Argumente, die zugeben, dass der Substanzverlust ja völlig unzweifelhaft sei, aber einwenden, dass man nun einmal mit der gegebenen Situation leben und dort ansetzen müsse.

Es ist absurd, extra darauf hinweisen zu müssen, dass Mieke Mosmuller nichts anderes tut. Der große Unterschied liegt jedoch darin, dass sie diese Situation nicht hinnimmt, wie sie ist. Und sie zeigt ganz konkrete Wege auf, wie die Situation grundlegend verändert werden könnte.

Es stellt sich hier also die Gretchenfrage: Will man die Situation überhaupt verändern? Hat man den Mut, dem Substanzverlust wirklich zu begegnen? Oder richtet man sich weiter im Gewordenen ein und bestätigt sich regelmäßig wiederkehrend, dass ja „jeder nur bei sich selbst anfangen“ könne? Und hofft im übrigen, dass in den nächsten 50 Jahren die Substanz, die in den letzten 50 Jahren verlorenging, schon wiederkehren werde?

Die Substanz kann nicht wiederkehren, sie kann nur und wird auch in ihren letzten Resten noch verschwinden, wenn die Ausbildung nicht völlig verwandelt wird. Heute ist es so, dass sehr viele Lehrer an der Waldorfschule überhaupt kein Interesse an der Anthroposophie haben – nicht einmal mehr Interesse! Sich wirklich tief verbinden mit der Anthroposophie und ernsthaft täglich innerlich streben – das tut nur noch ein verschwindend geringer Teil aller Lehrer an Waldorfschulen.

Stattdessen gab es eine oberflächlich eindrucksvolle Verbreitung der Waldorfschule mit ebenso eindrucksvollem Substanzverlust – und eindrucksvoller Selbstverleugnung dieser Tatsache. Statt einer wunderbaren Blüte gab es eine unkontrollierbare Wucherung, und die heutige Gestalt der Waldorfpädagogik ist ihrem Wesen völlig fremd.

Erkenntnis tut weh. Wenn man das Wesen der Waldorfpädagogik wirklich liebt und wenn man den gravierenden Substanzverlust sieht und zugibt, dann muss man diese Realität natürlich zunächst hinnehmen, aber man darf sie nicht akzeptieren. Es kann sich nichts ändern, wenn man nicht den Substanzverlust ganz klar als allerwichtigste Problematik und Aufgabe erkennt und benennt – und gemeinsam ernsthaft und mit größtem Einsatz nach Möglichkeiten sucht, eine neue Vertiefung zu fördern.

Alles andere würde nur zeigen, dass der Substanzverlust gar nicht wirklich als dramatisches Problem gesehen wird. Es gehört dann vielleicht zum guten Ton, einen „gewissen“ Substanzverlust zuzugeben, im übrigen hält man es aber mit der berühmten TINA-Logik von Margaret Thatcher: „There is no alternative“...

Kritik ändert nichts – nur beim Positiven ansetzen?

Dieses Argument sagt etwa Folgendes: „Wir haben also heute die Situation, dass sehr viele Lehrer an Waldorfschulen sich für die Anthroposophie nicht einmal mehr interessieren. Gut, das ist so. Kritik ändert daran gar nichts. Wie kann man das Interesse wecken? Wie kann man neue Keime säen?“

Nun – wenn man jahrzehntelang die Grundlagen vernachlässigt hat („Vertiefung ist Sache jedes Einzelnen“), muss man sich nicht wundern, wenn man am Ende vor einem Unkrautacker steht, bei dem jede Hoffnung vergebens ist.

Es ist eine Illusion zu glauben, Lehrer an der Waldorfschule, die kein Interesse an der Anthroposophie haben – ich wiederhole: Lehrer an der Waldorfschule! –, würden dieses irgendwann plötzlich entwickeln. Natürlich kann man versuchen, bei anderen ein lebendiges Interesse an der Anthroposophie anzuregen. Aber hat man es denn bisher nicht versucht? Wenn nein, warum nicht?! Und wenn doch, warum hat es nicht gewirkt? Es ist doch eine Tatsache, dass die Grundlagenarbeit an sehr vielen Schulen zu kurz kommt, dass sie entweder gar nicht stattfindet oder nur eine Pro-Forma-Veranstaltung ist oder aber trotz gewisser Ernsthaftigkeit keinerlei reale Früchte trägt.

Mieke Mosmuller tut nichts anderes, als auf diese Situation hinzuweisen – sie als Einzelne kann natürlich auch nichts ändern. Dennoch: „Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung“. Wenn man durch den radikalen Hinweis ihres Buches dazu käme, den Ernst der Lage zuzugeben – gemeinsam, als Waldorfbewegung –, dann könnte sich etwas ändern. Wer an der Anthroposophie kaum nennenswertes Interesse hat, weiß natürlich gar nicht, von welchem „Ernst der Lage“ die Rede ist – aber alle anderen, die wenigen noch Übrigen, könnten sich bekennen, dass in der Vergangenheit nichts wichtiger gewesen wäre und jetzt und in Zukunft nichts wichtiger ist, als an den essentiellen Grundlagen der Waldorfpädagogik zu arbeiten – und zwar stärker und entschiedener als je zuvor.

Wenn man den Aufruf des Buches „Eine Klasse voller Engel“ nicht ernst nimmt, ist alles Reden vom „Ernst der Lage“ ein reines Lippenbekenntnis...

Zugleich gibt die Autorin aber auch zahlreiche, konkreteste Anregungen, um an den essentiellen Grundlagen der Waldorfpädagogik zu arbeiten – ihr ganzes Buch ist eine einzige Anregung, ein einziger Aufruf. Und deshalb ist gerade dieses Buch zugleich ein positives Ansetzen par excellence. Wenn man diese Anregungen ebenfalls nicht ernst nimmt, sondern mit einem einzigen Wort („weltfremd“) abtut, zeigt sich also auch, wie ernst man sein eigenes Argument von den „positiven Ansätzen“ meint.

„Eine Klasse voller Engel“ entfaltet in einer wunderbaren Weise das Ideal der Waldorfpädagogik – und dieses Ideal ist das Positive an sich, es müsste eigentlich eine reine, tiefe Begeisterung auslösen. Wenn man sich dafür begeistern würde, wäre das „Ansetzen beim Positiven“ von selbst da – und dann wäre es auch ganz unwesentlich, wie unvollkommen das eigene Streben ist. Wenn es nur ein Streben ist...

Man kann und wird Verständnis für alle Schwächen und Unvollkommenheiten haben, wenn nur deutlich wäre, dass man – jeder auf seine Art – nach demselben Ideal strebt. Und zum Ideal, zum Wesen der Waldorfpädagogik gehört untrennbar die fortwährende innere Vertiefung und Selbsterziehung des Erziehers und die Entwicklung einer von Ehrfurcht durchdrungenen lebendigen Menschenerkenntnis. Wenn man sich darüber einig wäre, würde sich alles andere finden – denn dann wäre die Krankheit innerlich schon überwunden. Die Reaktionen gegen das Buch „Eine Klasse voller Engel“ zeigen jedoch, dass es nicht so ist.

Schlussbetrachtung: Vom Wesen des Ideals

Der grundlegende Dissens zwischen dem Buch und seinen Gegnern liegt also in der Bedeutung des Ideals. Die Kritik des Buches ist nicht das Problem, sie zeigt nur den Abstand der heutigen Realität vom Ideal. Das Problem bzw. die entscheidende Frage ist: Von welchem Ideal ist überhaupt die Rede – und wie wird das Ideal erlebt?

Das wunderbare Ideal der Waldorfpädagogik, das Mieke Mosmuller beschreibt, ist die lebendige Erkenntnis des werdenden Menschenwesens. Dieses Ideal ist weder abstrakt, noch weltfremd. Und es ist genau auf dem Wege zu verwirklichen, den die Autorin als völlig erneuerte Lehrerbildung angibt. Die detaillierten Hinweise für die einzelnen Ausbildungsjahre sind gewissermaßen die durch moralische Phantasie gewiesenen Wege, auf denen das Ideal zur vollumfänglichen Realität wird.

Die Autorin ist nicht nur Mutter und Ärztin, sie ist 25 Jahre lang energisch den Schulungs- und Erkenntnisweg gegangen, den Rudolf Steiner gegeben hat. Man kann die großartige Bedeutung dieses Buches erkennen, ohne das zu wissen. Wer die wahre Bedeutung dieses Buches jedoch leugnet und beiseite wischt, dem wäre zu wünschen, dass er irgendwann erkennt, was er da tut...

Dem Kinde und werdenden Menschen als geistiger Individualität wird man als Erzieher erst wahrhaft gerecht werden, wenn man vor allem seine Seelen- und Erkenntnisfähigkeiten schult.

Das Ideal der Waldorfpädagogik ist aus der realen Anschauung des Kindeswesens geschöpft. Wer das Geistige als grandiose Realität ernst nimmt, wer das einzelne Kind wirklich als göttliches Rätsel sehen kann, der findet in „Eine Klasse voller Engel“ jenen Blick, jene Gesinnung, jenen Weg, die diesem Rätsel, dieser Realität wirklich begegnen können.

Er findet die Auferstehung einer wahrhaft spirituellen, christlich-michaelischen Erziehungskunst.