16.11.2010

Positiv, aber nicht spirituell... – Zum Waldorfkongress in Mülheim

Rückblick auf den Waldorfkongress „Spirituelle Impulse in der Erziehung“ in Mülheim vom 12. bis 14. November 2010.


Inhalt
Appelle und gemeinsame Beschwörungen?
Selbsterziehung – allerhöchstens als Gedanke?
Das Klare bleibt unklar – die Grundlage als vages Anhängsel?
Anthroposophie lächerlich gemacht
Verständnis für die Katastrophe


Appelle und gemeinsame Beschwörungen?

Am Wochenende fand in Mülheim ein großer Kongress der Waldorfbewegung statt, der das Motto trug: „Spirituelle Impulse in der Erziehung“. Für eine Waldorfbewegung ist dies das essentiell wichtige Thema, ist doch die Waldorfpädagogik ihrem Wesen nach durch und durch eine spirituelle Pädagogik – von der Menschenkunde bis zur Selbsterziehung des Erziehenden.

Um so tragischer ist es, dass unter einem solchen Motto im wesentlichen doch nur fortwährend wiederholt wurde, was selbstverständlich ist (oder sein sollte): Wir brauchen Begeisterung, Freude, Begegnungsfähigkeit... Ist das schon die Spiritualität, die das Lebensblut der Waldorfbewegung sein sollte? Nein, es kann allenfalls eine Frucht dieser Spiritualität sein – oder eine in gewissem Umfang geschenkte natürliche Gabe einzelner Lehrer.

Begeisterung, Freude und die Fähigkeit zu echter, wahrer menschlicher Begegnung – ja, sie sollten alles durchdringen, was täglich als Waldorfpädagogik in die Welt tritt. Aber es hilft nicht viel, daran zu appellieren. Man greift zu kurz, wenn man glaubt, man könnte sich gegenseitig begeistern, wenn man begeistert von Begeisterung spricht. Das mag einige Tage lang tragen, die ersten Tage, die einem solchen Kongress nachfolgen. Aber spätestens nach einer Woche oder – schon vorher – nach der nächsten kleineren oder größeren Erschütterung im Alltag ist wieder alles oder fast alles dahin... Appelle oder gemeinsame „Beschwörungen“ nützen wenig, wenn man nicht auch die Mittel und Wege in die Hand bekommt, auf denen diese wunderbaren und notwendigen Früchte reifen können – und zwar immer mehr, stark und dauerhaft. Darauf kommt es an, und hier erst liegt die Spiritualität der Waldorfpädagogik.

Selbsterziehung – allerhöchstens als Gedanke?

Es geht also um die Selbsterziehung. Man kann nicht immer wieder einmal zwischendurch darauf hinweisen, dass „alle Erziehung Selbsterziehung“ sei und dann dennoch von Selbsterziehung im Grunde nicht sprechen! Man kann doch nicht einerseits die absolute und erste Grundwahrheit aller Erziehung anerkennen und dann nicht darauf achten. Es ist, als wenn diese Wahrheit (wenn überhaupt) im Kopf bliebe, aber nicht den Willen ergreift. Kennen nicht gerade wir sogar wunderbar menschenkundlich diese immerwährende Falle? Wissen wir denn nicht, dass die Willensschwäche heute die grundlegende Menschheitsfrage ist? Warum tun wir selbst so wenig dagegen?

Oder glaubt man wirklich, man wäre schon im Willen, indem man an die Begeisterung appelliert und sich durch einen großen Kongress gegenseitig dieser Begeisterung „versichert“? Wir wissen doch eigentlich ganz genau, dass dies zu bequem ist! Letztlich reden wir uns dabei nur immer mehr ein, es gehe sogar wunderbar doch ganz ohne Selbsterziehung! Denn man glaubt dann, Selbsterziehung wäre schon dies Wenige: Sich immer wieder einmal die Begeisterung ins Bewusstsein zu rufen. Wenn man dann am nächsten Tag gut gelaunt und motiviert vor der Klasse steht, glaubt man schon, man habe doch ziemlich viel Selbsterziehung betrieben...!

Ist es denn das? Kann man das wirklich glauben? Natürlich ist auch das Selbsterziehung, das ganze Leben ist immer wieder eine Art (Selbst-)Erziehung, aber die wirkliche Selbsterziehung beginnt doch erst da, wo etwas ganz anderes beginnt. Sie würde zuerst einmal ein klares Bewusstsein von dem riesengroßen Feld der Selbsterziehung voraussetzen, also Selbsterkenntnis. Ist es denn nicht deutlich, dass sich hier sofort ganz viele Felder eröffnen? Und dass selbst die Frage der Begeisterung oder der menschlichen Begegnung noch nicht einmal ansatzweise wesenhaft erfasst wurde, wenn ich glauben kann, dass mit Motivation, Interesse und Zuhören schon vieles erreicht wäre? Ich muss an das Wesenhafte herankommen – und dazu muss ich zunächst einmal bereit sein für die Erkenntnis, dass Selbsterkenntnis und Selbsterziehung anstrengend und schwer sind; dass sie nicht nebenbei „zu haben“ sind, sondern einen Willen erfordern, den man zunächst gar nicht hat! Und dieser ganz neue Wille muss für tiefe Besinnung eingesetzt werden, in ruhigen (langen) Augenblicken der täglichen Besinnung und Übung.

Wenn man dann einen solchen Weg der Selbsterkenntnis betritt, wird man erst wirklich zu den entscheidenden Fragen kommen. Man wird erst dadurch immer mehr entdecken, was Selbsterziehung eigentlich ist, sein kann und sein soll. Man wird erst dadurch wirklich verstehen und erkennen, welche Wege es gibt, um zu einer Selbstverwandlung zu kommen. Dann muss man auch diese Wege aber erst noch betreten.

Das Klare bleibt unklar – die Grundlage als vages Anhängsel?

Ich spreche hier von dem Weg des reinen Denkens. Offensichtlich ist es so, dass man das Wesen und die Bedeutung dieses Weges nicht einmal verstehen kann, wenn man sich darum nicht bereits sehr, sehr energisch bemüht. Dann aber ist es selbstverständlich, dass man in all diesen Fragen größten Illusionen und angenehmen Selbsttäuschungen unterliegt.

Das reine Denken, der Übungsweg des reinen Denkens, ist der sichere, wissenschaftliche anthroposophische Schulungsweg, den Rudolf Steiner gegeben hat. Er müsste gegangen werden, wenn man es mit Selbsterziehung so ernst meint, wie Rudolf Steiner sie meinte – indem er zugleich auf das wahre Menschenwesen hinwies. Man kann also nicht von alledem reden – Menschentum, Anthroposophie, Ehrfurcht und Verantwortung –, wenn man die Tiefe leugnet, in der die Grundbedingung der Selbsterziehung zunächst verstanden werden müsste. Man kann nicht von Erziehung sprechen und dann von Selbsterziehung nur reden bzw. noch nicht einmal das. Das wäre wie Religion ohne Religiosität und ohne auch wirklich geübtes Gebet. Es kommt alles auf die Grundlage an! Auf dasjenige, was das Lebensblut sein sollte.

Es gab während des Kongresses einen Punkt, an dem diese Grundlage fast hätte deutlich werden können – das war das Ende von Herrn Landls Abschlussvortrag. Dort erwähnte er den wissenschaftlichen Weg der Anthroposophie zur Verwandlung des Denkens, Fühlens und Wollens; die Befreiung aus der Leiblichkeit, die eigentliche Entfaltung der Seelenfähigkeiten, während sie jetzt wie das Korn verzehrt, aber nicht in fruchtbaren Boden gelegt werden. Damit endete der Kongress. Wer nicht schon wusste, was gemeint war, wusste es auch jetzt nicht. Und wer es wusste, wusste es ebenfalls nicht – denn auch die „Kenner“ von Rudolf Steiners Äußerungen werden immer nur meinen, zu wissen, wovon er spricht. Wenn man es wirklich weiß, weil man es erfährt und täglich übt, muss man doch Wege suchen, um diese allerwichtigste Wahrheit in den Mittelpunkt aller weiteren Bemühungen zu stellen?

Stattdessen gab es also alles mögliche andere, gab es Allgemeinheiten, durchaus Erbauliches usw. – aber nicht das Notwendige, abgesehen von diesem einen vagen, ebenfalls allgemeinen Ausblick ganz am Ende des Kongresses. Es gab (in meinen Augen) sogar unter den zahllosen Arbeitsgruppen nur eine einzige, die ein wirklich spirituelles Thema hatte: „Innere Bedingungen der Lehrerbildung“. Herr Garbe, Leiter des Waldorf-Fernseminars Jena, wies immerhin auf die zentrale Bedeutung der Selbsterziehung hin. Über Rudolf Steiners Hinweis zur Bedeutung des Lehrer-Temperaments kam die Gruppe aber auch nicht hinaus. Und sie hatte nur sieben Teilnehmer!

Anthroposophie lächerlich gemacht

Wie tragisch die gesamte Situation der Waldorfbewegung ist, mag auch der „Jargon“ eines der Vortragenden zeigen, der schilderte, wie seine vierjährige Enkelin sich zu einem Geburtstag, zu dem sie eingeladen war, als Sankt Michael verkleidete (sie hatte Michaeli kurz zuvor im Kindergarten erlebt). Der Vortragende kommentierte: „Das war eine klare Ansage, das war ihr Geburtstagsdress.“ Und er fügte hinzu, in solchen Erlebnissen sei für ihn biografisch das Motiv bzw. die Antwort auf die Frage gegeben: „Woher beziehe ich meinen Enthusiasmus, mich mit Kindern abzugeben?“.

Man mag hinterher immer sagen, das sei so nicht gemeint gewesen, es habe humorvoll sein sollen oder sei etwas unglücklich ausgedrückt gewesen usw. – Ich frage mich aber in jedem dieser Fälle: Wo ist da die wirklich ernste und wahrhaftige Ehrfurcht? Für mein Erleben ist da nur ein Hohlraum in Bezug auf diese echte Ehrfurcht...

Ein noch schlimmeres Beispiel von angeblichem „Humor“ gab ein anderer Vortragender. Er sprach in Anlehnung an Rudolf Steiner zunächst von dem außerordentlich bedeutsamen Impuls der Rosenkreuzer, die Selbsterkenntnis und Selbstentäußerung geübt hätten, indem sie sich auf ihre jeweiligen Charaktereigenschaften besonnen und sich gefragt hätten, auf welchem Felde und aus welchen Gründen sie diese entfalten (z.B. Fleiß) – und dann bewusst auch das Gegengewicht dieser Eigenschaft ins Auge gefasst hätten. Und dann sagte der Redner:

„...wenn ich nicht fleißig wäre, sondern saturnisch; bedächtig. Sie haben sicher gedacht ‚faul’! Unter Anthroposophen nennt man das ‚saturnisch’...“

Man ist sich einfach nicht bewusst, was man mit solcher Art von „Humor“ anrichtet! Man zieht ernsteste Dinge – eigentlich die gesamte Anthroposophie – ins Lächerliche! Es ist ein absoluter Blödsinn, was da gesagt wird, und man glaubt noch, humorvoll zu sein!

Ausgerechnet dieser Mensch – einer der Leiter der „Akademie für anthroposophische Pädagogik“ in Dornach! – schrieb mir vor fast genau einem Jahr einen wütenden Brief, als meine Buchbesprechung von „Eine Klasse voller Engel. Über die Erziehungskunst“ in der Schweizer Zeitschrift „Gegenwart“ erschienen war (sein Kollege Thomas Stöckli schrieb dann für die Schweizer anthroposophische und auch noch die Waldorfzeitschrift einen fanatischen Verriss). In diesem Brief heißt es, mein besorgter Hinweis auf das mangelnde Bewusstsein der Lehrerschaft für die notwendige Spiritualität zeige „einen beängstigenden Realitätsverlust“ und man könne meine Rezension nur „dazu nutzen, eine Fallstudie zu Verblendung und Agitation damit anzustellen.“!

Verständnis für die Katastrophe

Ich habe auf diesem Kongress wieder einen sehr, sehr deutlichen Eindruck von dem Bewusstsein der Lehrerschaft erhalten. Positivität und Begeisterung durchaus, Spiritualität nicht. Selbst diejenigen, die sich anmaßen, die Spiritualität nach außen hin zu vertreten, geben die Anthroposophie der Lächerlichkeit preis. „Unter Anthroposophen nennt man das ‚saturnisch’...“ – Und wie es um die Positivität bestellt ist, bekam ich am Rande mit, als zwei Vertreter verschiedener Lehrerseminare in eine Diskussion darüber gerieten, dass ein Beitrag 15 Minuten zu lang geplant sei und dem anderen die nötige Zeit wegnehmen würde. Die beiden Männer waren nicht in der Lage, sich zu einigen oder auch nur freundlich miteinander zu sprechen, einander zuzuhören. Das kurze Gespräch endete so, dass der eine der beiden „voller Vorwürfe über die Vorwürfe“ einfach wegging. Das also ist die beschworene Positivität in der Praxis...

Es ist viel die Rede von „anthroposophischer Pädagogik“. Wie soll es eine anthroposophische Pädagogik geben, wenn die Selbsterziehung in dieser Pädagogik gar keine Wirklichkeit hat? Es ist auch von der Christlichkeit der Waldorfpädagogik die Rede. Wie kann sie christlich sein, wenn ihre äußere Form gar nicht von christlichem Streben nach Selbstverwandlung durchdrungen wird? Wenn es dieses Streben nicht gibt, herrschen die Widersacher – überall da, wo menschliche Schwäche waltet. Menschliche Schwäche waltet da, wo die wahre Menschlichkeit noch nicht erreicht ist. Meist aber wird sie ja nicht einmal angestrebt! Da walten die Widersacher mit absoluter Übermacht: In der völligen Lähmung des Strebens, sogar in der völligen Verdunkelung der Erkenntnis, dass das Christliche erst in diesem Streben wahrhaft gefunden werden könnte.

Natürlich ist auch „Verständnis für die Schwächen“ christlich – aber um diese Frage geht es hier überhaupt nicht! Ich habe für alles Verständnis und liebe wirklich all die Menschen, denen ich auf diesem Kongress begegnet bin, auch in den Pausen. Man kann für alles Verständnis haben – sogar noch dafür, dass die Menschheit in die völlige Katastrophe hineingeht. Man kann für Selbstmörder, für Attentäter, für Drogenopfer, für Verräter, für Dogmatiker usw. Verständnis haben – für die allergrößte menschliche Tragik und Schuld. An Verständnis muss es nie fehlen. Aber was hilft alles Verständnis, wenn die Menschen im Banne ihrer eigenen Schwäche bleiben? Wenn die Widersacher sie von klarer Erkenntnis und kräftiger Willensentfaltung fernhalten? Von der Erkenntnis des eigentlichen übersinnlichen Kraftquells? Von der eigentlichen Grundlage der Waldorfpädagogik? Verständnis kann man haben – aber was hilft es?

Es kommt auf die Erkenntnis und den Willen an, auf das Aufwachen! Sonst bliebe nur das hilflose „Verständnis“ für eine immer größer werdende Katastrophe... Es müssen Menschen aufwachen und zu wirklichen Geistesschülern werden! Nur dadurch ist für die Welt, auch die Welt der Waldorfbewegung, eine Zukunft zu erhoffen.