22.02.2013

Kontrolle oder Liebe – vom Wesen des Kindes und wahrer Erziehungskunst

Gedanken über die wichtigste Aufgabe eines Erziehers.


Inhalt
Der Impuls des Kindes und das Band zwischen Kind und Erzieher
Der Verlust des inneren Bandes – eine Tragik
Kontrolle und Macht
Pädagogische Lüge – und das Wesen des Kindes
Die Sehnsucht des Kindes nach spirituellen Realitäten 


Der Impuls des Kindes und das Band zwischen Kind und Erzieher

Lehrer können aus verschiedenen Gründen scheitern. Sie können auch „Erfolg haben“. Woran misst sich der Erfolg eines Lehrers?

Im Sinne einer Pädagogik, der es ganz um den werdenden Menschen geht, kann der „Erfolg“ eines Lehrers doch nur mit dem zu tun haben, was einem Kind in seiner ur-eigenen Entwicklung durch die Hilfe und Wegbegleitung des Lehrers ermöglicht wird. Der Lehrer soll ein Geburtshelfer dessen werden, was das individuelle Kind im innersten Wesen werden will.

Entwicklung ist mit dem Erwachsenwerden nicht abgeschlossen. Es ist in tiefstem Sinne ein Inkarnationsvorgang. Eine geistige Individualität will sich in der sinnlichen Welt und mit Hilfe eines irdischen Leibes offenbaren. Das ist das Rätsel und die unendliche Aufgabe, vor denen jeder Mensch steht. Der Erzieher ist in der besonderen Lage, dass er mit heranwachsenden Menschen zu tun hat. In Kindern und Jugendlichen wird der elementare Impuls zur Entwicklung noch in voller Stärke sichtbar. Es wird aber auch in erschütternder Weise sichtbar, wie dieser geradezu heilige Impuls verschüttet, vernichtet werden kann.

Das gerade ist die ungeheuerliche Aufgabe des Erziehers: Etwas zu unterstützen, zu nähren, zu begleiten, zu ermutigen, was von den Kindern ursprünglich mit elementarer Kraft und Wärme mitgebracht wird in die Welt – und was vor allem bewahrt und geschützt werden muss. Das unbändige Interesse, lernen zu wollen, die Welt kennenlernen zu wollen, muss nicht entfacht werden, es ist da. Es kann nur erstickt werden – und dies ist schon sehr, sehr früh möglich. Kinder wollen sich mit der Welt verbinden, ganz und gar, in einem unbedingten Absolutismus, es ist sozusagen ein unendlich positiver Inkarnationswille. Aber dieser absolut bedingungslose Impuls ... wie schnell kann er gehemmt, abgeschnitten, erstickt werden!

Was ist das Wichtigste, um diesen Impuls lebendig zu halten? Wie bleibt die Liebe zum Lernen, die Liebe zur Welt lebendig?

Es hängt alles an dem inneren Band zwischen Kind und Erzieher. Wenn das Kind den Lehrer liebt, so ist alles gegeben, was diesen Willen zum Lernen lebendig hält. Es braucht nichts anderes. Die Liebe zum Lehrer ist gleichbedeutend mit der Liebe oder dem möglichsten Interesse zu dem, was durch den Lehrer an das Kind herankommt. Die Liebe zum Lehrer führt dazu, dass das Kind positiv und gutwillig mit allem mitlebt, was vom Lehrer kommen wird. Sollte es für einen Teil dieser Welt nicht von vornherein Interesse haben und sich vor gewisse Schwierigkeiten gestellt fühlen, so wird es immer wieder die Liebe sein, die diese Hindernisse überwindet, die Interesse entfacht, die die Augen für die Welt öffnet. Letztlich ist alles interessant, jede Einzelheit dieser Welt, wenn man es nur mit Interesse betrachten kann! Das innere Band zwischen Lehrer und Kind ist diejenige geheimnisvolle Kraft, die immer wieder das Interesse wecken und lebendig zu erhalten vermag.

Der Verlust des inneren Bandes – eine Tragik

Die größte Tragik des Erziehers ist es also, wenn dieses innere Band zwischen ihm und dem Kind nicht entsteht – oder verlorengeht. Es ist, wie wenn der Lebensfaden risse, aus dem sich der ganze lebendige Prozess des Lernens und der Entwicklung nährt. Ein „Stoff“ kann noch so interessant sein – das fehlende, erstickte, zerschnittene Band zwischen Lehrer und Kind erstickt und verlöscht dieses Interesse; es könnte sich nur gegen diese ungeheuerliche Hemmung aufrecht erhalten.

Dagegen kann ein Lebensgebiet noch so uninteressant erscheinen – das lebendige, von Wärme durchströmte Band zwischen Lehrer und Kind wird dieses Interesse doch immer wieder entfachen können – und gegen die Abneigung, die Furcht, das mangelnde Interesse des Kindes für dieses Gebiet wird sich allmählich, zart, aber immer stärker das Interesse entfalten können...

Tragik also ist es, wenn das innere Band zerstört wird; wenn es nicht aufgebaut werden kann, wenn es zerfällt, brüchig wird, sich auflöst...

Bei älteren Kindern, bei Jugendlichen, kann die Bewegung auch umgekehrt sein: Interesse für den Stoff kann ein Band zu dem Lehrer schaffen: Man mag den Lehrer eigentlich nicht, aber man muss unwillkürlich anerkennen, dass er einen interessanten Unterricht macht. Dass das Gebiet, über das er erzählt oder das er auf andere geeignete Weise an die Kinder heranbringt, interessant ist. Und über diese Anerkennung, dass der Lehrer es eigentlich „gut macht“ oder dass er einen interessanten „Stoff“ eröffnet, entsteht auch eine innere Anerkennung. Trotz gewisser Antipathien gegen andere Eigenarten oder Maßnahmen des Lehrers entsteht ein Band, getragen vom Interesse an dem, was der Lehrer an die Kinder heranbringt, und von Anerkennung gegenüber seiner Art und Fähigkeit, wie er dies tut.

Eine ganz besondere Tragik für einen Lehrer liegt nun darin, wenn er sich selbst dieses innere Band „verscherzt“. Wenn er sich eigentlich große Mühe für eine gute Aufarbeitung und Gestaltung des Stoffes macht – und die daraus eigentlich notwendigerweise allmählich sich entwickelnde Anerkennung und Zuneigung durch sein persönliches, menschliches Verhalten gegenüber den Kindern wieder zunichte macht.

Zwei wesentliche Impulse können hierbei eine ganz besondere Rolle spielen: Unsicherheit und Macht. Versucht man zu erleben, was das Wesen jedes dieser beiden Impulse ist, so wird man unmittelbar erfühlen können, dass jeder auf seine Weise dem unmittelbaren Impuls der Liebe, dem realen Wirken der Sympathiekräfte, entgegengesetzt ist.

Das innere Band zwischen Lehrer und Kind besteht in einem inneren Zugehen aufeinander, einem Zusammenhang, der sich von Augenblick zu Augenblick lebendig erneuert. Dieses Band lebt in unzähligen verschiedenen Aspekten, die alle seelische Realitäten sind: in Zuneigung, in Freude, Interesse, Vertrauen, Neugier, Dankbarkeit. Alle Kräfte der inneren Bejahung, des Wachsens und Gedeihens offenbaren sich hier in unendlichen Facetten.

Auch durchgestandene Schwierigkeiten gehören dazu – was wäre das Licht ohne das Dunkel? Gemeinsames Leid kann die Liebe nochmals unendlich vertiefen – wenn die Liebe auch in den schwierigen Stunden des Lebens der tiefste, untergründigste, auch alles Leid durchziehende Strom zu bleiben vermag. Sie kann dann sogar manchmal ganz zu verschwinden scheinen, in Verzweiflung versinken, aber wird dann doch nur um so stärker wieder aus allen Abgründen emporsteigen! Eine solche Auferstehung ist nur der Liebe möglich. Wenn sie aber erlischt, dann ist nichts mehr da, was auferstehen kann...

Kontrolle und Macht

Die innere Beziehung von Lehrer zu Kind, die in dieser Beziehung lebende innere Wärme, ist das alles Entscheidende. Diese Beziehung kann auch durch die mit dem „Stoff“ und der „Didaktik“ verbundenen Fähigkeiten des Lehrers entstehen und wachsen. Aber alles ist umsonst, wenn der Lehrer dies durch menschliche Schwächen und Fehler wieder zunichte macht.

Unsicherheit ist eine Bewegung von den Kindern weg – sie findet keinen wirklichen Zugang zum Kind, sie bleibt vor dem Kind stehen, weicht eigentlich immer ein wenig oder auch stärker zurück. Ein unsicherer Lehrer kann eigentlich kaum ein wirkliches Band zu den Kindern aufbauen – es sei denn, die Kinder selbst können ihm die Angst nehmen. Das innere Band selbst würde ihm die Angst nehmen können – aber dazu muss es erst einmal entstehen.

Mancher andere Lehrer übt über die Kinder eine ganz unverhohlene Macht aus. Für ihn sind die Kinder, trotz aller didaktischer Begabungen, doch eigentlich Wesen, die weniger wert sind, die erst erzogen werden müssen, die lernen müssen; die dasjenige aufzunehmen haben, was er, der Lehrer, ihnen gibt.

Was er an vielleicht „väterlicher Zuneigung“ gegenüber den Kindern empfindet, ist im Grunde nur das Selbstgefühl seiner eigenen „Aufgabe“ und seines „Wohltätertums“ gegenüber den Kinder, die sich nur dank ihm entwickeln und die ihm spätestens später einmal dankbar sein werden – und auch dankbar zu sein haben. Aus einer solchen Einstellung und Vorstellung heraus kann er sich hoch über die Kinder stellen und der festen Überzeugung sein, dass sie in allem seiner Autorität zu folgen und zu gehorchen haben.

Es können sich nun aber auch beide Impulse in einem Menschen verbinden. Der Impuls der Machtausübung kann auch in Zusammenhang mit einer Unsicherheit stehen – mit der Erfahrung oder Vorstellung, man komme anders nicht zurecht.

Nun ist es natürlich ganz offensichtlich, dass ein „Sich-Durchsetzen“ gegenüber Kindern nichts mit einem inneren Band zu tun hat – entweder dieses Band besteht jenseits solcher Situationen ... oder es besteht gar nicht. Ein Lehrer, der den Unterricht vor allem in einer subtilen Atmosphäre fortwährender Kontrolle und Machtausübung „durchführt“, kann kein inneres Band zu den Kindern entwickeln – und vor allem werden die Kinder kein inneres Band zu ihm entwickeln.

Derjenige Lehrer also, der aus dem Drang nach Kontrolle über die Situation zu einer Kontrolle und Machtausübung gegenüber den Kindern greift, schneidet sich selbst den Lebensquell ab, der diese Art von subtiler Gewalt gerade völlig unnötig machen würde.

Besonders abgründig wird es, wenn diese alte Form der Pädagogik als „neue“, völlig rechtmäßige Form von Erziehung hingestellt wird. Dies geschieht, wenn ein Lehrer ein solches auf Macht und Kontrolle basierendes Verhalten nicht als eigene Schwäche erkennt, sondern im Brustton der Überzeugung gerade zu etwas eminent „Pädagogischem“ erklärt.

Wie ist dies möglich? Es ist so möglich, dass der Lehrer behauptet: Kinder brauchen Autorität, und in den Jahren der Pubertät um so mehr. Kinder brauchen Grenzen.

Selbstverständlich ist dies halb richtig. Aber es kommt darauf an, aus welcher inneren Gesinnung so etwas ausgesprochen wird. Es ist wichtig, was für ein Mensch derjenige ist, der dies ausspricht. Denn hier liegt der entscheidende Punkt:

Findet das Kind eine Autorität, die es lieben kann – oder findet es eine Autorität, gegen die es sich auflehnen muss?

In einem bestimmten Alter werden sich die heranwachsenden Kinder gegen vieles, ja vielleicht alles auflehnen. Um so wichtiger aber ist die Liebe! Fehlt diese, so kann es nur zur Katastrophe kommen. Die Liebe des Erwachsenen ist es auch, die erkennt, in welchem Maße das heranwachsende Kind in die Freiheit entlassen werden soll, immer mehr, voller Vertrauen...

Pädagogische Lüge – und das Wesen des Kindes

Autorität ohne Liebe ist rein äußerliche Autorität – und damit Macht. Sie kann gar nichts anderes sein. Ohne die Liebe kann sich Autorität nur auf Macht stützen, oder sie ist nicht vorhanden. Rein äußerliche Autorität wird zur Machtausübung – und damit wird der schmale Grat zu einer „schwarzen Pädagogik“ eigentlich fortwährend überschritten.

Eine Autorität, die von Liebe durchströmt wird, ist etwas vollkommen anders. Nur die Sprache hat dafür bloß dasselbe Wort – und kann so zur Täuschung führen. Eine Autorität, in der die Liebe das Vorherrschende ist, das eigentliche Licht in jedem Handeln, ist keine äußere Machtausübung, sondern es ist jene „natürliche Autorität“, die Rudolf Steiner meinte, wenn er immer wieder von der „geliebten Autorität“ sprach, die ein Kind gerade sucht und auch braucht.

Liebe kann aber nie erzwungen werden – entweder sie strömt frei aus dem Herzen des Kindes dem Erwachsenen zu ... oder nicht. Die Liebe des Kindes ist eigentlich der vollgültige Beweis dafür, dass ein Erwachsener eine „natürliche Autorität“ hat! Und wo die Liebe des Kindes fehlt, ist dies eigentlich fortwährend eine große drängende Frage, ein Aufruf an die innere Selbsterziehung des Erziehers: Wo fehlt Dir die Liebe?

Machen wir uns doch einmal das Wesen eines Kindes klar! Es ist voller Liebe zur Welt! Alles, was nur irgendwie Interesse hervorrufen kann, ruft dieses Interesse hervor. Das Kind ist ein unbändiger Quell von Interesse und Liebe, von inniger Verbindung zu den Dingen. Es ist nicht etwa ein Spiegel dessen, was von außen auf ihn zukommt. Wir Erwachsenen sind dies viel mehr! Bringt ein Kind uns Liebe entgegen, so wird es auch in unserem Herzen warm und hell. Aber warum so oft erst dann!?

Wenn wir uns wirklich klar machen, dass das Kind ein ur-lebendiger Quell von Interesse und Liebefähigkeit ist, dann wird doch ganz offenbar, was alles geschehen sein muss, damit dieser Quell versiegt!

Ein Kind ohne ganz offensichtliches Interesse und ohne ganz offensichtliche Zuneigung und Liebe muss bereits starke, immer wiederkehrende Enttäuschungen erfahren haben. Es muss lange, wiederholte Erfahrungen mit der Lieblosigkeit gemacht haben. Ein Kind, das sich gegen den Erwachsenen stellt, ist zunächst der unmittelbare Beweis dafür, dass uns, den Erwachsenen, die Liebe fehlt! Und wie sehr fehlt sie einem Erzieher, der meinen würde, Kinder müssten kontrolliert werden...

Aber es gibt solche Lehrer. Lehrer, die wütend werden, wenn ein Kind ihnen in irgendeiner Weise zuwiderhandelt. Lehrer, die in allem Einzelnen im Grunde Gehorsam verlangen – gerade auch, wenn sie es so nicht nennen würden! Lehrer, die ihrerseits nie einen einzigen Fehler zugeben würden – weil auch dies ja wieder eine Schwäche wäre...

Diese Lehrer sind so mit der Aufrechterhaltung der von ihnen für nötig gehaltenen „Kontrolle“ und auch ihres eigenen inneren Selbstbildes (von der „guten“, „notwendigen“ Autorität, aber auch dem eigenen Rechthaben in allem Einzelnen) beschäftigt, dass sie überhaupt nicht empfinden können, was sie in vielen Kinderseelen auslösen.

Wir müssen uns wirklich immer wieder klarmachen, dass ein Kind, das keine Liebe zu seinem Lehrer entfalten kann, nicht einfach nur eine „neutrale Haltung“ hat, sondern dass dem unendlich viel vorausgegangen ist. Das Wesen des Kindes ist Liebe, ist Interesse, ist Zuneigung, Annäherung, Begeisterung! Dass wir dies nicht mehr stark, erschütternd und unmittelbar lebendig empfinden können, zeigt nur, wie abstrakt und lieblos unser Bewusstsein, unsere Kultur,  unsere Welt geworden ist. Und all dies lässt die Kinder natürlich nicht unberührt. Aber es ist bereits eine Folge unseres Handelns.

Wenn ein Kind seinen Lehrer nicht lieben kann, ist eine unendliche Enttäuschung vorausgegangen. Dasjenige, was die Liebe in einem Kind erlöschen lassen kann, kann nur selbst etwas Kaltes, Erlöschendes sein. Nicht immer ist es dann nur der Lehrer selbst, es ist eben auch unsere ganze Kultur, die ganze Welt, das System und die Institution „Schule“ und anderes mehr.

Aber der Lehrer könnte die Liebe des Kindes retten – oder er kann sie vollkommen enttäuschen.

Die Sehnsucht des Kindes nach spirituellen Realitäten

Was für ein innerer Schock ist es für ein Kind, wenn es erleben muss, dass der Lehrer keine Liebe hat? Oder wenn es diese Liebe nicht erleben kann – sondern stattdessen Strenge, Härte, Kontrolle? Bloße Strenge, nicht etwa liebevolle Führung, Leitung, Begleitung...

Und es kommt hier überhaupt nicht auf die Vorstellungen und Illusionen des Erziehers an, sondern immer auf das Erleben des Kindes. Denn was nützt Liebe, die nicht erlebt wird? Reale Liebe wird immer erlebt, auf welcher Ebene auch immer – meist ganz unmittelbar, auch trotz manchmal nötiger Strenge. Ein Kind, das keinen Zusammenhang mit dem Lehrer findet, ist der lebendige Beweis dafür, dass es an der Liebe mangelt. Denn wirkliche Liebe wird unweigerlich einen Zusammenhang schaffen, sie überwindet alle Hindernisse, findet gerade die Wege, die gegangen werden müssen, um alle Schwierigkeiten zu überwinden.

Kinder oder ganze Klassen, die resignieren, sind eine Anklage an uns Erwachsene: Warum stellen wir in das Zentrum all unserer Selbsterziehung nicht die Liebe? Die Fähigkeit, das Kind wirklich zu verstehen – nicht nur scheinbar, oder gar „wissend“, was das Kind braucht. Die Fähigkeit das Kind wirklich hervorzulocken – sein Interesse, seine Zuneigung, seine Liebe?

Und nochmals: Diese Liebe, das Vertrauen, die Neugier des Kindes, sie sind eigentlich das Ursprüngliche. Es muss schon viel geschehen sein, wenn sie verschüttet sind und überhaupt erst wieder erweckt werden müssen! Das aber, was diese Liebe des Kindes verschüttet, ist unsere eigene Lieblosigkeit, unsere eigene Unachtsamkeit, unser eigener Mangel an Ruhe, an Interesse, an Neugier, an innerer Freiheit; unser eigener Mangel an einem freien, warmen Leuchten in unseren Augen, in unserem Blick auf die Welt. Wir selbst sind lieblos, und wir sind es, die die Kinder enttäuschen.

Dann braucht man tatsächlich Macht, um die Kinder noch zu bändigen – denn es mangelt einem die Liebe...

Kinder haben auch eine tiefe Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit und nach Gerechtigkeit.

Wer jedoch fortwährend das Gefühl hat, ihm entgleite die Kontrolle, wenn nicht alles – vor allem das Verhalten der Kinder – nach seinen Vorstellungen geht, der kann notwendigerweise nicht den Sinn für Gerechtigkeit oder Wahrhaftigkeit entwickeln. Er wird das, was die leise Stimme des Gewissens zu ihm spricht, übertönen durch seine eigene Vorstellung von dem, was richtig und notwendig ist – und dies wird dann zur Gewohnheit seines Handelns.

Wer die Kontrolle über die Klasse braucht und sie mit äußeren Mitteln erreichen muss, der wird sich nicht darum kümmern können oder wollen, ob im Einzelfall Maßnahmen absolut ungerecht sind. Was ihm im Moment „notwendig“ erscheint, um das Ziel zu erreichen – zum Beispiel „Ruhe“ oder Fügsamkeit –, das ist gerechtfertigt. Dasjenige, was er will, in diesem Moment, erfüllt sein ganzes Bewusstsein. Dasjenige, was ein Kind empfindet, das er wegen einer Kleinigkeit anschreit (und auch alle übrigen Kinder), steht völlig außerhalb seines Bewusstseins. Und er wird sich niemals klarmachen können, dass ein Kind vielleicht diesen einen Moment noch stundenlang, tagelang, ja vielleicht jahrelang in sich herumtragen kann. Und um wie viel mehr Dutzende oder Hunderte solcher Momente!

Wer mit solchen Mitteln die Situation „kontrolliert“, wird nicht selten auch große Schwierigkeiten haben, überhaupt eigene Fehler zuzugeben. Es gibt Lehrer, bei denen die Kinder erleben, dass ein solcher Lehrer nie auch nur irgendeinen Fehler zugegeben hat! Bis zum Letzten wird das Rechthaben behauptet. Nach und nach erleben Kinder an einem solchen Lehrer den Abgrund zwischen Macht und Wahrhaftigkeit.

All diese Dinge lassen die Seele eines Kindes verzweifeln: Mangel an Liebe – Willkür und Macht statt Gerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit – Unwahrhaftigkeit und Rechthaben statt der reinen Wahrheit...

Solche Dinge lassen in ihrem tiefsten Kern jede Menschenseele verzweifeln. Aber wir Erwachsenen haben oft schon gar kein unmittelbares Erleben dessen mehr, dass wir in einer zutiefst lieblosen, machtbetonten und unwahrhaftigen Welt leben. In der Seele des Kindes lebt noch eine ganz unmittelbare, starke, unverfälschte übersinnliche Sehnsucht nach der Realität der Liebe, nach der Realität von Gerechtigkeit und Weisheit, nach der Realität der Wahrheit.

All dies sind Realitäten – aber die Realität des Übersinnlichen kann der Mensch nur dadurch offenbaren, wenn er einen inneren Weg der Selbsterziehung betritt und auf diesem Weg immer weitergeht.

Nur diejenige Seele, die sich wirklich läutern will, kann sich von dieser geistigen Realität erfüllen lassen, mehr und mehr. Nur derjenige Mensch, der wirklich mit starkem Willen nach einer Überwindung seiner Schwächen und Unvollkommenheiten strebt, gewinnt die selbstlose Kraft, die sein Wesen nach und nach zur Offenbarung dieser Realitäten werden lassen wird.

Die unmittelbarsten Erzieher sind die Kinder selbst – Rudolf Steiner hat dies immer wieder betont. Wir müssen nur ernst nehmen, was wir an den Kindern erleben und empfinden könnten. Sie selbst führen uns mit ihrer noch sehr reinen Sehnsucht – diese muss man sehen wollen! – zur Realität des Übersinnlichen.

Das Wesen der Kinder kann uns wieder zu einer realen konkreten Sehnsucht nach Liebe, nach Gerechtigkeit, nach Wahrhaftigkeit führen.

Und dann steht die Aufgabe des erwachsenen Menschen sonnenklar vor uns...