18.03.2011

Ein anderer Mensch werden

Das reale Menschenbild der Waldorfschule zeigt sich im Umgang der Menschen miteinander. Es kommt nicht darauf an, ob man von „Ätherleib“ usw. redet – sofern man dies heute überhaupt noch tut –, sondern ob dies reale Begriffe sind, d.h. ob man mit diesen Begriffen lebt und was das Leben mit diesen realen Begriffen bewirkt. Ein Menschenbild ist nur so real, wie es einen selbst zum anderen Menschen macht. Oder umgekehrt: Nur in dem Maße, in dem man es vermag, sich selbst zu einem anderen Menschen zu machen, kann man sich ein anderes Menschenbild erringen.

Es hat überhaupt keinen Sinn, am Anfang einer Konferenz verschämt-gelangweilt z.B. einen Spruch aus dem „Seelenkalender“ über sich ergehen zu lassen. Es hat aber auch keinen Sinn, sich zu bemühen, ihn in einer möglichst „erhabenen“ Stimmung in sich aufzunehmen, wenn man fast unmittelbar danach in das gewöhnliche Bewusstsein zurückfällt. Rudolf Steiner hat immer wieder betont, wie sehr es darum ginge, beim Überschreiten der Schwelle des Klassenzimmers oder auch des Raumes der gemeinsamen Konferenzen innerlich ein ganz anderer Mensch zu werden.

Darum geht es. Es geht um eine hohe Gesinnung. Es geht um die Fähigkeit, eine solche hohe Gesinnung in sich zu erzeugen, aufrechtzuerhalten, wahrzumachen. Es geht darum, nicht nur in den zwanzig Sekunden eines Seelenkalender-Spruches in einer solchen Gesinnung zu leben, sondern eine dauernde, bleibende Gesinnung daraus zu machen – die wahrhaft eigene Gesinnung, Lebensanschauung. Dann erst erringt man sich ein neues Menschenbild, eine neue Weltanschauung. Man erringt sich selbst einen vollkommen anderen Menschen, man selbst wird ein vollkommen anderer Mensch. Und erst dieser Mensch wird wahrhaft erzieherisch wirken können.

Wer glaubt, zwanzig Sekunden Seelenkalender-Stimmung hätten irgendeine Wirkung, unterliegt einer völligen Illusion. Es kommt vielmehr darauf an, zu bemerken, wie das Bewusstsein sofort danach wieder in die ganze Gewöhnlichkeit hinabfällt. Wie es sich auf die kleinliche Tagesordnung stürzt, in die kleinlichen Sympathien und Antipathien zurückfällt, in das genervte, kaltherzige, träge, bequeme, enge, abstrakte, intellektuelle Denken und Fühlen, das wir alle so gut kennen, weil es uns überall umgibt und zunächst auch durch und durch eigen ist.

Rudolf Steiners ganze Anthroposophie ist ein einziger großer Aufruf, sich aus diesem alltäglichen Bewusstsein zu einem höheren zu erheben. Schon lange bevor dieses Bewusstsein etwa ein schauendes wäre, beginnt es mit einer hohen Gesinnung. Diese hohe Gesinnung entspricht der Ahnung oder sogar dem deutlichen Wissen von dem hohen Wesen des Menschen. Eine hohe innere Gesinnung ist gewissermaßen der feste Entschluss, dieses hohe Wesen des Menschen wahrmachen zu wollen, von ihm zeugen zu wollen; und es ist auch schon der kräftige Schritt, dies zugleich auch zu tun. Ohne eine hohe, edle Gesinnung in der eigenen Seele braucht man von einem spirituellen Menschenbild gar nicht zu sprechen. Denn ohne diese Gesinnung kann man zwar viel Gerede produzieren, dem dann aber keinerlei Realität entspricht.

Menschenkunde ohne hohe Gesinnung – sogar schädlich!

Eine menschenkundliche Arbeit ohne die entsprechende hohe Gesinnung als Grundlage dieser Arbeit hat entweder nur Alibi-Funktion, ist also verlogen, oder macht die Seele sogar auf schleichende Weise unmoralisch, denn man eignet sich – wenn man es halbwegs ernsthaft betreibt – ein spirituelles Wissen an, ohne den Boden der Seele entsprechend zu bereiten.

Das Gegenteil einer hohen Gesinnung ist die gewöhnliche Seelenstimmung, die alltägliche Gesinnung, die von Abstraktheit bis zur Teilnahmslosigkeit geht. Eine menschenkundliche Arbeit, bei der die innere Einstellung auch nur in irgendeiner Weise im Bereich des Gewöhnlichen bleibt, ist entweder vollkommen fruchtlos und sinnlos oder wirklich schädlich.

Nicht die menschenkundliche Arbeit allein ist die Grundlage der Waldorfpädagogik, sondern die hohe Gesinnung, die sowohl die Grundlage dieser Arbeit sein muss, als auch immer mehr und tiefgehender eine Frucht dieser Arbeit wird, wenn diese in rechtem Sinne geschieht. So ist also die Gesinnung das Alpha und Omega, der Anfang und zugleich das Ende der Wege einer solchen Arbeit.

Eine hohe Gesinnung ist die höchste und schwerste und zugleich immer auch erste Aufgabe eines Waldorf-Kollegiums. Genau diese Aufgabe wird fast immer versäumt. Vergessen, verdrängt, zu leicht genommen. Aus Angst vor dem Geist, aus Scham, aus innerer Ablehnung. Unser aller Seele ist zunächst so stark vom Verstand bestimmt, dass sich fast alles gegen eine solche hohe Gesinnung auflehnt. Alle Gegenkräfte rotten sich zusammen, und diese Gegenkräfte sind eben die Bequemlichkeit, die Scham, die Angst. Man will in dem verbleiben, was man so gut kennt, worin man sich so meisterhaft bewegt: das intellektuelle Verstandesdenken, die damit so wunderbar einhergehende Unverbindlichkeit.

Moral erträgt der intellektuelle Verstand, wenn sie in Form von Sekundärtugenden daherkommt, also: Verlässlichkeit, Pünktlichkeit, Engagement und so weiter. Eine hohe, moralische Gesinnung, eine moralische Atmosphäre erträgt der Intellekt nicht. Denn wenn die ganze Gesinnung moralisch wird, in Moral getaucht ist, dann offenbart der Intellekt sein a-moralisches Wesen, und das kann er natürlich nicht ertragen. Intellekt und Moral können nicht nebeneinander existieren, einer muss den anderen verdrängen – oder verwandeln...

Erst wenn wir uns zu dieser hohen moralischen Gesinnung erheben, bekommt die anthroposophische Menschenkunde überhaupt einen Sinn, wird sie mehr als Alibi-Beschäftigung und Geplapper bzw. bestenfalls ein Hantieren mit geisteswissenschaftlichen Begriffen, deren wahren Inhalt man überhaupt nicht erfasst.

Ein Waldorflehrer, der glaubt, man könne die Menschenkunde betreiben, ohne das Alltagsbewusstsein so gut wie möglich komplett abzulegen, gleicht ganz und gar einem Schüler, der glaubt, man könne einem Menschen gegenüberstehen und ihm zuhören und gleichzeitig Kaugummi kauen, ohne dass dies etwas mit der Seele macht.

Die jungen Menschen warten – und verzweifeln

Die heranwachsenden jungen Menschen warten auf erwachsene Menschen, die eine solche hohe Gesinnung in sich ausbilden und damit wahrhaft anfangen, etwas vom wirklichen, wahren, höheren Wesen des Menschen zu offenbaren. Dass es solche erwachsenen Menschen nicht gibt oder fast nicht gibt – auch unter Waldorflehrern nicht mehr –, das lässt die jungen Menschen wirklich verzweifeln. Dieser Prozess mag noch so unbewusst bleiben, seine Wirkungen zeigen sich täglich.

Selbst wenn ein Lehrer begeistert für sein Fach ist und den Unterricht und die Schüler liebt: Wenn er sich nicht auch im Übrigen verwandelt, wenn er gegenüber Kollegen oder Eltern in menschlichen Schwächen verbleibt oder in sie zurückfällt, dann lässt auch das die Schüler innerlich verzweifeln, so sehr sie diesen Lehrer äußerlich vielleicht auch lieben werden. Im tiefsten Inneren suchen sie doch immer den wahren Menschen, der sich nicht nur in Liebe und Begeisterung zum Fach, zum Unterrichten und zu den Schülern zeigt, sondern in allem Menschlichen, im Umgang mit allen Menschen, in jedem einzelnen Augenblick, eben in einer wahrhaft hohen menschlichen Gesinnung, die einem zur innersten Natur geworden ist.

Ein solcher Mensch hat das Natürliche, das Gewöhnliche hinter sich gelassen und hat sich das wahrhaft Menschliche ganz aus eigener Kraft wirklich angeeignet. Ecce homo – siehe der Mensch!

Eine hohe Gesinnung, ein klares Bewusstsein des wahren Menschentums; dessen, was es wirklich bedeutet, Mensch zu sein – das erwarten die jungen Menschen von uns! Das ist der allererste Auftrag der Waldorfschule.

Bemüht man sich nicht, in diesem Lichte um Selbsterziehung, ist alles andere, was man tut, nur Illusion und Selbstbetrug – ein trüber Schein des Ideals inmitten einer unverwandelt bleibenden Alltagswelt.

Und so lang du das nicht hast
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Sich selbst ernst nehmen

Es geht nicht um Vollkommenheit, aber um das Streben nach Vollkommenheit! Sobald der Mensch eine erste Ahnung von diesem wahren, höheren Menschentum bekommt, entwickelt er auch ein Bewusstsein für das Ausmaß des Weges, den er vor sich hat... Je leuchtender das Ideal wird, das er erkennt, desto weiter wird der Weg dorthin.

Dies kann die Seele mit einem Schrecken erfüllen. Sie kann sogleich wieder davor zurückschrecken, sich überhaupt auf den Weg zu machen! Das ist ein natürlicher Reflex – er gehört zu den Widerständen, die aus der unverwandelten Natur aufsteigen. Und ein solcher Widerstand ist notwendig, er ist eine Prüfung der Mutkräfte – und Mut braucht es, sich auf den Weg zu machen (das gilt eigentlich fast immer)!

Gerade in unserer Zeit braucht es sogar sehr großen Mut, eine hohe Gesinnung zu entwickeln – also z.B. in sich das Streben nach Selbsterziehung und Vervollkommnung stark zu machen. Man ist nicht nur weit entfernt davon, ein guter, edler Mensch zu sein, sondern das Gute, Edle wird heute überhaupt belächelt!

Was hat man denn davon!? Nichts! Ein solches Streben wird heutzutage als wertlos betrachtet. Ganz abgesehen davon, dass es viel zu anstrengend und öde ist. Warum sich um andere kümmern? Warum an seinen eigenen Schwächen, Egoismen, Lastern, Lüsten usw. arbeiten, wenn alle anderen Spaß haben und all dies geradezu ausleben? Ja, und dann kommen noch die Vorwürfe hinzu, die einem gemacht werden, wenn man sich auf diesen Weg begibt. Sie können die verschiedenste Gestalt annehmen und brauchen natürlich nicht einmal offen ausgesprochen zu werden (Softi, Weichei, Helfer-Instinkt, will sich beliebt machen, tut wie ein Heiliger usw.).

Und den vielleicht größten Mut braucht man heute, um wirkliche Ehrfurcht zu entwickeln – selbst in der Waldorfschule! Ein guter, edler Mensch ist ja immerhin noch für vieles „zu gebrauchen“, er macht sich ja doch oft beliebt, ob er will oder nicht, aber Ehrfurcht...?

In wie viel ungezählten Kollegien macht man fortwährend die Erfahrung, wie schwer es ist, Ehrfurcht zu entwickeln, wenn man genau weiß, der Nachbar verdreht die Augen beim Namen „Rudolf Steiner“, ein anderer korrigiert Hefte, zehn andere sind ohnehin nur halb dabei und so weiter! Wie soll man da Ehrfurcht entwickeln? Jedes Bemühen in dieser Richtung wird ja verspottet – und sei es nicht mit Worten, so doch durch Taten!

Der Mut wächst auf dem Weg

Und dennoch: Worauf es zuallererst ankommt, ist doch, sich selbst ernst zu nehmen – die Sehnsucht der eigenen Seele. Jenes vielleicht kleine, obere Eckchen der Seele, das wirklich, zweifelsfrei dieses innere Streben nach weiterer Vervollkommnung hat. Wenn man sich dieses ganz bestimmten Bereiches der eigenen Seele einmal durch und durch versichert hat, kann man sich auch frei dazu entschließen, genau diesem Teil der Seele Beachtung zu schenken und zu folgen – und nicht all jenen Anteilen, die aufgebracht brüllen: Halt! Achte nicht darauf! Bleib, wie du bist, das ist doch gut! Du handelst dir nur Ärger ein! Und so weiter...

Entscheidet man sich, sich zu dem wahrhaftigsten Teil der Seele zu bekennen – jenem Teil, der sich nach dem Geist sehnt –, so kann es nicht ausbleiben, dass dieser Teil auch stärker wird und sich entwickelt. Daran erweist sich seine Wahrhaftigkeit und Realität, und dies kann einem doch Mut geben! Man bekennt sich zu dem edelsten Anteil seiner Seele, und dieser Anteil gewinnt dadurch die Kraft, sein Wesen weiter zu entfalten.

Dieser Anteil unserer Seele wartet auf uns! Auf unser Bekenntnis zu uns selbst! Wir müssen uns zu unserem höheren Wesen in Freiheit bekennen. Tun wir dies, dann wächst uns auch der Mut, uns auf den Weg zu machen. Wir müssen nur zuerst überhaupt entdecken, dass da etwas ist, was wirklich diese Sehnsucht hat, unsere ureigenste Sehnsucht – und die Fähigkeit, unsere ureigenste Fähigkeit...

Wenn man sich einmal auf den Weg gemacht hat, wächst einem auch der Mut. Der erste Schritt ist zugleich der schwerste – das Bekenntnis zum inneren Streben, gegen alle Widerstände von innen (der eigene Intellekt, der ganz gekonnt die Saiten der Scham bespielt usw.) und von außen (der Intellekt der anderen Menschen). Hat man sich zu einem moralischen Schulungsweg bekannt und begonnen, an sich selbst zu arbeiten, erlebt man unmittelbar, wie einem dies – neben aller sich vertiefenden, oft sehr unschönen Selbsterkenntnis – eine innere Stärke schenkt. „Uns kann wohl wachsen der Mut“, heißt es im Weihnachtsspiel, und es gilt auch hier.

In der heutigen Zeit gilt es als Zeichen der Stärke, seine Schwächen auszuleben, und zwar nicht im Sinne von „Schwächen zeigen/zugeben“, sondern geradezu als Stärke zu verkaufen: „Ich bin nun mal so, und ich habe ein Recht darauf!“ – Wer den Weg der Selbsterziehung betritt, weiß aus sicherer, eigener Erfahrung, dass die größte Stärke darin liegt, die eigenen Schwächen mehr und mehr zu verwandeln. Und auch wenn das, was man auf diesem Weg entwickelt und entwickeln will, noch so sehr gegen den „Zeitgeist“ geht – wie z.B. eine immer mehr zunehmende Fähigkeit zur Ehrfurcht – und also belächelt und verspottet werden wird: Man lässt sich nicht mehr von außen bestimmen, man bestimmt seinen Weg selbst. Gerade das schenkt einem all jene Stärke, die es braucht, um seinen Weg fortzusetzen. Man ist auf diesem Weg nicht allein...