29.01.2014

Vom Totschweigen eines Ideals

Zur Veröffentlichungspraxis der Zeitschrift "Erziehungskunst", die an alle Elternhäuser der Waldorfschulen geht.


Als ich meinen Aufsatz "Ich habe einen Traum..." an die "Erziehungskunst" sandte, erhielt ich von der Redaktion folgende Antwort:

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herzlichen Dank für die Zusendung Ihres Artikels. Den Traum, den Sie beschreiben, versuchen viele Waldorflehrer zu verwirklichen. Mal gelingt es, mal nicht. Von daher könnte das falsch und ironisch verstanden werden. Wir würden von einer Drucklegung absehen und bitten um Ihr Verständnis.
Mit besten Grüßen
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Meine Antwort an die Redaktion gebe ich hier wieder:

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Meine Frage ist: Wie kann der “Traum”, den ich beschreibe, ironisch verstanden werden? Meinen Sie als ironische Beschreibung dessen, was man jeden Tag zu verwirklichen behauptet und dann doch nicht erreicht?
Ich verstehe Ihre Befürchtungen ehrlich gesagt nicht bzw. man müsste schon recht böswillige Gedanken haben, um dem Autor Ironie zu unterstellen. Die Überschrift macht doch ganz und gar deutlich, worum es sich handelt: um die Beschreibung eines Ideals.
Dieses Ideal in Worte zu fassen, wäre nur dann vielleicht überflüssig, wenn sich fast alle ohnehin darum bemühen und es auch immer wieder weitreichend erreicht wird. Aber selbst dann ist es nicht überflüssig! Denn was vermögen Ideale? Sie können begeistern, sie können erinnern, berühren.

Mein Aufsatz könnte gerade diejenigen Waldorflehrer stärken, die sich von ganzem Herzen um dieses Ideal bemühen. Ich glaube nicht, dass es allzu viele sind. Wenn Sie meinen Aufsatz genau gelesen haben, werden Sie eher empfinden können, dass es fast nicht erreichbar scheint, was da in Worte gefasst steht. Die Frage ist nicht, ob dies vollkommen erreicht wird; die Frage ist aber auch nicht, wie viele Waldorflehrer sich scheinbar darum bemühen – sondern die Frage ist: mit wie viel Kraft lebt dieses Ideal wirklich in den Herzen der einzelnen Lehrer? Und in wie vielen Herzen und auch ganzen Kollegien breitet sich stattdessen eine Resignation, Anpassung an den Status Quo und die Kollegen, Bescheidung auf das „Machbare“ und „Nicht-Machbare“ aus – und wird damit die allgegenwärtig drohende Lähmung des Ideals und seiner Schwingen zementiert?

Indem Sie einen solchen Aufsatz nicht drucken, schützen Sie sich selbst und ungezählte Lehrer davor, ungeheuren Ärger über einen „so schlimmen Text“ zu empfinden und zu äußern. Denn dies würde sicher auch passieren: dass viele Lehrer sich über einen solchen „anmaßenden“ Text ärgern. Aber gerade das sagt viel über unsere Zeit und den Zustand der Waldorfbewegung aus: Dass man heute das Ideal gar nicht mehr in Worte fassen darf, ohne dass es bekämpft wird.
Wer dieses Ideal wirklich sucht, könnte im realen Empfinden der Worte innerlich nur jubeln – und auch ehrlich eingestehen, was davon alles nicht gelingt. Innerlich bekämpft werden muss es nur von denen, die es in seiner vollen Wahrheit gar nicht wollen.

Und dann gibt es noch die Eltern. Viele Eltern haben eine Sehnsucht nach diesem Ideal und sehen sehr wohl, wie viele Lehrer es nicht verwirklichen wollen – und sogar jede Nachfrage, jedes Gespräch abblocken. Mit den Unfähigkeiten und auch dem konkreten Unwillen umzugehen, hat die Waldorfbewegung noch nicht gelernt. Sie wird hier aber auch niemals Fähigkeiten entwickeln, wenn das Ideal selbst bereits unterdrückt wird, sozusagen in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der großen Zahl derer, die es in dieser leuchtenden Stärke gar nicht empfinden – und derer, die in jeder Schilderung dieses Ideals sogleich nur eine Kritik sehen ... statt der Notwendigkeit, sich dieses Ideals gemeinsam zu erinnern und es lebendig zu halten, es zu stärken und zu vertiefen.

Sie schützen all diejenigen Lehrer – von denen Sie genau wissen, dass es sie gibt –, die die Schilderung eines solchen Ideals nicht ertragen können. Ich möchte Ihnen aber sagen, dass unzählige Eltern und sicher auch Schüler für die Schilderung eines solchen Ideals sehr, sehr dankbar wären, dass es fast wie eine Erlösung wäre für das, was an den Schulen täglich nicht gelingt ... und allzu oft nicht einmal mehr versucht wird.

Und darüber müsste dann ein wahrhaftiges Gespräch, eine wahre Begegnung in Gang kommen: die Begegnung zwischen Lehrern, die unter den (berechtigten) Erwartungen und ihren eigenen (absolut menschlichen) Unvollkommenheiten leiden – und Eltern, die oft unglaublich darunter leiden, dass diese Diskrepanz wirklich gewaltsam totgeschwiegen wird, immer wieder...  

Einen einfachen Weg gibt es nicht. Das Ideal eigentlich totzuschweigen, ist aber der absolut falsche Weg – denn gerade er führt in die Scheinheiligkeit hinein, die den Boden dieser ganzen Tragik bildet. Die „Erziehungskunst“ besteht aus lauter positiven Aufsätzen und Beispielen – und erzeugt so das Bild einer nahezu heilen Welt. Das gerade ist aber die Unwahrheit. Mein Aufsatz schildert das Ideal – und sagt ganz deutlich: Das ist zunächst ein Traum. Warum darf dies nicht geschehen? Es gibt nur eine Erklärung: Es gibt zu viele Menschen, die es nicht hören können und wollen...
An all die ungezählten Menschen, die sich danach sehnen, dass es in diesem Umfang einmal ausgesprochen wird – und zwar als Ideal, als Traum, in all seiner Vollkommenheit –, wird dann nicht gedacht.

Wir können den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit nicht ertragen – darum wird er gerade verschwiegen. Oder er wird nur so erwähnt, dass er „ja nun einmal selbstverständlich“ sei, dass „alle sich um das Ideal bemühen“ würden usw. – aber auch damit wird er eigentlich zugedeckt. Entweder streift man das Ideal nur kurz und geht dann zur Tagesordnung über – oder man behandelt wohlklingend irgendeinen Ausschnitt des Ideals und streift nur kurz die Tatsache, dass es nicht immer (bzw. meistens nicht) so aussieht. Aber die volle Gegenüberstellung und die wahrhaftige Schilderung sowohl des einen wie auch des anderen wird absolut nicht ertragen und nicht gewollt.

Herzliche Grüße,
H. Niederhausen