16.01.2010

Über die Bedeutung der Ehrfurcht

Über den Abschnitt „Die Ehrfurcht“ in Eine Klasse voller Engel – und die falschen Einwände dagegen.


Es gibt Bücher, die schildern das Wesen einer Sache – sie führen einen in ein wirkliches Erleben hinein, man fühlt sich vom Wesen selbst berührt. Ein solches Buch ist „Eine Klasse voller Engel. Über die Erziehungskunst“ von Mieke Mosmuller.

Doch ein Buch, das nicht nur das Wesen einer Sache erlebbar macht, sondern auch in den großen, weiten Raum zwischen Anspruch und Wirklichkeit hineinführt, wird immer auch vielfältige Widerstände hervorrufen. Der Anspruch, aus geistiger Anschauung heraus zu schreiben, tut sein Übriges – und eine „schwieriges“ Frage wie die nach den Voraussetzungen wahrer Waldorfpädagogik erst recht.

Auf diese Weise können an einem solchen Punkt wie in einem Brennpunkt die verschiedensten Vorbehalte, Urteile und Verständnisschwierigkeiten sichtbar werden, denen eine wahrhaft aus geistiger Anschauung geschöpfte Darstellung begegnen kann.

Man kann der Meinung sein, die Autorin kenne die Wirklichkeit nicht; oder sie werde dieser Wirklichkeit nicht gerecht; oder sie schildere das Ideal oder Wesen falsch; oder sie schildere den Weg, sich diesem Wesen zu nähern falsch usw. – Aus all diesen möglichen Ansichten heraus könnte man „Eine Klasse voller Engel“ ablehnen. Doch die Frage ist: Kann man seine Ansicht so klar begründen wie Mieke Mosmuller es tut? Versteht man überhaupt, worauf sie hinweisen möchte – oder fühlt man sich nur gedrängt, ihr Buch abzulehnen? Empfindet man es als „Angriff“ und „unerträgliche Kritik“ und stößt es blind zurück – oder lässt man sich auf die große Frage ein, die das ganze Buch bildet?

Reaktionen auf ein Rätsel

Das Geheimnis des Menschen ist unaussprechlich. Die ganze Anthroposophie ist eigentlich eine Offenbarung dieses allergrößten Geheimnisses. Die Frage ist: Liebt man dieses Geheimnis so sehr, dass man es wirklich ernst nimmt? Ist man dankbar für Hinweise und Hilfe auf dem Weg, sich ihm immer weiter zu nähern? Oder ist einem das Geheimnis eigentlich und in tieferem Sinne ein Ärgernis – und ebenso alles, was auf dessen Tiefe und Erhabenheit (und damit die eigenen Erkenntnisgrenzen und -beschränkungen) hinweist?

Schon die „Menschenkunde“ Rudolf Steiners kann ein Ärgernis sein. Rudolf Steiner spricht in Rätseln, nichts ist wirklich „unmittelbar in die Praxis umzusetzen“, alles scheint nur ein abgehobener, unverständlicher esoterischer Überbau zu sein, der einfach nur abstrakt ist. So kann man leicht denken! Und dennoch weist Rudolf Steiner immer wieder darauf hin, dass die spirituelle Menschenkunde die Essenz wirklicher Erziehungskunst ist – nicht etwas neben und außerhalb der „eigentlichen Pädagogik“, sondern selbst das Wesen der Pädagogik (siehe „Entgegnung auf einen Machtspruch...“).

Natürlich spricht Steiner gleichsam in Rätseln – aber etwas Besseres könnte er gar nicht tun! Denn die Realität ist zunächst derart unbegreiflich und viel erhabener und „komplizierter“, als es der normale, völlig vom Intellekt durchsetzte Verstand sich je erträumen würde.

Der Verstand hasst Komplikationen, vor allem aber hasst er Erhabenheit. Er ist es, der nur das gelten lassen will, was er auf seine Stufe herabziehen kann, was er durchdenken, analysieren und einsortieren kann. Was er nicht begreifen kann und woran eine Ahnung erwacht, dass da etwas ist, was ihn absolut überragt, das stößt er mit Antipathie von sich – und er vereinnahmt es: indem er es be-urteilt, ver-urteilt oder eben doch so durchdenkt, wie er es kann oder will, und das dann als die Wahrheit hinstellt und sich einverleibt.

Nur das Rätsel kann den Verstand erlösen. Er muss an echte Erkenntnisgrenzen stoßen – an etwas, was er sich nicht einmal mit Gewalt einverleiben kann. Natürlich kann der Verstand auch die Menschenkunde „besiegen“ – aber Rudolf Steiner hat es ihm doch so schwer wie möglich gemacht...

Ich meine also nicht, dass es den Lehrern in diesem Sinne unbedingt „gelingen“ wird, die Menschenkunde lebendig in sich zu tragen. Das ist doch eine Lebensaufgabe! Aber auf das echte, willensstarke (und demütige!) Ringen damit kommt es an. Wenn man eine Lebensaufgabe bewältigen will, muss man doch damit beginnen und fortwährend weiterringen!

Auch die Lehrer der ersten Waldorfschule haben sicher nicht „verstanden“, was Rudolf Steiner mit der „Menschenkunde“ gesagt hat! Aber sie konnten vieles ahnend empfinden, und sie haben verstanden, dass sie vor ein ungeheures Rätsel gestellt wurden – vor das Rätsel des Menschen. Vor eine Lebensaufgabe... Und es ist gerade das starke, ringende Bemühen um dieses Rätsel und seine Lösung, was zur pädagogisch wirksamen Kraft wird.

Die Bedeutung der Ehrfurcht

Ein echtes Rätsel, wie es die Menschenkunde darstellt, kann zweierlei Reaktionen auslösen: Ablehnung oder Ehrfurcht. Wenn man das Gefühl in sich zulässt, dass hier auf eine Wirklichkeit gedeutet wird – so wenig man von ihr bisher auch erfassen mag –, dann wird man nicht Ablehnung empfinden, sondern eine staunende Sehnsucht danach, mehr von diesem Geheimnis ergründen zu können. Es entwickelt sich eine Erkenntnis, wie wenig man bisher von dem gewusst hat, was „Wirklichkeit“ ist. Und genau diese ahnende Erkenntnis ist es, die demütige Bescheidenheit und Ehrfurcht erwecken kann.

Sobald man aber diese Empfindungen in einem ersten Anfang erlebt und entwickelt, wird man die Erfahrung machen, dass gerade sie einem erst wirklich die Welt eröffnen. Man wird erlebend entdecken, was es heißt, sich ganz zurückzunehmen und immer mehr die Welt selbst sprechen zu lassen. Die Ehrfurcht in ihrer ersten Form des staunenden Fragens und Abwartens erlöst den Menschen von sich selbst, von seiner Verklebung mit seinem Selbstbild und seiner unverwandelten Wunschnatur. Und an deren Stelle tritt ein zartes, immer stärker werdendes liebendes Interesse an der Welt, an dem, was Nicht-Ich ist.

Man spürt, wie man erst jetzt all dies wirklich zu sehen beginnt, wie all dies mit seiner ganzen Verschiedenheit und Eigenart einen auch beschenkt, gerade weil alles mehr und mehr seinen „Eigenwert“, seine eigene Wesenhaftigkeit offenbart – die man eben um so mehr gelten lassen und lieben kann, je weniger man selbst gelten will (und sei es nur in der Wahrnehmung, in den Urteilen, die man in die Wahrnehmung hineintrug und noch immer trägt). – All das bedeutet nicht, dass man die Wirklichkeit nun durchschaut, sondern die Begegnung mit anderen Wesen offenbart nun erst wirklich, dass man Geheimnissen gegenübertritt. Man denkt nicht mehr in Schubladen, weil man nichts wahrnimmt, sondern man nimmt nun wahr und fortwährend taucht gleichsam die Frage auf: Wer bist du eigentlich? Was willst du mir sagen? Nicht nur bei Menschen, sondern potentiell bei allem – aber erstmals auch wirklich und immer tiefer bei anderen Menschen, bei einem Kollegen, bei einem Kind...

Wenn man nun Lehrer werden will – hat man dann diese Sehnsucht nach dem Wesen des Kindes nicht von Anfang an? Man hat sie doch, diese Liebe zu den Kindern und ihrem wahren Wesen, das sie in sich tragen und das sich in wahrer Weise entwickeln möchte – und diese Sehnsucht, diese Liebe muss nur erweckt werden, muss ihrem wahren Wesen nach bewusst werden.

Ist es dann nicht offensichtlich, dass der werdende Lehrer Ehrfurcht braucht? Mieke Mosmuller schreibt in ihrem Buch, dass die Ehrfurcht schon ein Ausdruck der Sehnsucht nach dem Geist ist – der Lehrer, der wirklich nach einer spirituellen Pädagogik sucht, hat diese Sehnsucht also bereits, hat auch die Ehrfurcht als Anlage bereits. Wer diese Anlage aber nicht wirklich hat, der hat auch keine wirkliche Sehnsucht nach spiritueller Pädagogik – er will dann etwas anderes werden, nicht wirklich Waldorflehrer.

Mieke Mosmuller beschreibt gleich zu Anfang sehr klar, warum der Lehrer diese Ehrfurcht braucht. Eindrücklich schildert sie, wie heute das gesamte Denken (und damit Fühlen und Tun) des Menschen im Urteilen lebt, wie der Alltags-Mensch gar nichts anderes kann – und will – als urteilen. Und was dadurch geschieht ... nämlich dass man keinerlei Zugang zu den Wesen hat, die außerhalb von einem existieren. Man bleibt im Grunde ganz und gar in sich eingeschlossen, man sieht alles von sich aus, zieht alles auf sein Niveau herab, macht alles sich selbst gleich und erhebt sich darüber. Sogar wenn man etwas anderes gelten lässt, tut man es von seines eigenen Gedanken Gnaden...

Man muss die Realität dessen selbst erleben lernen – dann aber kann es vollkommen deutlich werden, warum sich gerade der Lehrer aus dieser Sphäre herausreißen lernen muss ... und es erwacht die Sehnsucht, dies auch tun zu können.

Wie entwickelt man Ehrfurcht? Die Frage der Freiheit

Man hat der Autorin vorgeworfen, sie würde eine Schulung der Ehrfurcht verordnen, es bliebe unklar, warum die Fähigkeit der Ehrfurcht geübt werden müsse – und die Übung selbst würde unfrei machen. All diese Vorwürfe gehen aus einem ungenügenden Verständnis hervor.

Zunächst verweist Mieke Mosmuller nur auf die absolute Notwendigkeit der Ehrfurcht, die jeder ebenso erkennen kann, wenn er ihre Ausführungen erlebend mitvollzieht oder auch nur Rudolf Steiner ernst nimmt.

Dabei geht es der Autorin auch gerade um dieses erlebende Nachvollziehen, dieses eigene Empfinden und Erkennen. Sie schildert ganz deutlich den entscheidenden Grund, warum man die Ehrfurcht entwickeln soll – aber sie vertraut doch ganz darauf, dass man dies alles wirklich im eigenen Erleben nachvollzieht und dass daraus das Verständnis erwächst ... und die Sehnsucht. Alles andere wäre „von außen“ und „von oben“, wäre abstrakt, theoretisch und nicht freilassend.

Den dann folgenden Weg, der zur realen Übung der Ehrfurcht führt (und der zum ersten Studienjahr gehört), wird man überhaupt nur betreten, wenn man die Notwendigkeit der Ehrfurcht erkannt hat. Wenn man das ungeheure Ausmaß und die ungeheure Bedeutung des heutigen Urteils-Denkens innerlich erlebend nachvollzogen hat. Dann aber will man ihn auch betreten.

Ein Mensch, der Lehrer – Waldorflehrer! – werden möchte, wird die Fähigkeit der Ehrfurcht suchen. Und wer solche werdenden Lehrer ausbilden darf, wird diese Sehnsucht bewusst zu machen suchen, ja erwecken können. Er wird die Notwendigkeit der Ehrfurcht nicht als „Faktum“ hinstellen, sondern als etwas, was Sehnsucht und Begeisterung aufruft...

Auf eine solche Weise würde man in der von Mieke Mosmuller beschriebenen Lehrerbildung gemeinsam einen Weg betreten – gemeinsam und doch individuell. Zunächst wird die Erkenntnis, die Sehnsucht wachgerufen, und dann betritt man einen Weg, auf dem diese eine Erfüllung finden kann. Gemeinsam ist dieser Weg nur insofern, als man übt. Was der Einzelne davon aufnimmt, annimmt, sich zueigen macht, innerlich zu einer Realität werden lässt – zu lassen vermag –, das bleibt immer in dem geheiligten Raum der individuellen Freiheit!

Es geht gerade nicht darum, an einem Text eines mittelalterlichen Mystikers dessen Gottesfrömmigkeit in sich selbst aufzurufen! Wenn man der (zu entwickelnden) Ehrfurcht in dieser Weise einen Inhalt vorgäbe, würde man in der Tat an die Technik schlimmer Indoktrinationen anschließen. Das Schlimme an dieser Technik ist aber nicht die Ehrfurcht als solche, sondern der unfrei machende, von außen vorgegebene Inhalt! Das Schlimme ist die Unfreiheit, die das Heilige entweiht!

Worum es geht, ist, sich einer heiligen Sphäre zu nähern, ohne dass die Freiheit angetastet wird. Und genau das beschreibt Mieke Mosmuller: Man wird üben, sich einmal in die Stimmung hineinzuversetzen, aus der z.B. jener Mystiker heraus schrieb. Man soll nur versuchen, die Stimmung als solche einmal nachzuerleben – als Fähigkeit! Kann man sich hineinversetzen? Es geht um das innere Nachschaffenkönnen eines Empfindens. Die Inhalte, an denen man es übt, sind nur Beispiele. Es sind immer große, wahre Beispiele, aber es bleiben Beispiele. Gelegenheiten, etwas zu üben. Etwas, was jeder Waldorflehrer brauchen wird wie die Luft zum Atmen.

Jeder Student wird heute sehr sensibel empfinden können, dass es nicht um die Verführung heiliger Gefühlsfähigkeiten geht, sondern um ihre Übung als solche. Es kommt nicht darauf an, dieselbe Ehrfurcht wie der Mystiker zu entwickeln, oder gegenüber einem bestimmten Kunstwerk Ehrfurcht zu empfinden! Es kommt nur darauf an, an Beispielen – und man kann dann auch ganz andere suchen – innerlich nachzuempfinden, aus welcher Sphäre heraus dieser oder jener Mensch empfunden, geschrieben, gemalt hat. Nicht um das Resultat zu verehren! Sondern um jene Sphäre kennenzulernen...

Es geht darum, dass man die Studenten in der Ausbildung dieser wichtigsten Fähigkeit nicht allein lässt – und dass man sie dennoch allein und frei lässt. Man gibt in dem „Wie“ alle mögliche Hilfe und Gelegenheit – und lässt in dem „Was“ absolut und ganz und gar frei. Niemand muss nachempfinden, aus welcher Stimmung heraus der Mystiker geschrieben hat oder was den Maler bewegte, als er dies und jenes malte. Aber jeder kann und darf an den jeweils gegebenen und selbst gefundenen Beispielen die Gelegenheit ergreifen, diese so essentiell wichtige Stimmung in sich erwachen zu lassen. Indem er sie zunächst im Nacherleben erweckt, findet er immer mehr ihre Realität, in sich selbst. Die Gelegenheiten, an denen diese Fähigkeit der Ehrfurcht erweckt wurde, bedeuten am Ende gewissermaßen nicht mehr als der Stift, mit dem man schreiben lernte...

Und nochmals: Wer Waldorflehrer werden möchte, hat bereits keimhaft die Sehnsucht nach der rechten Ehrfurcht – und auch die Anlage dazu! Der Lehrer dieser Lehrer sucht nur die besten, wunderbarsten Beispiele, an denen diese Fähigkeit geübt werden kann. Er führt niemanden dorthin, wohin jeder sich nur selbst führen kann – allein und in Freiheit. Und dennoch werden die Studenten in der Begeisterung miteinander vereint sein können, werden empfinden, wie auch jeder andere versucht, dieses so notwendige, gewollte Erleben zu vertiefen. Eine Gemeinschaft werdender Lehrer, in der die gemeinsame Sehnsucht alle verbindet – und in der doch jeder nur seinen eigenen inneren Weg gehen kann, darf und muss...

Beim späteren Waldorflehrer muss die Ehrfurcht da sein – sonst wird die pädagogische Realität etwas Furchtbares, wird schon jede Konferenz eine Qual, wird der Alltag eine Lüge –, in der Ausbildung jedoch darf diese wunderbare Fähigkeit, nach der sich der werdende Lehrer sehnt, in voller Freiheit entwickelt werden, damit sie dann später wirklich – und in ihrem ganzen Licht und in aller Stärke – zur Verfügung steht.

Wer hier die Freiheit angetastet sähe, müsste sie auch dort vermissen, wo der Pianist das Klavierspielen lernen muss...