10.10.2013

Waldorfpädagogik ohne Anthroposophie

Anmerkungen zur Studie: Dirk Randoll (Hg.): „Ich bin Waldorflehrer“. Einstellungen, Erfahrungen, Diskussionspunkte – Eine Befragungsstudie. Springer VS, 2013 (303 S., 40 €). 


Inhalt
Spirituell im freien Fall
Vom „Verhältnis zur Anthroposophie“
Meditation zum Ankreuzen
Steiner ausquetschen – oder wirklich begreifen


Spirituell im freien Fall

Seit Jahrzehnten verliert die Waldorfbewegung ihre spirituelle Substanz. War früher die Dogmatik „versteinerter“ Lehrer und Kollegien ein großes Problem, die Steiner und die Anthroposophie falsch verstanden und nicht wirklich in sich lebendig machten, so ist die Krise heute in das andere Extrem umgeschlagen, dass sich Lehrer und ganze Kollegien für die Anthroposophie gar nicht mehr interessieren. 

Seit mehreren Jahren mache ich auf diese Frage aufmerksam. Es wäre eine Aufgabe der Waldorfbewegung und ihrer führenden oder zumindest verantwortungsbewussten Vertreter, sich diese Katastrophe ehrlich einzugestehen. Stattdessen sind es gerade diese führenden Vertreter, die die Situation schönreden, selbst aber so abstrakt schreiben, dass man gerade auch in ihren Veröffentlichungen den Verlust der spirituellen Substanz mit Händen greifen und detailliert aufzeigen kann (siehe meine Aufsätze zu Veröffentlichungen von Schieren, Stöckli, Wiechert usw.). Waldorflehrer, die sich wirklich mit Herzblut und spiritueller Wahrhaftigkeit mit der Anthroposophie verbinden, sind nicht zu finden oder erheben nicht hörbar ihre Stimme – wie auch, wenn sie schon in ihren eigenen Kollegien isoliert sind? 

2009 erschien das Buch „Eine Klasse voller Engel. Über die Erziehungskunst“ von Mieke Mosmuller. In diesem Buch kann man wirklich erleben, was lebendige Anthroposophie ist und was lebendige Waldorfpädagogik wäre. In diesem Buch findet sich das wirkliche Ideal der Waldorfpädagogik. Es thematisierte aber auch die erschreckenden Fälle eines völligen Nicht-Verstehens und Nicht-Verwirklichens der Anthroposophie, wie sie sich an vielen einzelnen Beobachtungen an einer „Vorbild-Waldorfschule“ in den Niederlanden zeigten.

Dass das wirkliche Ideal gar nicht gewollt wird, sondern dass man mit der Lüge leben will, erfuhr ich unmittelbar, indem ich nach meinem Eintreten für dieses wunderbare Buch und für eine Wahrhaftigkeit der Waldorfbewegung 2010 bei den „Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners“ entlassen wurde.

Inzwischen hat Mieke Mosmuller ein weiteres Buch veröffentlicht, in dem es um die Erziehung in den ersten sieben Jahren geht: „Ein Kind ist eine sichtbar gewordene Liebe“. Auch dieses Buch kann den wahrhaftigen Leser tief berühren, denn es führt wiederum in ein wirkliches Erleben des Wesens des Kindes hinein, ist nichts anderes als lebendige Anthroposophie. Und zum Glück gibt es viele junge Eltern und auch Erzieherinnen, die diese Spiritualität wirklich suchen, weil sie erleben, dass man erst so die Fähigkeiten zu entwickeln vermag, dem Wesen des Kindes wirklich gerecht zu werden.

Die Waldorfbewegung selbst hat jedoch den Schritt über den Abgrund hinaus längst getan und befindet sich im freien Fall in die spirituelle Bedeutungslosigkeit. Wenn nicht ein Wunder geschieht und sich diejenigen Menschen zusammenfinden, die wirklich noch das Wesen der Anthroposophie suchen, um danach zu streben, es innerlich und dann auch im Äußeren wirklich lebendig zu machen, wird innerhalb weniger Jahre ein undurchdringliches Dornengestrüpp alles reale Verständnis der Anthroposophie überwuchert haben – und wird auch alles, was unter ihrem Namen läuft, keinerlei innere Kraft und Substanz haben. Sehr weitgehend ist dies schon jetzt der Fall.

Empfinden kann man dies jedoch oft erst, wenn man die wirkliche Anthroposophie absolut ernst nehmen würde, wenn man etwa die Begegnung mit einem Buch wie „Eine Klasse voller Engel“ aushalten und dann aufrichtige Selbsterkenntnis üben würde, um tief berührt und begeistert sein Streben zu verdreifachen und zu verzehnfachen...

Vom „Verhältnis zur Anthroposophie“

Einen Hinweis auf die reale Situation der Waldorfbewegung gibt eine ausführliche empirische Studie unter über 2.000 deutschen Waldorflehrern (ca. 30 %), deren Ergebnisse in diesem Jahr veröffentlicht wurden.

Ansgar Martins, ein fortwährend gegen die Anthroposophie agitierender, gerade einmal 22-jähriger ehemaliger Waldorfschüler (mit guten Erinnerungen an seine Schulzeit), gibt in einem Aufsatz mehrere Ergebnisse dieser Studie wieder. Da mir die Studie selbst nicht vorliegt, werde ich mich auf diesen Aufsatz beziehen.

Ein Ergebnis der Studie ist, dass „sich die Waldorfkollegien in ‘Traditionalisten’ und ‘Reformer’ aufspalten.“ (S. 148) Schon im gegenwärtigen politischen Geschehen weiß man, dass sogenannte „Reformer“ inzwischen in der Regel Zerstörer sind. Die Spaltung zwischen „Traditionalisten“ und „Reformer“ bedeutet also gerade das, was ich zuvor bereits beschrieben habe: In diejenigen, die die Anthroposophie nicht wirklich lebendig zu machen vermögen – und diejenigen, die sich gar nicht mehr für sie interessieren... Es ist völlig klar, dass sich diese beiden Gruppen unversöhnlich gegenüberstehen müssen. Beide aber richten die Waldorfschule zugrunde.

Bei einer Frage der Studie sollten die Waldorfschullehrer angeben, wie sie ihr „Verhältnis zur Anthroposophie“ bezeichnen würden. Die positivste Antwort-Möglichkeit dabei war „praktizierend/engagiert“.

Dabei muss man sich klarmachen, dass die Antwort ganz vom eigenen Selbstbild abhängt. Jemand kann Dogmatiker sein, die Anthroposophie völlig missverstehen, sich ein wenig für Anthroposophie interessieren, ab und zu einen Tagesrückblick üben oder vieles Andere tun – und alle diese Menschen könnten die Frage mit „Ja“ beantworten, ohne dass einer von ihnen wirklich als Anthroposoph bezeichnet werden könnte.

Die Antworten fielen so aus, dass bei den über 60-jährigen Lehrern nicht einmal die Hälfte auch nur diese Antwort gab – 49,5 Prozent gaben an „praktizierend/engagiert“. Und bei den unter 40-jährigen Lehrern ist dieser Anteil bereits auf unter 29 Prozent gefallen. Insgesamt lag er bei 34 Prozent.

Man darf annehmen, dass bei der „jungen“ Generation auch das „engagiert“ selbst schon schwächer geworden ist, dass also selbst die knapp 29 Prozent darunter schon etwas ganz Anderes verstehen als die Generation vor ihnen. Und man darf annehmen, dass die Antwort bei den unter 30-Jährigen bereits auf vielleicht 20 Prozent gefallen ist und sie darunter noch weniger verstehen... Und tatsächlich nannten zum Beispiel auch nur knapp 21 Prozent aller Waldorfschullehrer „anthroposophische Überzeugungen“ als Grund für den Beginn ihrer Tätigkeit.

Ohne dass man also sagen kann, was überhaupt noch unter „praktizierend/engagiert“ verstanden wird, haben bereits etwa 80 Prozent der jetzt neu tätig werdenden jungen Waldorfschullehrer nicht einmal mehr ein „engagiertes“ Verhältnis zur Anthroposophie.

Dazu passt schließlich noch, dass von den unter 40-Jährigen fast zwei Drittel für eine „stärkere Akademisierung“ der Waldorflehrerausbildung sind!

Meditation zum Ankreuzen

Auf die Frage nach Kraftquellen in der Freizeit meldet die Studie unter anderem: „Für etwa jeden zweiten Waldorflehrer kommen als kraftschöpfende Quellen das ‘Vor-sich-Hindösen’ sowie die Meditation in Betracht“. Was für eine absurde Zusammenstellung! Dann aber: Was heißt das Letztere?

Bei der Frage „Neue Kraft schöpfe ich aus...“ kreuzten die meisten Befragten die Möglichkeit „Naturerlebnisse“ (z.B. Gartenarbeit, Spaziergänge) an. 48 Prozent machten unter anderem auch bei Meditation ein Kreuz. Was bedeutet das? Schnell ist ein solches Feld angekreuzt – lieber als dass man die Frage verneint (wie es über 50 Prozent getan haben). Vielleicht macht man ab und zu einen Versuch zu meditieren? Welche Qualität hat die Meditation? Hat sie irgendeine Wirkung? Ernst? Regelmäßigkeit? Tiefe? Wieviele würden solche Fragen ehrlich bejahen können?

Das Lesen und Studieren der Schriften Rudolf Steiners war eine weitere Möglichkeit zum Ankreuzen. Dies taten sogar nur 40 Prozent aller Befragten. Und wie schnell ist auch hier ein Kreuz gemacht, ohne dass man weiß, welche Qualität und Intensität dies hat!

Auf die Frage, wie oft man bei beruflichen Problemen Antworten in den Schriften Rudolf Steiners suche, gaben 64 Prozent die Antworten „selten“ oder „gar nicht“ an – ein Drittel wählte die Antwort „oft“ bzw. „sehr oft“ (6 Prozent).

Die Abschaffung der Anthroposophie als reale Grundlage der Waldorfpädagogik ist also in vollem Gange. Ansgar Martins schreibt ganz bewusst:

Alle Probleme, die die Lehrerstudie empirisch untermauert („Selbstverwaltung“, die Rolle der „Praktisch-Künstlerischen“ Fächer, den Spagat zwischen Anthroposophen und Nicht-Anthroposophen usw.) gehen auf Rudolf Steiner zurück.


Gegen diesen Unsinn muss man sagen: Alle Probleme, die die Lehrerstudie empirisch untermauert, gehen auf ein nicht wirkliches Ergreifen der Anthroposophie zurück! Die wirkliche Anthroposophie würde den Menschen zu einem Erziehungskünstler machen – und zu einem Beziehungskünstler, aber auch zu einem tief verantwortlichen „Verwaltungskünstler“...

Die Probleme der Selbstverwaltung sind fast durchweg Probleme des Zwischenmenschlichen und der „organisierten Verantwortungslosigkeit“. Dies dem Begründer der Anthroposophie vorzuwerfen, der Unendliches organisiert hat und zu jeder einzelnen Probe (selbst wenn sie ihn gar nicht unmittelbar „anging“) immer anwesend und immer pünktlich war, ist ein Gipfel der Unwahrhaftigkeit oder Unkenntnis.

Doch auch eine der Auswerterinnen der Studie, Ines Graudenz, zieht folgendes Fazit:

Waldorflehrer sehen sich vor die Aufgabe gestellt, Rudolf Steiner „neu“ zu lesen, tradierte Vorstellungen und Ziele und festgeschriebene Prinzipien der Waldorfpädagogik zu überdenken, zu hinterfragen und eine zeitgemäße Weiterentwicklung waldorfspezifischer Intentionen zu ermöglichen, nicht zuletzt im Interesse der heutigen Kinder und Jugendlichen. Ein Umdenken, eine Relativierung der Wahrnehmung und Interpretation der Schriften Rudolf Steiners fordern dazu heraus, Wege zu finden, die dem Kontext der heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten gerecht werden, ohne deshalb spezifische Stärken und Erfolge der Waldorfpädagogik aufgeben zu müssen.“ (S. 229)


Wie kann man Rudolf Steiner und seine Schriften „umdenken“ und „relativieren“ wollen, wenn man ihn noch nicht einmal ansatzweise verstanden und erfasst hat? Die Anthroposophie endlich einmal richtig lesen, richtig denken und richtig innerlich tun – das ist es, worauf es ankäme! Stattdessen gefällt man sich als Zerstörer von etwas, was man nie wirklich verstanden hat. 

Ansgar Martins jedoch sekundiert Ines Graudenz:

Diesem Gemeinplatz würden sich mutmaßlich alle gern anschließen. Die Sinnigkeit einer Steiner-„Neu“-Lektüre muss man allerdings arg bezweifeln, wie auch kritischere Anthroposophen meinen: „Wir können Steiner ausquetschen wie eine Zitrone und trotzdem kommt da nie gegenwärtige Anthroposophie heraus.“ (Wolf-Ulrich Klünker, in: info3 10/08, S. 34)

Steiner ausquetschen – oder wirklich begreifen

Wenn selbst Wolf-Ulrich Klünker (schon 2008) solche Sätze schreibt, ist dies ein weiteres Symptom. Ich hatte von Klünker, der unter anderem Schriften von Johannes Scotus Eriugena, Alanus ab Insulis und Thomas von Aquin herausgegeben hat, bisher Einiges gehalten. Dass er sich für Info3 hergab, ist traurig genug. Doch dieser eine Satz ist entlarvend für den Zustand der heutigen Anthroposophie.

Stellen wir ihn einmal in den Zusammenhang. Klünker sagt im Ganzen:

Sie können den gesamten Aristotelismus, die Schule von Chartres, sie können den gesamten Thomas von Aquin, Sie können auch Goethe und den Goetheanismus ausquetschen wie eine Zitrone – da kommt nicht die Anthroposophie heraus – nie. Die Anthroposophie Rudolf Steiners war ein freier geistiger Schritt. Und erst im Nachhinein zeigt sich der Entwicklungszusammenhang mit der abendländischen Geistesentwicklung; das gilt auch karmisch. Und in der gleichen Situation sind wir heute in Bezug auf Rudolf Steiner und die Anthroposophie selbst: Wir können Steiner ausquetschen wie eine Zitrone und trotzdem kommt da nie gegenwärtige Anthroposophie heraus. Ich muss selbst einen freien geistigen Schritt machen und erst dann kann sich nachträglich der Entwicklungszusammenhang zur Anthroposophie zeigen – möglicherweise. Mit anderen Worten, es ergibt sich keine Zukunft aus der Vergangenheit, auch nicht aus der Vergangenheit Rudolf Steiners.


Dazu kann man in Kürze nur antworten: Quod licet Jovi, non licet bovi (was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt). Rudolf Steiner hatte tiefste Erfahrungen der geistigen Welt, und er hat für das moderne menschliche Bewusstsein unendlich wesentliche Brücken von dieser Geisteswelt herüber und zu ihr hinüber geschlagen.

In der von Steiner begründeten Anthroposophie hat sich die Geistigkeit von Aristoteles und Thomas von Aquin organisch zu einer neuen Blüte der menschheitlichen Bewusstseinsentwicklung weiterentwickelt. Aristoteles und Thomas von Aquin haben für Jahrhunderte die Entwicklung dieses menschlichen Geistes geprägt – Rudolf Steiner eröffnete als wirklicher Meister des Abendlandes auf Jahrhunderte hinaus neue Perspektiven für die individuelle Geistesentwicklung heute. Und Klünker spricht angesichts dieses Menschheitslehrers und dieser Menschheitstat von „gegenwärtiger Anthroposophie“, die eine andere sein müsste als das, was man aus Steiner „herausquetschen“ könnte? Welch eine absurde Verkennung der Realitäten!

Den freien geistigen Schritt kann der Mensch auf Jahrhunderte hin gerade dank der Anthroposophie, dank der Tat Rudolf Steiners machen! Und diese Freiheit besteht absolut nicht darin, Rudolf Steiner und seine Schriften für veraltet zu halten – sondern darin, bei Rudolf Steiner wirklich das zu finden, was für ein ganzes Leben nicht ausreicht, um daran die eigenen Fähigkeiten und Geistesfrüchte zu entwickeln. Da geht es nicht um „Ausquetschen“, sondern um immer neue Aufschlüsse und Geistesgeschenke!

Gerade Mieke Mosmuller ist jemand, der die Anthroposophie ganz eigenständig aus innerster Geisteserfahrung lebendig wieder zur Offenbarung bringt. In keinster Weise zeigt sich hier erst „nachträglich der Entwicklungszusammenhang zur Anthroposophie“, sondern von Anfang an ist dies Anthroposophie, weil gerade sie es ist, die im Menschen lebendig werden will!

Aber heute fabuliert man lieber von „freien geistigen Schritten“, statt das wirkliche Wesen der Anthroposophie und damit die wirkliche Freiheit und die wirkliche Geistigkeit zu erkennen und zu verwirklichen...