10.10.2009

Vom rechten Verständnis von „Eine Klasse voller Engel“

Zur Klärung eines grundlegenden Missverständnisses und der entscheidenden Frage, die sich der Waldorfbewegung heute stellt. | PDF


Inhalt
Das Erleben der „pauschalen Kritik“
Eines tut not...
Von der fehlenden Liebe
Kein pauschales Urteil – und auch anderes nicht
Die Wunde der Schulbewegung
Die Aufgabe des Buches – und die Aufgabe der Schulbewegung
Der innere Weg
Ein Märchen 


Der Herr aber antwortete ihr: Martha, Martha, du machst dir so viele Sorgen und Mühen. Es bedarf aber nicht des Vielen, sondern des Einen. (Lukas 10, 41)

Das Erleben der „pauschalen Kritik“

Wer „Eine Klasse voller Engel“ nicht von vornherein völlig ablehnt, sondern anerkennt, dass darin sehr viel Wichtiges und Notwendiges gesagt ist, kritisiert dennoch häufig, dass das Buch mit der scheinbaren „Universalkritik“ seines mittleren Teiles seine eigene Absicht zunichte mache.

Wer dieses Erleben hat, sagt: Bei allen guten und notwendigen Hinweisen, Ansätzen, Vorschlägen usw. beschränke das Buch sich selbst in seiner Wirksamkeit, indem gleichsam alles Bestehende als ungenügend oder gar falsch verurteilt werde. Nirgendwo komme eine Anerkennung bestehender Bemühungen zum Ausdruck. Wie aber könne man dann mit jenen Menschen, die die Notwendigkeit einer Vertiefung ebenfalls fortwährend empfinden, ins Gespräch kommen? Es sei nichts damit gewonnen, allgemein darauf hinzuweisen, was das Ideal sei (unerreicht und weit weg) und dass niemand es auch nur ansatzweise erreicht habe. Das aber sei der Eindruck, den man an dem Buch erlebe.

Alle guten Hinweise müssten doch vom Einzelnen aufgegriffen werden – der sich aber in der Kritik des Buches immer mit verurteilt fühle, weil er Teil der Bewegung ist, über die das Buch allgemein spreche. Es sei auch unzulässig, ein Urteil nur aus dem Erleben einer Schule zu bilden. Jede Schule und jedes Land habe seine speziellen Bedingungen, überall gebe es gute Schulen, schwache Schulen usw. – die Autorin aber würde die damalige Situation und ihr Erleben in Den Haag ihrer Beschreibung ganz und gar zentral zugrunde legen.

Man erreiche den Einzelnen immer nur dort, wo er steht, nicht aber durch ein pauschales Urteil, das jeden empfinden lasse, es sei völlig ungenügend oder falsch, was er bisher getan hat – und auch nicht durch Hinweise auf eine einzige Schule, an der vielleicht vieles schlimm gelaufen sei, als „Beweis“ dafür, dass überall alles falsch gemacht werde. Sehr viele Lehrer würden alles tun, was in ihren Kräften stehe, und würden sich nach bestem Wissen und Gewissen bemühen und einsetzen.

Ohne eine Würdigung dessen, was da sei und täglich aus den besten Kräften, die (bisher) da sind, versucht werde, könne es gar keine Änderung geben, weil man es eben mit den ganz konkreten Menschen zu tun habe – die sich in einem allgemeinen Urteil gar nicht wiederfinden könnten.

Eines tut not...

Wie kann man die Menschen wirklich erreichen? Das scheint die Grundfrage zu sein.

Dazu muss man sich vielleicht zunächst klarmachen, dass eine wirkliche Veränderung und Selbsterkenntnis nur möglich ist, wenn es gelingt, „über den eigenen Schatten zu springen“. Mieke Mosmuller hat ausdrücklich geschrieben, dass sie nicht behaupte, alle Schulen hätten die gleichen Probleme wie Den Haag. Wenn man ihr Buch richtig verstehen will, muss man erleben können, dass es ihr nicht darum geht, den einzelnen Lehrer zu be- oder gar zu verurteilen, sondern auf die Situation im Ganzen hinzuweisen.

Hier liegt bereits ein erstes Grundproblem. Die Frage taucht auf, was eigentlich notwendig ist. Selbst unter Lehrern, die sich „nach allen Kräften bemühen“, wird man sich in dieser Frage sicher nicht so schnell einig werden können.

Die entscheidende Frage ist zunächst nicht, wie man die Menschen erreicht oder wie man das Notwendige gemeinsam verwirklichen kann, sondern was dieses Notwendige wirklich ist. Es reicht nicht, allgemein von „Vertiefung“ zu sprechen, über deren Notwendigkeit sich letztlich vielleicht sogar alle einig sein können, sondern die Frage ist: Welche Vertiefung? Was ist der wahre Kern der notwendigen Vertiefung, und welche Vertiefungen erreichen diesen Kern nicht, verbergen ihn vielleicht sogar – auch wenn es vom Ausgangspunkt aus gesehen sehr wohl Vertiefungen sein können?

Um sich verständigen zu können, müsste man das innerste Wesen der Waldorfpädagogik verständlich machen können. Letztlich ist dieses innerste Wesen die Liebe – und die tiefe Erkenntnis, beide einander befruchtend, auseinander hervorgehend, ineinander übergehend. Aber selbst über dieses innerste Geheimnis bestehen ja so unterschiedlichste Vorstellungen, dass man doch immer wieder nicht erlebt, wovon der andere spricht...

Von der fehlenden Liebe

Dennoch muss es letztlich möglich sein, eine Verständigung zu erreichen, wenn alle Beteiligten dazu bereit sind und darum ringen. Und wie könnte etwas anderes ein besserer Ansatzpunkt sein als der zentrale Aspekt jener Pädagogik, um deren Verwirklichung man sich bemüht?

Kann man zum Beispiel bemerken, wie schnell man in Konferenzen, auf Tagungen usw. in ein „Reden über“ hineinkommt, das dann vielleicht nicht lieblos im üblichen Sinne, aber doch abstrakt, intellektuell, theoretisch oder ähnliches ist? Jeder wird doch aus eigener Erfahrung wissen, wie schwer bis unmöglich es ist, mit dem, was man zum Ausdruck bringen möchte, innerlich ganz vereinigt zu bleiben – erst recht auf Tagungen, erst recht gegenüber unbekannten Menschen, erst recht im großen Kreis... Aber dann auch im eigenen Kollegium: Wer hat denn noch nicht diese Erfahrung gemacht, vielfach und immer wieder?

So schwierig es vielleicht ist, sich darüber einig zu werden, was die rechte Liebe gegenüber den Kindern ist, so leicht müsste es doch sein, sich darüber zu verständigen, dass die Liebe (welche auch immer) in einem Gespräch über Kinder, über „Waldorfthemen“ usw. doch eigentlich immer fehlt. Sobald man über etwas spricht, ist das, worüber man spricht, in der Regel doch gar nicht mehr wirklich anwesend. Wenn man nur einmal die eigene Erfahrung berücksichtigt, dass man die Konferenzen so oft als anstrengend, ermüdend, lähmend usw. erlebt, und auch nur den Versuch macht, sich zu fragen, woher das kommt, wird man doch sofort bemerken, dass die volle innere Beteiligung des Einzelnen nicht da ist – ganz zu schweigen von echter Liebe zu dem, wovon man gerade spricht.[1]

Das aber ist es, worauf „Eine Klasse voller Engel“ vor allem immer wieder hinweisen will: Dass die tiefe Liebe zu wenig verwirklicht wird.

Dies unmittelbar für den eigenen Umgang mit den Kindern als Selbsterkenntnis zu gewinnen, mag ein zu großer Schritt sein – aber für die Konferenzen mit den Kollegen müsste es doch eine fast unmittelbar sich ergebende Erkenntnis sein! Wenn es aber deutlich ist, dass im Gespräch miteinander über ein wichtiges Thema (was auch immer: Unterrichtsinhalte, Vertiefung, Beobachtungen an Schülern, Probleme mit Schülern usw.) die Liebe fehlt, dann stimmt grundsätzlich etwas nicht. Dann kann es nicht sein, dass in der konkreten Situation, über die man gerade spricht, die echte, wahre Liebe wirklich und völlig da ist bzw. war. Es ist schlichtweg nicht möglich, dass im Umgang mit den Kindern alles in Liebe getaucht ist und man angeblich nur mit den „lieben Kollegen“ sein Leid hat...

Die Notwendigkeit einer Veränderung beginnt also im eigenen Inneren. Und sie setzt sich fort in der Notwendigkeit, mit diesem Inneren auch dann ganz verbunden zu bleiben, wenn man zu sprechen und zu handeln beginnt. Es dürfte gar nicht sein, dass man im Gespräch über irgendetwas plötzlich in das Intellektuelle, Distanzierte hineinkommt; dass man sich die innere Beteiligung nehmen lässt – sei es durch eine gewisse Aufregung oder Angst vor den Kollegen, sei es durch einen Gruppengeist, sei es durch eigenen Hochmut, den Anspruch einer kühlen „erkennenden Übersicht“ oder was auch immer. Wenn man im Sprechen (über was auch immer) die innere Liebe vernachlässigt, nimmt man bereits „Schaden an seiner Seele“. Das ist der entscheidende Punkt.

Und auch hier ist die Selbsterkenntnis natürlich überhaupt nicht einfach. Es ist sehr schwer, allmählich immer mehr tatsächlich zu erleben, was es hieße, mit dem, was man sagt und tut, wirklich innerlich verbunden zu sein. Man ist es ja nicht einmal mit seinen eigenen Gedanken! Überhaupt tut sich hier eigentlich erst ein langer Schulungsweg auf, ein mit der Selbsterkenntnis erst beginnender Weg fortwährender Übung.

Aber was man eben unmittelbar feststellen kann, ist, dass die Liebe als Atmosphäre in einer Kollegiumskonferenz meist gar nicht vorhanden ist. Und wenn sie nicht vorhanden ist, gibt es offenbar auch keine Quelle, aus der sie hervorgeht – und das bedeutet, dass man selbst und auch alle anderen tatsächlich nicht genügend Liebe haben, denn sonst wäre sie zu erleben! Einreden kann man sich in seinem eigenen Selbstbild ja viel – aber das Erleben, dass sie in der Atmosphäre einer Konferenz nicht spürbar ist, ist real, und diese Erfahrung kann jeder machen und macht sie ja auch! Von da aus führt doch wirklich ein Weg auch zur Selbsterkenntnis...

Kein pauschales Urteil – und auch anderes nicht

Man möge also nicht an dem haften, was Mieke Mosmuller im mittleren Teil ihres Buches an teilweise schlimmen Erfahrungen an der Schule in Den Haag schildern musste. Man versuche, nicht ein „pauschales Urteil“ zu empfinden, sondern das, worauf die Autorin eigentlich hindeuten will. Natürlich ist an jeder Schule immer ganz vieles anders – es kommt der Autorin aber auf etwas viel Grundsätzlicheres an, wofür Den Haag ein im Grunde beliebiges Beispiel war und jede andere Schule ebenso gut ein Beispiel hätte geben können.

Wenn man in Mieke Mosmullers Buch ein „pauschales Urteil“ empfindet, haftet man zu sehr am Detail – und vor allem am Blick auf das, wo sich doch alle „nach Kräften bemühen“. Unter all diesem Bemühen verliert man das, worum man sich nicht (genug) bemüht...

Man empfindet dann insbesondere den mittleren Teil des Buches als vernichtende Kritik und durchschaut nicht, dass das Urteil wahr ist, dass z.B. die Dinge, die die Autorin schildern muss, wirklich furchtbar sind. Anstatt zu sagen: Das ist ja furchtbar! wirft man ihr nur vor: Wir aber sind überhaupt nicht so furchtbar, wie kannst Du uns nur mit Den Haag vergleichen? Dabei geht es darum gar nicht, sondern um eine grundsätzliche Frage – eine Frage, die sich jeder Schule anders stellt und die doch immer die gleiche ist...

Ich möchte noch auf einige Widersprüche hinweisen, die den ablehnenden Reaktionen auf „Eine Klasse voller Engel“ innewohnen.

Wenn man nur auf die „schlimme Kritik“ der Autorin hinweist, übersieht man völlig (oder vergisst allzu schnell) ihre Rührung gegenüber der Kindergärtnerin, ihre Schilderung des großen Talents eines Klassenlehrers, überhaupt die wunderbare Beschreibung des Ideals... Man wirft ihr vor, sämtliche Ausbildungen zu kritisieren, kann sich aber selbst überhaupt nicht an dem begeistern, was sie als völlig andere Ausbildung entwirft... Man wirft ihr Lieblosigkeit vor, aber man selbst macht ihr lieblos Vorwürfe, die auch noch unwahr sind. Man wirft ihr vor, sie suche überhaupt nicht das Gespräch, aber man sucht es ebensowenig...

Man sagt, Mieke Mosmuller erreiche mit ihrem Buch nichts, weil sie die Menschen vor den Kopf stoße, aber es ist überhaupt nicht ihre Aufgabe, etwas zu „erreichen“, sondern dies war und wäre die Aufgabe der Schulbewegung! „Eine Klasse voller Engel“ zeigt auf, wie das Wesentliche eben (noch) nicht erreicht wurde, und man kann dies nur dann voll erkennen, wenn es in voller Stärke ausgesprochen wird. Insofern ist es gleichsam sogar Aufgabe des Buches gewesen, „die Menschen vor den Kopf zu stoßen“. Und trotzdem ist es die begeisternde Schilderung des Ideals!

Die Wunde der Schulbewegung

Die Autorin braucht nicht darum ringen, dass doch möglichst viele Leute etwas von ihrem Buch aufgreifen mögen. Wenn sie selbst es nicht wollen – und sei es, weil sie sich „ungerecht beurteilt“ fühlen –, dann kann man nichts machen!

Das darin liegende Dilemma bleibt natürlich ungelöst.

Zweifellos löst der mittlere Teil des Buches eine große Betroffenheit und Verletzung aus, weil (wenn man meint, die Autorin übertrage ihre Erlebnisse 1:1 auf die ganze Schulbewegung) der Vorwurf in der Luft zu liegen scheint, dass an jeder Schule Kinder in Unterwäsche durch die Turnhalle geschickt würden, dass in ihre Freundschaften eingegriffen werde usw.; dass dies immer wieder geschehe; dass dies planmäßig geschehe usw.

Man kann also der Meinung sein, es werde nicht deutlich, dass sehr viele Kinder nichts dergleichen erleben, weil sehr viele Lehrer nichts dergleichen tun, und dass auch sehr viele Erwachsene wirklich dankbar auf die Waldorfschule zurückblicken, die dann für sie objektiv besser war als eine Staatsschule. Und auch da, wo zum Beispiel einer Mutter einmal „die Hand ausrutscht“ und sie ihr Kind schlägt, bedeute dies ja nicht, dass sie nicht an 364 Tagen im Jahr ihr Kind liebt, vielmehr gebe es Taten, die einer Verzweiflung geschuldet seien, weil man nicht mehr weiterwisse.

Alle diese Aspekte spielen mit, wenn man erlebt, wie man selbst sich „nach besten Kräften“ bemüht (was ja subjektiv wirklich die Wahrheit sein kann) und wie man andererseits dann dieses Buch erlebt, als würde es sagen: Alles, was bisher getan wurde, ist falsch und schlecht gewesen.

Der Schmerz, den man an dieser (so erlebten) Aussage erlebt, ist zu groß, um sich auf all das andere einzulassen, was in diesem Buch gesagt ist und was real verwandelnde Kraft hätte, weil es ja die Sehnsucht jedes tiefer strebenden Waldorflehrers ist. Und so wirft man Mieke Mosmuller eigentlich vor, dass sie nicht rein fördernd, begeisternd und ermutigend geschrieben habe, um die Menschen wieder an das wunderbare Ideal zu erinnern, was sie doch alle in ihrem Herzen trügen. Wie erwähnt ist dieser Vorwurf nicht berechtigt, dennoch weist er auf ein reales Problem hin...

Mit Sicherheit gibt es in der Seele jedes Lehrers schon dadurch eine große Wunde, dass er erlebt, wie sehr die Verständigung, der Austausch, die Zusammenarbeit, die gemeinsame Vertiefung usw. bereits im eigenen Kollegium scheitert. Man erlebt da eine Ohnmacht, weil es einem ja auch selbst nicht gelingt – man ist ja Teil des Kollegiums, aber man selbst kann die Situation auch nicht wenden. Und so gibt es bewusst und/oder im unbewussten Fühlen eine große Wunde, denn natürlich erlebt die Seele immer, was unvollkommen ist, was dem Ideal sogar widerspricht, es überlagert, verschüttet usw.

Meist sinkt dieses Erleben irgendwann mehr oder weniger ins Unterbewusste. Dann resigniert man gleichsam, aber dennoch bleibt das Leiden, die Wunde vorhanden. Wenn sie dann von außen wieder aufgerissen wird, ist sofort die Tendenz da, diese neue, schlimmere Wunde abzuwehren – denn man selber bemüht sich ja oft tatsächlich nach Kräften, und es gelingt nicht einmal im eigenen Kollegium, das Gute zu bewirken, die Ohnmacht zu überwinden, das Notwendige zu verwirklichen... In gewisser Weise fühlt man das Berechtigte, aber auch das Unangemessene einer „Kritik von außen“.

Und dennoch: Wenn man wirklich den tiefen Wunsch nach Erneuerung, Vertiefung, Verinnerlichung in sich trüge, würde man es doch tief begrüßen und erleichtert aufatmen, wenn das Leiden der Schulbewegung endlich einmal wahrhaftig ausgesprochen wird. Das Leiden selbst ist damit natürlich noch nicht geheilt, aber es muss doch zunächst einmal offenbar werden, wenn überhaupt in irgendeiner Weise Heilung eintreten soll! Wer das tiefe Leiden und die große spirituelle Not der Schulbewegung leugnet oder verschweigen will, der will die Heilung überhaupt nicht!

Die Aufgabe des Buches – und die Aufgabe der Schulbewegung

Mieke Mosmuller hatte nie die Aufgabe, eine fertige Lösung zu liefern (und gar noch so, dass sie von jedem „angenommen“ werden könnte) – aber „Eine Klasse voller Engel“ kann aufrütteln und deutlich machen, dass eine ungeheure Frage vorliegt. Es ist die Aufgabe der Schulbewegung, diese Frage in ihrer vollen Wucht zu erkennen und sie aufzugreifen.

Eigentlich bedeutet dieses Buch ein ungeheures Geschenk an die Schulbewegung – denn es wäre ihre Aufgabe gewesen, diese Fragen aufzuwerfen. Wenn man dieses Geschenk, die wunderbaren Hinweise des Buches nun deshalb ablehnt, weil man die Vorwürfe als zu schwer empfindet, dann sieht man wirklich nicht, was notwendig wäre, und bleibt bei dem Glauben, dass „im Prinzip alles in Ordnung“ sei.

Wenn man aber erkennt, dass sich in der Waldorfbewegung vieles tief verwandeln müsste, wenn man dem Ideal verbunden bleiben will, dann weiß man, dass die Dinge nicht in Ordnung ist, sondern dass die Bewegung immer mehr vor einem unwiederbringlichen Verlust der inneren Substanz steht!

Es ist nicht Mieke Mosmullers Aufgabe, der Schulbewegung die notwendigen Erkenntnisse auch noch zu „vermitteln“, sie angenehm zu machen. Ihr Buch ist wirklich ein Geschenk, eine Gabe von außen. Das darin Gesagte zu „vermitteln“ (so man es als notwendig und aus dem wirklichen Ideal heraus gesprochen erkennt), kann nur die Aufgabe von Menschen dieser Bewegung selbst sein. Eigentlich müsste man sagen: Das sind hervorragende Anregungen. Leider hat Frau Mosmuller uns die Aufgabe durch den mittleren Teil ihres Buches nicht leicht gemacht, aber das kann uns nicht hindern, diese Aufgabe zu ergreifen!

Wenn man dies nicht tut, dann ist man entweder der Meinung, dass letztlich schon jetzt so viel „nach Kräften“ geschehe, dass „Eine Klasse voller Engel“ nicht wesentlich Neues bringe – oder man blickt zu sehr auf die angebliche Pauschalität der Kritik, um das im übrigen Gesagte wirklich in seiner ganzen und eigentlichen Bedeutung erleben zu können.

Mieke Mosmuller wollte kein Loblied und keine Würdigung dessen verfassen, was heute schon geleistet wird (solche Bücher gibt es zu Hunderten), sondern sie hat aus der reinen Liebe zum Ideal geschrieben. Das ist die Liebe, die dem Buch zugrunde liegt.

Die Kritiker ihres Buches, die eine Würdigung des „täglich Geleisteten“ fordern, müssten sich eigentlich einmal die Mühe machen, sich zu besinnen und zu versuchen, rein und vollkommen wohlwollend das zu würdigen, was in diesem Buch geleistet wurde. Wenn man diese Forderung einmal für sich selbst wahrmachen würde, würde man allmählich erleben können, was in „Eine Klasse voller Engel“ alles gegeben ist und worauf die Autorin hindeuten will. Man würde dann letztlich doch darauf kommen, welche Liebe in den eigenen Zusammenhängen so sehr fehlt (worunter man ja unbewusst täglich selbst leidet) und welche Art von Vertiefung fehlt und erstrebt werden müsste, um die erlebten Wunden zu heilen und das Ideal zu verwirklichen...

Der innere Weg

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass irgendetwas von dem, was in diesem Aufsatz angedeutet wurde, ohne einen inneren Schulungsweg verwirklicht werden könnte (gar inmitten der täglichen Herausforderungen, die eine Schule mit sich bringt!). Die tiefe Liebe und die tiefe Erkenntnis, die die innere Substanz und Grundlage der wahren Erziehungskunst ausmachen sollen, sind weder gegeben, noch auf leichte Weise zu erreichen. Wenn man dies glauben würde, würde man nicht nur das Wesen der Erziehungskunst, sondern auch das der Anthroposophie ganz verkennen.

Die Waldorfpädagogik ist noch nicht verwirklicht, wenn man die Lehrplanempfehlungen und Methodik-Hinweise Rudolf Steiners umsetzt. Die tiefe Menschenerkenntnis ist noch in keiner Weise dadurch verwirklicht, dass man Rudolf Steiners Angaben über die Wesensglieder usw. im Detail kennt und versteht. Die wirkliche Liebe hat nicht mit dem zu tun, „was man täglich leistet“, auch nicht mit dem Gefühl, „sich aufzuopfern“.

Nur wenn man bereit ist, wirklich den inneren Schulungsweg zu betreten, wird man verstehen, worauf hier hingedeutet ist. Mit diesem Schulungsweg beginnt eine völlige Verwandlung des Menschen – und erst auf dieser Verwandlung beruht die Erziehungskunst.

Warum nimmt man die vielen, vielen Worte Rudolf Steiners in dieser Richtung nicht ernst? Man lese doch nur einmal mit wirklich ernster Gesinnung den „Pädagogischen Jugendkurs“ oder empfinde irgendeines der zu den Waldorflehrern gesprochenen zentralen Worte Rudolf Steiners in seiner ganzen Tiefe (siehe z.B. „10 Fragen zur Gewissensprüfung der Waldorfschulbewegung“)!

Wer in „Eine Klasse voller Engel“ oder auch in dieser Webseite vor allem die Kritik sieht, der will den inneren Schulungsweg (noch) nicht – oder er verkennt dessen tiefe Notwendigkeit für die Verwirklichung der wahren Erziehungskunst. Wer aber um diese Notwendigkeit weiß, der wird Mieke Mosmullers Buch recht verstehen – auch in seiner Kritik.

Es macht tief traurig, wie man auf dieses Buch reagiert. Man haftet so sehr am Äußerlichen, an dem, was man „erreicht hat“, was man „täglich leistet“, was man fortwährend „nach besten Kräften tut“ usw. – das ist ja alles richtig und wahr und von einem anderen Blickwinkel aus auch absolut anzuerkennen und zu würdigen. Worum es Mieke Mosmuller aber geht, das ist das Ideal der Erziehungskunst, und das ist ohne den inneren Weg einfach nicht zu verwirklichen – ebensowenig wie die Anthroposophie selbst!

Was man heute hat, sind Schulen mit engagierten Lehrern und allen „Elementen“, die man äußerlich benennen kann. Das ist schon sehr viel, wenn man es mit Staatsschulen vergleicht. Wenn man aber das Ideal erlebt, ist all dies nichts, weil nur der innere Weg des Lehrers all dies beleben könnte, die wirkliche Erziehungskunst erst wahr machen würde...

Es geht nicht darum, „das Leben in die Schule zu holen“, ganz neue Oberstufenkonzepte zu entwickeln, Portfolio einzuführen und anderes mehr, das sind alles äußerliche Maßnahmen (die oft sogar in ganz falsche Richtungen führen); worum es geht, ist die innere Verwandlung des Lehrers, der wirklich begangene innere Weg, täglich und ernstlich... Wenn man das nicht empfindet, dann kann man noch hundert Jahre über die Waldorfpädagogik diskutieren, wird meinen, sehr viel zu leisten, und wird sie endgültig und gänzlich der völligen Veräußerlichung überantworten.

Warum ist diese (Selbst-)Erkenntnis nur so schwer...? Und warum ist der Wille, das Eigentliche zu ergreifen, nur so schwach?

Ein Märchen

[...] „Ich will meinen alten, ehrlichen Minister zu den Webern senden“, dachte der Kaiser, „er kann am besten beurteilen, wie der Stoff sich ausnimmt, denn er hat Verstand, und keiner versieht sein Amt besser als er!“
Nun ging der alte, gute Minister in den Saal hinein, wo die zwei Betrüger saßen und an den leeren Webstühlen arbeiteten. „Gott behüte uns!“ dachte der alte Minister und riss die Augen auf. „Ich kann ja nichts erblicken!“ Aber das sagte er nicht.
Beide Betrüger baten ihn näher zu treten und fragten, ob es nicht ein hübsches Muster und schöne Farben seien. Dann zeigten sie auf den leeren Stuhl, und der arme, alte Minister fuhr fort, die Augen aufzureißen, aber er konnte nichts sehen, denn es war nichts da. „Herr Gott“, dachte er, „sollte ich dumm sein? Das habe ich nie geglaubt, und das darf kein Mensch wissen! Sollte ich nicht zu meinem Amte taugen? Nein, es geht nicht an, dass ich erzähle, ich könne das Zeug nicht sehen!“
„Nun, Sie sagen nichts dazu?“ fragte der einer von den Webern.
„Oh, es ist niedlich, ganz allerliebst!“ antwortete der alte Minister und sah durch seine Brille. „Dieses Muster und diese Farben! – Ja, ich werde dem Kaiser sagen, daß es mir sehr gefällt!“
„Nun, das freut uns!“ sagten beide Weber, und darauf benannten sie die Farben mit Namen und erklärten das seltsame Muster. Der alte Minister merkte gut auf, damit er dasselbe sagen könne, wenn er zum Kaiser zurückkomme, und das tat er auch. [...]
„Es ist herrlich, niedlich, ausgezeichnet!“ ging es von Mund zu Mund, und man schien allerseits innig erfreut darüber. Der Kaiser verlieh jedem der Betrüger ein Ritterkreuz, um es in das Knopfloch zu hängen, und den Titel Hofweber.
Die ganze Nacht vor dem Morgen, an dem das Fest stattfinden sollte, waren die Betrüger auf und hatten sechzehn Lichte angezündet, damit man sie auch recht gut bei ihrer Arbeit beobachten konnte. Die Leute konnten sehen, dass sie stark beschäftigt waren, des Kaisers neue Kleider fertigzumachen. [...]
(Hans Christian Andersen: Des Kaisers neue Kleider)

„[...] Ohne das wird unsere Waldorfschule nur eine Phrase bleiben. Wir werden alles Schöne sagen über die Waldorfschule, aber wir werden auf einem durchlöcherten Boden stehen, bis solche Löcher so groß werden, dass wir keinen Boden mehr haben, auf dem wir herumgehen können. Wir müssen die Sache innerlich wahrmachen.“
Rudolf Steiner, 17.6.1921.

 

Anmerkung


[1] Mit diesen Andeutungen berühre ich nur die „Spitze des Eisberges“ der eigentlichen Herausforderungen. Denn natürlich kann man auch sehr engagiert und belebt, anregend und erfrischend, mit besten Kräften und nach bestem Gewissen über Fragen sprechen ... und trotz allem an der Wirklichkeit des werdenden Kindes (bzw. des Wesens der behandelten Frage) völlig vorbeigehen.