26.10.2010

Leicht oder leichtsinnig?

Der scheidende Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum, Christof Wiechert, hat ein seltsames Büchlein geschrieben. Der Untertitel lautet: Eine Ermutigung zum (Waldorf-)Lehrerberuf. Im Vorwort schreibt Robert Thomas:

In diesem Buch wird die Waldorfpädagogik als eine Pädagogik der offenen Türen dargestellt; keine Lehre, kein „Man muss“ oder „So ist es“, sondern ein nachvollziehbares Eingehen auf die praktischen und innerlichen Seiten des Schullebens: leicht und gleichsam tiefsinnig. [...] Am Ende der Reise fühlt man sich gestärkt, reicher, und die Lust, mit neuem Griff zu unterrichten, wird fast unerträglich.“


Genauso kommt es auch daher: Leicht und gleichsam tiefsinnig, nicht wirklich tiefsinnig. Anders als der Titel vielleicht vermuten lässt, wendet es sich sehr deutlich an tätige Waldorflehrer. Damit aber offenbart der ganze Inhalt sehr deutlich, wie es heute real um die Waldorfpädagogik und -bewegung steht. Die Realität als solche darf nicht offen ausgesprochen werden – dies wird dann totgeschwiegen und bekämpft (siehe diese Seiten und meine Entlassung) –, aber der scheidende Sektionsleiter veröffentlicht ein Büchlein, das die innere Katastrophe wenden will – „leicht und gleichsam tiefsinnig“...

Die Katastrophe besteht darin, dass die Anthroposophie und die Notwendigkeit der Selbsterziehung heute in der Waldorfbewegung fast keine Rolle mehr spielen – und wo noch eine innere Sehnsucht nach oder eine Erkenntnis von deren Notwendigkeit besteht, wendet man nicht die notwendige Kraft auf, um Wege gemeinsamer Vertiefung zu suchen.

Indem die Waldorfbewegung (in Person: ihre führenden Vertreter) dieses Problem bis heute totschweigt, macht sie die eigene Katastrophe unausweichlich. Man findet sich mit der Katastrophe ab und sagt im Grunde: Was eigentlich die notwendige Grundlage der Waldorfpädagogik ist, kann nur jedem selbst überlassen bleiben. Und dann kommt man mit der passenden „Methode“ der Präsentation daher: „leicht und gleichsam tiefsinnig“, freilassend, als „Angebot“...

Es ist wahr, dass Selbsterziehung nur selbst gewollt und getan werden kann. Es ist aber auch wahr, dass sie eine notwendige Grundlage der Waldorfpädagogik ist. Wie gehen wir damit um? Man muss voraussetzen, dass Menschen, die Waldorflehrer werden wollen, genau diese Grundlage ergriffen haben oder ergreifen wollen. Das meint man, heute nicht mehr voraussetzen zu können – angesichts der Realität einer Schulbewegung von 200 Schulen, die teilweise nicht einmal mehr „Nicht-Waldorflehrer“ findet... Und so wird nahezu jeder durch die Ausbildungen geschleust und findet auch in den Schulen keine wirkliche innere Arbeit statt – diese innere Arbeit fällt also aus der Realität ganz heraus, es entsteht eine absolute Stagnation, mehr und mehr gilt dann die bloße Arbeit mit den „Elementen“ als „Waldorfpädagogik“.

Rudolf Steiner jedoch hätte Schulen, die derart die Grundlagen missachten und meinen, mit (den) „Elementen“ auskommen zu können, verboten, sich mit demselben Namen zu benennen.

Es handelt sich um den klassischen naturalistischen Fehlschluss: Vom Sein wird auf das Sollen geschlossen. Es gibt doch „Waldorfschulen“ – also sind es auch Waldorfschulen. Mit anderen Worten: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Es darf doch nicht sein, dass existierende Waldorfschulen keine Waldorfschulen mehr sind? Also kann es auch nicht sein, und wer entsprechende Sorgen äußert, ist bestenfalls ein Nestbeschmutzer, schlimmstenfalls ein Gegner – nicht nur ein Kritiker, sondern ein Gegner, und zwar eben nicht nur des Bestehenden, sondern auch des Gewollten und des Idealen, denn es wird ja alles angeblich immer schon gewollt...

Die Realität ist jedoch: Es wird vieles nicht gewollt, aber dennoch immer wieder „Waldorfschule“ genannt. Und dann kommt man mit freilassenden Angeboten, doch dies oder jenes ein wenig mehr zu beachten, es würde schließlich sogar „Lust aufs Lehrersein“ machen. Verschweigt man die Notwendigkeiten, kann man sich nur noch an das Lustprinzip wenden und behaupten, dies entspräche der individuellen Freiheit...

Vom freilassenden Moralisieren

Wiechert beginnt sein Büchlein mit der gedanklichen Schilderung des Ganges eines Lehrers durch das Schulgebäude. Er sieht einige kaputte Kleiderhaken und anderes, was einmal getan werden müsste, aber es gehört nicht zu seiner Klasse... Doch auf dem Pausenhof wird ihm endgültig klar: Man kann alles

...auf zwei Weisen ansehen: die spielenden Kinder, den Gesamteindruck, aber auch mit dem Blick eines Fremden. Wie sieht es denn eigentlich aus? Sind die Sträucher nicht total zertreten? Liegt nicht tatsächlich viel Dreck im Hof herum?
Er beginnt aufmerksam zu werden auf das, was er eigentlich sehen kann. Und mit der erwachten Aufmerksamkeit verbindet sich wie von selbst das Gefühl der Verantwortung, der Mitverantwortung für das Ganze der Schule. Da fällt ihm ein, dass es (meist ältere) Kollegen gibt, die das haben, diese Aufmerksamkeit, und die auch danach handeln. Wenige Worte werden darüber verloren, wenn sie ein Stück Papier aufheben, einen gefallenen Mantel aufhängen oder dafür sorgen, dass eine kleine Reparatur stattfindet.
Der Lehrer nimmt sich vor, diesen Blick, der etwas Abstand erfordert, festzuhalten. Er versucht nun, in den Pausen nicht nur wie gewohnt seine Wege zu gehen, sondern sich seine Schule genauer anzusehen. Nicht nur seinem Klassenzimmer gilt nunmehr seine Aufmerksamkeit, sondern dem Ganzen.
Nachdem das eine Welle mit täglichem Sich-selbst-Erinnern (und auch ab und zu Vergessen) zu einer gewissen Gewohnheit geworden ist, stellt er fest, dass ihm das neu Gewonnene gut tut; das Gefühl der Mitverantwortung drückt nicht auf ihn, im Gegenteil.
(Wiechert, S. 12f)


Solcherart sind die „freilassenden“ Schilderungen. Manche mögen diesen Stil als angenehm oder sogar anregend finden – ich finde ihn gerade in höchstem Maße moralisierend. Denn es wird scheinbar von einer dritten Person gesprochen, in Wirklichkeit aber ist natürlich immer der Leser der Adressat. Nimmt er sich selbst nun nicht ebenfalls innerlich vor, diesen Blick zu entwickeln, so muss er sich sogar als „schlechter“ als dieser Kollege empfinden. Aber selbst wenn er sich dies nunmehr vornimmt, wurde ihm deutlich gespiegelt, dass er bis jetzt etwas übersehen hat, was „ältere Kollegen ganz selbstverständlich tun“, er wird sich also auch dann schlecht fühlen – und von Freiheit kann überhaupt keine Rede sein.

Was ist denn das Kennzeichen des Moralisierens? Ein gewisser, subtiler Zwang, der gerade daraus hervorgeht, dass man etwas aussagt, was nicht eigentlich als Befehl oder Aufruf gemeint ist, damit also Scheincharakter bekommt, scheinheilig wird.

Was ich auf diesen Webseiten sage, ist gerade deshalb nicht moralisierend, weil ich von Tatsachen und Notwendigkeiten spreche. Man kann sich dann noch immer schlecht fühlen, wenn man diese Notwendigkeiten nicht selbst in Freiheit ergreifen will, aber es ist nicht moralisierend, sondern gerade deshalb wahrhaft freilassend, weil es ganz offen von den Notwendigkeiten spricht, die erfüllt sein müssten, wenn man wahrhaft von Waldorfpädagogik sprechen wollte. Wiechert spricht im Grunde auch von Notwendigkeiten, aber er schildert sie so, als wären sie der Freiheit des Einzelnen überlassen. Gerade dadurch, dass er es scheinbar völlig freilassend schildert, wird es scheinheilig und moralisierend.

Es ist der Freiheit des Einzelnen überlassen, es ist aber zugleich auch eine Notwendigkeit. Das Paradox löst sich, indem eine Waldorfschule nur dann eine Waldorfschule ist, wenn das Notwendige, was eine Waldorfschule zuinnerst ausmacht, getan wird – sonst ist sie keine Waldorfschule. Man kann sich frei entscheiden, ob man eine Waldorfschule sein will oder nicht – aber man sollte dann auch wahrhaftig sein und sagen, dass man keine ist...

Wenn das Notwendige als notwendig geschildert wird, ist es freilassend. Wenn das Notwendige scheinbar freilassend geschildert wird, macht es unfrei und ist scheinheilig und moralisierend. Nicht die Worte („freilassend“) zählen, sondern die Realität...

Erkenntnis auf Abstand?

Ich möchte jetzt einzelne Aspekte von Wiecherts Büchlein betrachten, die auf Wesentliches hinweisen.

In dem zitierten Abschnitt heißt es:

„Der Lehrer nimmt sich vor, diesen Blick, der etwas Abstand erfordert, festzuhalten.“


Im Grunde trifft dieser Satz genau den Kern der „anthroposophischen Krankheit“, die darin besteht, dass die Anthroposophie völlig missverstanden wird und missverstanden bleibt.

Was ist das nur für ein merkwürdiges, kühles Konstrukt, welches hier als Erkenntnis der Wirklichkeit bzw. als Bedingung, die Wirklichkeit wirklich zu sehen, hingestellt wird? Einmal sieht man die spielenden Kinder, taucht ganz ins Geschehen unter – und einmal schaut man distanzierter, mit dem Blick eines Fremden, mit „etwas Abstand“, und sieht, wie der Pausenhof eigentlich aussieht!?

Auf diese Weise ergibt sich eine Art Gegensatz zwischen dem „ganzheitlichen“ Miterleben des Pausengeschehens und dem distanzierteren Zustand der erwachten Aufmerksamkeit, in dem erst die wirkliche Verantwortung zu finden ist. Ausgesagt wird, dass ich erst aus einer gewissen Distanz heraus für Details aufmerksam werde, zu denen ich mich dann verantwortungsvoll verhalten kann.

Im Grunde schildert Wiechert hier die Tragik des modernen Bewusstseins: Es ist gerade dieses Bewusstsein, das, geprägt vom Intellekt, aus dem Zusammenhang herausfällt. Dadurch sieht es die Einzelheiten, und der Mensch kann dann natürlich auch „Verantwortung übernehmen“, aber Anthroposophie wäre etwas vollkommen anderes – im Grunde das Gegenteil des Geschilderten.

Rudolf Steiner beschreibt gerade, wie der anthroposophische Schulungsweg es immer mehr möglich macht, in das wirkliche Weltgeschehen einzutauchen. Und schon der wahrhaft gesunde, noch unverfälschte Menschenverstand müsste an der kühlen Distanz der obigen Schilderung leise erschrecken. Denn es besteht wahrhaftig kein Gegensatz, nicht einmal eine feine Kluft, zwischen dem warmen Miterleben des Pausengeschehens und dem Sehen von Abfall oder zertretenen Sträuchern. Wie sollte man auch wirklich die Freude der Kinder erleben können, wenn es einem nicht zugleich möglich wäre – mit der gleichen Wärme des Eintauchens in die Realität –, einen zertretenen Strauch zu sehen!?

Wenn Wiechert Recht hätte, bräuchte man doch die gleiche Distanz, um inmitten des Pausenhofgeschehens „im Detail“ zu bemerken, dass ein Kind traurig ist. Dafür braucht man aber keine Distanz, sondern man muss gerade ganz in das Geschehen eintauchen können – denn inmitten dieses Geschehens bemerkt man die Einzelheiten, immer genauer, tiefer und intensiver, je mehr man eintauchen kann.

Die Distanz gibt einem auch einen Blick für die Einzelheiten, aber man verliert dabei etwas – nämlich den wirklichen Zusammenhang zwischen sich selbst und der Welt. Dadurch verliert man aber auch sich selbst, denn in dem Maße, in dem man der Welt fremd wird, wird man auch sich selbst fremd – selbst wenn man es vielleicht zunächst gerade gegenteilig empfindet. Der Intellekt führt einen in die Distanz, und die Distanz beschränkt den Menschen immer mehr auf den Intellekt, er verliert das Fühlen und Wollen.

Wiechert beschreibt zwar, dass der Mensch nun aus der Distanz heraus für die erkannten Details Verantwortung übernehmen kann und dass ihm das sogar gut tue – aber in dieser Richtung ist es ein blindes Sich-Bewegen in Symptomen. Natürlich tut es dem Menschen gut, wenn er sein Fühlen und Wollen nicht verliert! So moralisierend wie Wiechert es aber hinstellt, würde es der Mensch doch trotz allem verlieren, zumindest aber nicht wahrhaft wiederfinden...

Der anthroposophische Weg sucht und findet den ganzen Menschen gerade im Untertauchen in die Welterscheinungen. Dieses Untertauchen und überhaupt das Verwirklichen der Anthroposophie hat aber eine Grundbedingung: Die Verwirklichung des reinen Denkens. Solange man nicht erkennt, dass man über Anthroposophie nicht eben mal so schreiben kann, dass eine Art „leichte und gleichsam tiefsinnige“ Lebens- und Berufsberatung herauskommt, wird man die lebendige Anthroposophie nicht finden können – und weiterhin glauben, dass „Abstand“ notwendig sei, um einen zertretenen Strauch zu erkennen oder zu sehen, wie etwas eigentlich aussieht...

Erst durch das verwirklichte reine Denken findet der Mensch wahrhaft sich selbst. Er gewinnt einen Abstand zu sich selbst und wird zugleich ganz und gar eins mit sich selbst. Beides hat er vorher nicht gekannt, denn es wird ein zweiter Mensch geboren. Und dieser ist es, der der Welt ganz anders gegenübersteht, als Wiechert es beschreibt. Wiechert mag in seinem Büchlein auch irgendwo von einem „zweiten Menschen“ sprechen, aber es sind bei ihm leider nur Worte, denn er kennt ihn nicht, sonst würde er nie so schreiben, wie er es tut.

Die Realität einer Schulbewegung ohne Selbsterziehung

Wiechert beschreibt dann weitere fiktive Situationen und entwickelt Gedankengänge, die – selbst wenn sie teilweise überspitzt sind – alle zeigen, dass die damit verbundene Problematik in den Waldorfschulen nicht nur existiert, sondern allgegenwärtig ist.

Ja, wenn ich als Fremder mir das ansehe, frage ich mich: findet hier wohl Unterricht statt? Bin ich vielleicht so ordentlich, dass ich eigentlich ein ... Pedant bin? (S. 17)

Das kann dann z.B. dazu führen, dass der Lehrer bei einer Ungezogenheit eines Kindes nicht sofort (wie immer) mit einer Rüge, sondern ganz originell reagiert, vielleicht sogar mit einem Witz. Das wiederum kann ungemein belebend auf die Atmosphäre der Klasse wirken. (S. 19)

Wie merkt man aber, ob man „steif“ geworden ist in seinen Gewohnheiten? In der eigenen Seele kann man es dadurch erfahren, dass einen die Handhabung des Unterrichtsalltages leise anzuekeln beginnt. (S. 19)


All dies sollten Selbstverständlichkeiten sein – Selbstverständlichkeiten in einer Schule, die sich Waldorfschule nennt und damit den Anspruch erhebt, Erziehungskunst im Sinne von Rudolf Steiner zu verwirklichen. All dies sind Dinge, die sofort in den Blick geraten, wenn man auch nur die ersten Schritte auf dem Weg der Selbsterziehung macht. Warum werden solche Trivialitäten erwähnt? Weil es heute keine Trivialitäten sind, weil heute nicht einmal die ersten Schritte auf diesem Wege wirklich gemacht werden – obwohl sie Grundlage jeder Erziehungskunst sind! Im Grunde ist Wiecherts positiv daherkommendes „Begeisterungs-Handbuch“ also doch eine kaum notdürftig verhüllte Offenbarung der wahren Katastrophe der Waldorfbewegung.

Und ich sage es wiederum: Der Sündenfall der Waldorfbewegung ist, dass man sich dies nicht offen, als Katastrophe, eingesteht. Vielmehr werden wahrscheinlich in zehn Jahren weitere Ratgeber mit noch trivialeren Ratschlägen erscheinen! Oder aber – es werden sich Menschen finden, die es mit der Grundlage der Selbsterziehung, mit der Anthroposophie, ernst meinen – wirklich ernst meinen – und gemeinsam einen ganz neuen Anfang setzen...

Später liest man Sätze wie diesen:

Das Einzige, was mir als Erzieher über meine Vorurteile Eltern gegenüber hinweg hilft, ist das Interesse. (S. 51)


Abgesehen davon, dass auch dieser Satz wieder viel über die tatsächliche Situation an Waldorfschulen verrät, ist er auch noch falsch – und verrät sogar ebensoviel darüber, warum die Situation so ist. Denn auch dieser Satz ist viel zu verkürzt dargestellt, er impliziert eine gewisse Selbsterziehung, missachtet sie aber im Grunde dennoch.

Bevor man Interesse entwickelt, kann und muss man – wenn es um die Selbsterziehung geht –, bereits die Vorurteile an sich auslöschen. Man muss die Unbefangenheit, das Nicht-Urteilen lernen! Wie kann man darüber denn bloß hinweggehen, wenn man schon ausdrücklich von Vorurteilen spricht!? Das Interesse kann und soll dazukommen, aber ich kann sehr wohl ein sehr interessierter Mensch sein und werden und dennoch voller Vorurteile durch die Welt gehen! Wahres Interesse kann ich erst entwickeln, wenn ich wirklich lerne, mehr und mehr mein Urteil ganz zurückzuhalten.

Dann spricht Wiechert über die Frage: Wie gewinnt man Sicherheit im Umgang mit der Anthroposophie?

Da weist er zunächst darauf hin, dass man bei Texten von Steiner die Erfahrung machen könne, „dass wenn man ‚nur’ liest, sich der Inhalt einem nicht eröffnet und im Lesen die Gedanken dabei abschweifen. [...] Man merkt: den Inhalt muss man verstehen wollen.“ Dann weist er die Wichtigkeit der Wiederholung hin:

Man nimmt sich denselben Text noch einmal vor, später noch einmal und „lauscht“, was er in einem bewirkt. Es ist ein rhythmisierender Vorgang. Man könnte ihn auch Meditieren nennen: man beginnt, mit dem Inhalt zu leben. (S. 61)


Wie kann man den Begriff der Meditation nur so ins Nebelhafte verflachen, der Beliebigkeit anheim fallen lassen!? Was ist jetzt Meditation? Mit dem Inhalt zu leben? Nach dem Sich-den-Text-Vornehmen einmal in sich zu „lauschen“? Wie nimmt man sich den Text vor? Wie lauscht man? Lebt man dann überhaupt schon wahrhaft mit dem Inhalt? Und was soll der sehr fachlich wirkende Terminus „rhythmisierender Vorgang“? Drei kurze Sätze, und schon beginnt man mit dem Inhalt zu leben? Auch das ist Abstraktion...

„Mich zum konstruktiveren Mitglied machen“?

Im Abschnitt über die Pädagogische Konferenz schreibt Wiechert:

Wenn viele Menschen zusammenkommen, ändert sich unser individuelles Verhalten. [...] [A]uf einmal sind wir nicht mehr Ich, sondern ein Teil des Wir. „Mal sehen, was heute wieder geschieht.“ – Als ob man nicht selber die Konferenz mitgestaltet, als ob man Zuschauer ist in eigener Sache. „Kollege X“ wird wieder das große Wort führen, also wird nichts weitergehen.“ – Als ob das kollegiale Miteinander in der Konferenz ein Gegeneinander wäre. [...] Der ganze Zirkus menschlicher Unzulänglichkeiten kann in der Konferenz in peinlich greller Beleuchtung sichtbar werden. [...] Diese Erfahrung kann so deprimierend wirken, dass das Kollegium sich entschließt, nach neuen Formen zu suchen, nachdem festgestellt wurde, dass immer mehr Kollegen die Konferenz versäumen. [...] Kurz, Zersplitterung setzt ein, und zwar dergestalt, dass die allgemeine, die pädagogische Konferenz ausgehöhlt wird, ihre Kraft ganz verliert. (S. 32f)


Herr Wiechert würde dieses Schreckensszenario nicht beschreiben, wenn er nicht genau wüsste, dass es an unzähligen Schulen längst die Realität ist...

Wenige Seiten weiter heißt es:

Ein weiterer Gedanke, mich zu einem aufgeschlosseneren und konstruktiveren Mitglied der Konferenz zu machen, kann diese Überlegung sein: Bevor ich mich zu Wort melde, kann ich mich fragen: Werde ich etwas sagen, was in diesem Augenblick wirklich zum Gespräch gehört? Ist das, was ich sagen will, wirklich sachgemäß? [...] Man kann sagen, im Konferenzgespräch ist eine erhöhte Tätigkeit des Ich-Sinnes vonnöten; ein heftiges Fluktuieren von „Schlafen und Wachen“, von Wahrnehmung des Anderen und Selbstwahrnehmung. (S. 39)


Auch dieser kleine Absatz offenbart wieder eine ganze Reihe von Symptomen der „anthroposophischen Krankheit“. Diese Krankheit besteht darin, dass Anthroposophie abstrakt verstanden und abstrakt „verwirklicht“ wird – und das heißt in beiden Fällen gar nicht. Man spricht von etwas, was man mit „Anthroposophie“ in Zusammenhang bringt, aber man schafft eine Illusion – sich selbst und allen anderen, die damit in Berührung kommen. Diese Illusion verklebt einem die Augen und das Herz, man wird immer blinder in Bezug auf den leisen Ruf der wirklichen Anthroposophie. Man hält das Abstraktum für die Wirklichkeit und fühlt sich wunderbar ... anthroposophisch, freilassend, fördernd, verstehend, entwickelnd...!

Wie ungeheuer entzieht schon der erste Satz dem Leser seine Menschlichkeit! Sehr „freilassend“ wird formuliert: „Ein weiterer Gedanke ... kann diese Überlegung sein“ – man empfinde, wie freilassend das ist! Aber das Freilassende wird geradezu zur Phrase, weil man es schon so oft gehört hat. Nun würde echte Nahrung natürlich jeden Tag wieder nähren, Phrasen und andere Abstraktionen nähren die Seele jedoch nicht, sondern trocknen sie aus.

Und dass es sich um eine Abstraktion handelt, zeigt ihr Inhalt: „Mich zu einem aufgeschlosseneren und konstruktiveren Mitglied der Konferenz zu machen“! Wer will mich denn da zu einem konstruktiven Mitglied machen? Ich mich selbst? Herr Wiechert mich? Freilassende Anregung? Oder spricht Herr Wiechert von sich, in der stillen Hoffnung, dass wir mithören und einige seiner hilfreichen Gedanken ebenfalls übernehmen?

Nein, er spricht allgemein, im abstrakten Ich-Stil, der eigentlich „man“ und „sich“ meint, also hier allein schon aus diesem Grund scheinheilig und moralisierend ist. Und gerade in dieser allgemeinen Formulierung, verschwindet das Ich – es soll sich auf einmal zu einem „konstruktiveren Mitglied“ machen (wollen). Kann man empfinden, wie hier mit der wirklichen Individualität gar nicht gerechnet wird, weil alles so abstrakt formuliert ist? Kann man hier empfinden, wie ein falsch verstandener freilassender Stil gerade in die Abstraktheit hineinführt oder umgekehrt: wie man nur aus einer Abstraktheit heraus glauben kann, ein solcher Stil wäre freilassend oder man müsse so schreiben?

Und wiederum: Es handelt sich um Trivialitäten. Wenn ich – ich selbst! – mich wirklich zu Aufgeschlossenheit und Aufmerksamkeit erziehen will, um mein Bestes beizutragen, dann komme ich sofort und unmittelbar zu jenen Fragen, von denen Wiechert meint sagen zu müssen, es solle eine besondere Überlegung sein, geradezu eine Übung.

Es ist selbstverständlich wahr, dass jede Selbsterziehung auch eine Frage der Übung ist – aber ebenso eine Frage der Gesinnung. Wenn ich wahrhaft eine innere Selbsterziehung anstrebe, dann ist allein schon dieses Streben etwas, was nach kurzer Zeit vieles gleichsam fast von selbst verwandelt, was man sonst nach monatelanger Übung von „Elementen“ nicht verwirklichen würde. Das Geheimnis ist der innere Wille. Auch hier gilt wieder jenes wunderbare, St. Exupéry zugeschriebene Zitat:

Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer.

- Wahrheit und Irrtum über die Begeisterung

Es ist nahezu sinnlos, jedenfalls vollkommen menschenunwürdig (d.h. mir selbst unwürdig), den Ansatz zu wählen, „mich zu einem konstruktiveren Mitglied der Konferenz“ machen zu wollen. Was soll das? Der Mensch soll ein freies Wesen werden – er soll seine Taten von ganzem Herzen lieben und feurig tun lernen! Wenn ich mein Bestes für die heutige Konferenz und die ganze Schule tun will, dann wohlan! Dann spreche ich aber nicht von „mich zu einem konstruktiveren Mitglied machen“!

Wie in der Waldorfpädagogik selbst geht es auch hier nicht um die Elemente, sondern um die Essenz! Je mehr man von den Elementen redet, desto mehr verliert man die Essenz und sogar den Blick auf die (vielleicht längst verlorene) Essenz. Man rede also nicht von dem Element, „sich konstruktiver an der Konferenz zu beteiligen“ oder was auch immer, sondern man frage sich, woher ein Mensch vielleicht diesen Wunsch haben könnte, was der Ursprung dieser Sehnsucht ist, wovon sie ein Element ist. Man helfe den Menschen, sich ihre Sehnsucht nach Selbsterziehung bewusst zu machen, und man säe Keime für diese Begeisterung, man lege Feuer in die Herzen der Menschen, damit sie wieder wissen, was Sehnsucht ist, was vielleicht längst ihre Sehnsucht ist – und was das wirkliche Wunder der Selbsterziehung und der Menschwerdung ist...

Dann schreibt man aber ganz anders! Dann schreibt man nicht: „Ein weiterer Gedanke, mich zu einem aufgeschlosseneren...“ – Kann man denn nicht empfinden, wie dieses ganze „Freilassende“ nicht nur scheinheilig ist, sondern durch seine Abstraktheit geradezu jede Begeisterung von vornherein ausschließt? Ist es möglicherweise (auch so eine „Freilassungs-Phrase“) gerade deshalb „freilassend“, weil es abstrakt ist? Der Intellekt lässt den Menschen ja grundsätzlich frei. Wenn man dies aber zur Grundlage seines Handelns und Schreibens macht, übersieht man, wie sehr der Intellekt und die Abstraktion den Menschen in Wahrheit unfrei machen, weil sie ihn in der negativen Freiheit gefangen nehmen – sie halten ihn frei auch von aller Begeisterung, die doch so notwendig ist!

Die Quelle für den Irrglauben, dass ein solcher abstrakter „freilassender“ Stil heute notwendig wäre, liegt eben in dem Irrtum, zu glauben, dass ein begeisternder Stil unfrei machen würde! Aber die erste Unfreiheit liegt schon in der Meinung, man müsse „freilassend“ schreiben. Seit wann muss man? Man will freilassen, aber muss sich selbst einem Schema unterordnen? Nein, man muss nicht abstrakt und subtil moralisierend schreiben. Man darf es auch gar nicht, wenn einem die Freiheit wirklich wichtig ist! Man verleugnet damit doch geradezu sein eigenes Herz und das, was man dem anderen sagen will?

Der Irrtum ist, zu glauben, dass ein begeisternder Stil unfrei machen würde. Wenn es um reine Wahrheiten geht, hat es natürlich wenig Sinn zu sagen: Die Erde ist eine wunderbare Scheibe, glaubt es mir doch! Eine Wahrheit muss man aus ureigenster Einsicht erkennen, und die Begeisterung kann sich nur auf die Wahrheit selbst richten, also unabhängig vom Inhalt nur auf die Frage: was ist wahr?

Anders ist es, wenn es um notwendige Gefühle geht. Schon die Begeisterung für die Wahrheit kann und soll man vermitteln! Erst recht aber Begeisterung für anderes. Wenn ich also andere Menschen gewinnen will, ein Schiff zu bauen, werde ich nicht sagen: „Ein weiterer Gedanke kann die Überlegung sein, Holz zu beschaffen...“

Rudolf Steiner hat nie versucht, die Menschen von den Wahrheiten, die er schilderte, zu überzeugen. Er schilderte sie einfach, wie sie sind – aber er tat es nicht abstrakt und nicht in der scheinbar „freilassenden“ Art, die heute so üblich ist. Er sprach über die Dinge so, dass sich in der Seele die Sehnsucht entzündet. Er sprach begeisternd, ohne zu begeistern! Aber auf der anderen Seite begeisterte er auch: So sprach er in den pädagogischen Vorträgen zum einen sehr „nüchtern“ (aber nicht abstrakt!) über die Notwendigkeit der Ehrfurcht, der religiösen Stimmung, der Begeisterung und schilderte einfach, was dies im Verhältnis zwischen Lehrer und Kindern für Wirkungen hat – und an anderen Stellen begeisterte er so, dass man all dies nicht nur aus Einsicht verwirklichen wollte, sondern weil man unmittelbar diese Begeisterung aufnehmen wollte.

All dies ist in völliger Freiheit möglich. Rudolf Steiner hat nie Propaganda gemacht und nie gezwungen. Man kann sich nie begeistern lassen, wenn man es nicht will. Gerade die Begeisterung ist heutzutage, wo wir ihren absoluten Missbrauch hinter uns haben, vor jedem Missbrauch besser geschützt als alles andere. Sie ist heute schon so „geschützt“, dass man gar nicht mehr an sie herankommt, weil man Angst vor ihr hat! Und man hat Angst davor, andere zu begeistern, weil man dem Irrglauben verfallen ist, das würde unfrei machen...

Hitler hat die Menschen in blinde Begeisterung verführt – sie wussten nicht, wozu er diese Begeisterung missbrauchen würde, und als sie ihr einmal verfallen waren, waren sie blind. Rudolf Steiner hat immer ganz klar angegeben, was welche Wirkungen hat, was notwendig ist, was die Bedingungen der Freiheit sind und so weiter. Wie können wir glauben, dass wir, wenn wir dies auch nur ansatzweise zur Kenntnis nehmen, unfrei werden oder unfrei machen könnten? Wir machen uns nur dann unfrei, wenn wir die Begeisterung ausschließen – denn dann können wir in keinem Fall zum Vollmenschlichen kommen.

Wenn man dann aber vielleicht ein wenig begeistert, aber dennoch abstrakt über die Anthroposophie spricht, tötet man sie trotzdem. Und man kann nur abstrakt sprechen, wenn man sie entweder wie ein bekanntes Wissen behandelt oder ganz verkürzt wiedergibt. In dem letzten Satz der oben zitierten Stelle tut Wiechert beides:

Man kann sagen, im Konferenzgespräch ist eine erhöhte Tätigkeit des Ich-Sinnes vonnöten; ein heftiges Fluktuieren von „Schlafen und Wachen“, von Wahrnehmung des Anderen und Selbstwahrnehmung. (S. 39)


Wie kann man den Ich-Sinn, diesen „heiligsten“ Sinn nur in solcher Form voraussetzen und ansprechen? Es ist, als wäre er das Normalste auf der Welt! Und er dient ja auch nur noch der Zusammenfassung, es wird das zuvor (abstrakt) Gesagte nur noch einmal in die „anthroposophische Terminologie“ gegossen. Wenn man doch nur die Empfindung dafür hätte, dass man es in dieser Weise einfach nicht machen kann, nicht machen darf! Dann könnte ein wirklicher Aufgang stattfinden, ein Aufgang der wirklichen Anthroposophie in den Herzen der Menschen, die sich nach ihr sehnen und heute durch eine Illusion abgespeist und verklebt werden.

Die Abstraktion zeigt sich schon daran, dass von einer „erhöhten Tätigkeit“ die Rede ist! Nicht nur, dass es ein geradezu technisch-biologistischer Begriff ist. Nein, die noch wichtigere Frage ist doch: Wieso überhaupt erhöht? Der Ich-Sinn müsste doch in jeder menschlichen Begegnung gleich stark tätig sein? Wenn er irgendwo nicht tätig ist, gelingt eine wahrhafte Begegnung doch immer nicht? Was soll hier der Hinweis auf eine erhöhte Tätigkeit? Oder ist der Unterschied zu einer Begegnung mit zertrampelten Büschen gemeint?

Und was soll dann schon im nächsten Halbsatz der Zusatz von dem „heftigen Fluktuieren von Schlafen und Wachen“? Dieser Zusatz ist bis auf seinen sensationellen Charakter nahezu sinnlos, weil dieser Vorgang gerade in diesem „heftigen Fluktuieren“ ganz unbewusst abläuft – es ist einfach eine phrasenhafte Hinzufügung „anthroposophischen Wissens“, die die Seele des Lesers nicht nährt, ihm auch in keinster Weise hilft, sondern nur sein Empfinden für lebendige Anthroposophie weiter abtöten wird.

Fehlgeleitete und fehlleitende Ausbildungen

In Bezug auf die „Quellentexte“ schreibt Wiechert etwas später:

An diesem Beispiel können wir wahrnehmen, dass der Umgang mit den Quellentexten, mit den Aussagen Steiners, nicht festlegt, sondern Entwicklung fördert und weiterführt.
Dieses Streben führt dann wie von selbst zu der Einsicht, dass die Quellen – richtig angeschaut – immer mehr an Aktualität gewinnen: Selber habe ich die Erfahrung gemacht, dass alle Probleme der Schulen heute schon im Keim in den pädagogischen Werken und in den Konferenzen angesprochen sind. (S. 84)


Auch dies ist wiederum nichts anderes als eine Offenbarung der heutigen Situation: Man wehrt sich gegen Rudolf Steiners Texte, weil man sie gar nicht mehr kennt bzw. in der Arbeit damit schlechte Erfahrungen gemacht hat, sich eingeengt fühlte, Dinge nicht verstanden hat und so weiter. Kein Verständnis, kein Wollen in Bezug auf die Anthroposophie, nicht einmal mehr in Bezug auf die pädagogischen Vorträge und Texte...

Man sieht nicht, dass jede Abwehr von Rudolf Steiners Worten immer nur die eigene Schwäche offenbart. Entweder weil man ihn missversteht (z.B. Anregungen als Vorgaben) oder weil man sich für das Verständnis gar nicht besonders anstrengen will, oder weil man das, was notwendig und wirklich den Kindern gemäß wäre (was man sogar erkannt hat), gar nicht verwirklichen will oder, oder, oder... Es gibt natürlich zahllose Entschuldigungen, und natürlich kann man immer nur aus Freiheit weiterstreben – nur muss man auch sehen wollen, dass all dies ein ungeheures, aber auch wunderbares Feld der Selbsterziehung wäre, wenn man sich nur begeistern könnte...

Die Selbsterziehung ist das Großartigste, was ein Mensch in seinem Leben entdecken kann. Und die Anthroposophie gibt dieser Selbsterziehung dann zugleich einen Inhalt, wie er großartiger nicht sein kann. Nur muss man dies überhaupt sehen lernen, um sich begeistern zu können. Wenn man es nicht sieht, wird jede Beschäftigung mit der „Anthroposophie“ zu einer Beschäftigung mit einem furchtbaren Zerrbild, das einem alle möglichen Schrecken einjagt, die aber alle aus dem eigenen Unvermögen herrühren.

Hier kommt man fast zwangsläufig auch zur Frage nach der Lehrerbildung. Wenn es derart viel Desinteresse und sogar Abwehr gegenüber der Anthroposophie und sogar den pädagogischen „Quellentexten“ gibt, muss die Ursache in den Ausbildungen gesucht werden. Denn dann ist es schon in den Ausbildungen misslungen, einen wirklichen Zugang zu eröffnen!

Eine solche Wahrheit will man heute erst recht nicht hören. Denn so wie jeder in der Konferenz von sich selbst glaubt, „dass er immer nur aus der Sache heraus spricht“ (Wiechert), so glaubt natürlich auch jede Ausbildungsstätte, dass sie die Studenten bestmöglich auf den Lehrerberuf vorbereitet. Und selbst wenn es den Dozenten vor Ort doch sehr wohl bewusst ist, wen sie da alles „durchschleusen“, würde man nie öffentlich darüber sprechen – womit wir uns wieder mitten im Sündenfall der Waldorfbewegung befinden.

Was aber ist die Ursache für dieses Unverständnis und diese Abwehr gegenüber der Anthroposophie? Die Ausbildungen vermitteln die Anthroposophie abstrakt und dogmatisch! Das Freilassende, was heute üblich ist, ist gerade abstrakt – und es ist gerade dogmatisch! Denn durch die Abstraktion, die heute allgegenwärtig ist (Wiechert, Schieren, Stöckli usw., und dies sind ja alles führende Vertreter!), kommen die Studenten von vornherein nur mit einer Karikatur der Anthroposophie in Berührung. Diese kann nur dogmatisch erscheinen, weil sie von vornherein unwahr und leblos ist. Das ist der Grund für die Abwehr, denn später findet man den wahren Zugang aus sich selbst heraus dann nicht mehr, schon gar nicht gegen kollektive Widerstände im übrigen Kollegium...

Man dürfte in der Ausbildung gar nicht mit „Theosophie“, „Menschenkunde“ und so weiter kommen! Man müsste mit den Studenten eigenständig Erfahrungen erarbeiten – mit ihnen selbst zu Erkenntnissen kommen. Dies würde jede Dogmatik vermeiden, und die „Quellentexte“ wären dann am Ende eine großartige Bestätigung und Erweiterung dessen, was man selbst entdeckt und erlebt hat. Um eine solche Ausbildung zu machen, fehlen den Dozenten aber die Fähigkeiten (und vor allem: der Mut und der Wille, es anders zu machen – sie würden die notwendigen Fähigkeiten schon entwickeln) – also macht man weiter wie bisher...

Freilassend wirkungslos

Natürlich geht es Christof Wiechert um die Waldorfpädagogik. Die Frage ist nur immer: Wie ist etwas formuliert? Wie ist es erfasst? Ist die Idee abstrakt erfasst, kann sie auch nur abstrakt vermittelt werden. Dann aber erreicht sie die Menschen nicht, wird sie gar nicht vermittelt – nur ein Zerrbild.

Natürlich kann man auch mir und meinen Texten einen ganz anderen Vorwurf machen. Ich würde ja auch nicht wirklich vermitteln können, mit so viel „Kritik“, die man nur zurückweisen könne. Das ist aber Unsinn. Kritik muss man nie zurückweisen – nur wenn sie unberechtigt ist. Ob das, was ich sage und worauf ich hinweise, wahr ist, muss jeder selbst beurteilen. Ich kann hier nur noch einmal betonen, dass es mir nicht darum geht, konkrete Menschen zu kritisieren, sondern darauf aufmerksam zu machen, wie geschrieben und gedacht und was dadurch nicht erkannt und verwirklicht wird. Wenn ich dabei so scharf auf manche Veröffentlichungen „führender Vertreter“ eingehe, dann deshalb, weil sie symptomatisch sind, weil es Äußerungen führender Vertreter sind und weil es sich um ein kollektives Schweigen angesichts der angesprochenen Probleme handelt (während mein – privates – Sprechen mich inzwischen sogar meinen Arbeitsplatz bei den „Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners [!]“ gekostet hat).

Christof Wiechert wagt es in seinem Büchlein, „heilige Kühe“ der Waldorfbewegung in Frage zu stellen, indem er die Frage nach der pädagogischen Relevanz, also der Beziehung zum innersten Impuls der Pädagogik aufwirft. Dazu gehören das Achtklassspiel und der rhythmische Teil. Und er schreibt:

Was würde mit den Kindern geschehen, wenn man einmal für ein Jahr mit dem Handarbeitsunterricht aussetzen würde? Oder mit dem Werkunterricht? Oder mit dem Gartenbau? Würde sich nicht eine intensivere und freudigere Arbeit am Gegenstand einstellen, wenn man sie nicht immer macht? Ein richtiges Gleichgewicht entsteht, wenn das (freudige) Erlebnis des Lernens in einem Verhältnis steht zur erlangten oder erreichten Fertigkeit. Immer müssen wir uns fragen, ob unser Unterricht den richtigen Anschluss an das Leben der Schüler hat, oder ob es schon vorkommt, dass ein gewisser Zwang vorhanden ist, der die Relevanz, die pädagogische Wirksamkeit zunichte macht? (S. 99)


Die Frage nach der Unterscheidung zwischen Form und Impuls, die Wiechert hier wiederum äußerst freilassend stellt, könnte man wesentlich wahrheitsgemäßer aussprechen, indem man darauf hinweist, dass eben heute die äußere Form absolut verfestigt ist.

Es ist doch die große Frage, ob die freilassenden Fragen des scheidenden Sektionsleiters irgendeine Änderung bringen werden – oder ob es notwendig wäre, die Situation ehrlich zu benennen. Natürlich schmerzt scharfe Kritik am meisten – doch wenn sie wahr ist, kann allein ein solcher wahrhaftiger Weckruf zu einer Veränderung führen. Gerade dadurch, dass er scheinbar unbarmherzig ist, ist er barmherzig, denn wenn man sich durch ihn erschüttern ließe, würde die Heilung auf dem Fuße folgen.

Die heutige Situation ist doch gerade durch die absolute Vorherrschaft der erstarrten Form gekennzeichnet. Wie sollte da eine freilassende vereinzelte Frage irgendeine Änderung herbeiführen können? Diese freilassende Frage ist nicht mehr als ein Windhauch gegen eine Mauer erstarrter Vorstellungen – und Herr Wiechert beschreibt doch selbst ganz genau, wie es konkret in den Konferenzen aussieht! Was will man denn erwarten, wenn die Quellentexte nur noch größere Abwehr erregen, wenn man in der Konferenz nicht wagt, ein „Ich“ zu sein, wenn man Angst vor Veränderungen hat, ohnehin überlastet ist und so weiter?

In Wirklichkeit stimmt doch auch Herr Wiechert in das allgemeine Lied des „Weiter so, wir sind großartig“ ein – auch wenn er jetzt zum Ende seiner Tätigkeit als Sektionsleiter gut begründet bemerkenswert viel in Frage stellt. Die Frage ist aber doch, wie man die Gesamtsituation beurteilt und ob man es dann auch offen auszusprechen wagt. Wenn Herr Wiechert immer noch meint, das Glas sei halb- oder sogar dreiviertelvoll, dann soll er das tun. Ich hoffe nur, es ist nicht allein einer dogmatischen Überzeugung geschuldet, man müsse immer „freilassend“ und „positiv“ sein – ich befürchte es aber. Denn schon aus seinem eigenen Büchlein geht zwischen den Zeilen sehr, sehr deutlich hervor, dass das Glas (der inneren Substanz) der Waldorfbewegung nahezu vollkommen leer ist.

Was ich unter innerer Substanz verstehe und welche Bedeutung ich ihr beimesse wird auf diesen Seiten deutlich. Vielleicht unterscheide ich mich ja auch hierin von Herrn Wiechert... Andererseits schreibt er zwischendrin einmal ausdrücklich: „Es ist der Weg des inneren Menschen, der sich gerade im Lehrerberuf schlichtweg als Bedingung erweist, um dort fruchtbar wirksam zu sein“, und er weiß doch, wie es um die Selbsterziehung in der Waldorfbewegung heute bestellt ist?

Zum rhythmischen Teil schreibt er:

In der Mittelstufe „gehört“ der Teil dann weiterhin dazu; man sieht die gelangweilten Gesichter der Kinder und redet sich ein, es seien die heraufziehenden Flegeljahre. Dabei ist es ganz anders. Ein solcher rhythmischer Teil gehört nicht in dieses Alter, und die Kinder reagieren richtig, denn es ist eine Form ohne Inhalt. Sie wehren sich dagegen. (S. 101)


Sind das nicht endlich einmal bemerkenswert offene Worte? Warum kann man das, was man erkannt hat und was notwendig ist zu erkennen, nicht immer so offen aussprechen? Die Wahrheit selbst ist nicht freilassend – sie ist, wie sie ist, und man muss sie ertragen können und wollen, wenn es einem um die Wahrheit geht. Wer im Dienste der Wahrheit stehen will, sollte sich nicht berufen fühlen, sie in „freilassenden Frage-Dosen“ zu verwässern, denn gerade dadurch erhebt er sich über die Wahrheit, und es wird moralisierend und wirkungslos. Man sage, wie es ist, man spreche die Wahrheit unverfälscht aus – und es bleibt weiterhin jedem überlassen, ob er die Wahrheit annimmt oder abweist.

Der verführte Ätherleib und das Schöne als Mittel zum Zweck

Als Wiechert über die Bedeutung des Intellekts in der Schule schreibt, fällt ein Satz wie dieser:

Die Seele (der Astralleib) übernimmt dabei die Rolle, es dem Ätherleib „schmackhaft“ zu machen, Freude am Lernen zu haben durch Liebe zum Lehrer und zum Lerngegenstand. (S. 106)


Wenn man erhabene, übersinnliche Realitäten so buchstäblich in das Sinnliche herabzieht, muss man sich doch nicht wundern, warum Waldorflehrer keinen tieferen Bezug zu den anthroposophischen Grundlagen haben? Will man denn jetzt auch gegenüber den erwachsenen Kollegen „Anschauungsunterricht“ betreiben? Kinder sollen auch dasjenige aufnehmen, was sie noch nicht verstehen. Erwachsene Waldorflehrer sollen sich zum Verständnis der übersinnlichen Realitäten erheben – sie können sie verstehen, aber nicht ohne Mühe, und auf diese Mühe kommt es gerade an. Das sagt Wiechert im Grunde auch mehrfach selbst – aber er hält sich nicht daran.

Immerhin kommt er in diesem Zusammenhang dann kurz darauf zu sprechen, dass man in der Waldorfpädagogik weiß, wie der „Lernleib“ erst ausgebildet werden muss und dass das Kind sich „seinen eigenen Lernweg“ noch gar nicht suchen kann, auch wenn man der Waldorfpädagogik dadurch regelmäßig vorwirft, sie behindere die Kreativität der Kinder. Wiechert sagt hier deutlich: „Tatsächlich: Hier scheiden sich die Geister.“ Möge also dies ein Hinweis an jene Strömung sein, die auch in der Waldorfbewegung die Lehrer zu bloßen Lernbegleitern machen will.

Schon zuvor, wo Wichert darauf hinweist, dass das „Künstlerische“ viel mehr meint als das „Ästhetische“, stößt man auf folgenden Satz:

Sicher, der Waldorfunterricht soll auch einen ästhetischen Anspruch haben, da das Schöne den Bezug der Seele zum Gelernten erleichtert und festigt. (S. 90f)


Wie soll man bei einem solchen Satz noch glauben, dass dann die folgenden Ausführungen zum Künstlerischen wahr sind, nicht nur richtig, sondern wahrhaftig? Waren das Wahre, Schöne und Gute nicht die höchsten Ideale der nach dem Geist strebenden Seele? Muss das Schöne nun, nur um das „Künstlerische“ ja nicht der Verwechslungsgefahr auszusetzen, derart misshandelt werden? Das Schöne – nur noch methodisches Mittel zum Zweck, neueste Erkenntnis neurologischer Lernforschung? Die Seele, die in dem Schönen etwas erblickt, was sie verehrt und als Ideal hat, kann vor einem solchen Satz nur tief erzittern...

Wenig später spricht Wiechert dann sogar tatsächlich einmal ganz offen (d.h. bis in quantitative Andeutungen hinein) aus, wie es heute in der Waldorfbewegung um den Impuls des Künstlerischen steht:

Weit verbreitet [!] ist leider auch der schon erwähnte Gedanke, künstlerischer Unterricht sei schön und gut, aber es „soll auch mal was gelernt werden“. Die Folge: aus Angst, die Kinder könnten nicht genug lernen, greift man zu herkömmlichen Methoden, um „sicher zu gehen“. (S. 94)

Über die Kinderbesprechung

Dann kommt ein kleines, aber besonders furchtbares Kapitel über die Kinderbesprechung, ein ausgesprochenes Spezialthema von Wiechert.

Kinderbetrachtungen an sich sind ein (Sich-)Vergehen am Kind, denn, der Prozess greift real in die Freiheit des Kindeswesens ein. Man tritt dem Kindeswesen ganz anders zu nahe, als man es sich vorstellt. Und es kommt noch dazu, dass man gar nicht die Fähigkeiten hat, wirklich selbstlos auf ein Kind zu schauen. Auch das kann man sich anders vorstellen, was aber wiederum nur zeigt, wie wenig man die Selbsterziehung ernst nimmt.

Als Beispiel schildert Wiechert ein Mädchen, das in vielem die Tendenz des Geformten zeigte, sehr perfektionistisch war, auch im Benehmen ein wenig steif. Es hatte ein ungewöhnliches Zeichentalent, war beim Malen dagegen sehr unbeholfen und litt im Stoffwechselbereich stark unter Blähungen.

In der „Kinderbesprechung“ wurde schnell deutlich, „dass der Vorstellungsmensch zwar stark war, der mittlere Mensch jedoch eher  unsicher und der untere Mensch wie nur zum Teil engagiert“.

Als Hilfe machte man mit ihr Freihandgeometrie und einige extra Übungen aus dem Formenzeichnen. Eine Heileurythmistin gab es nicht, aber den Eltern schlug man vor, morgens ein eher warmes süßes Frühstück zu geben und abends für extra Wärme für den Bauch zu sorgen.

Wiechert endet mit den Worten, aus der Schilderung könne „hervorgehen, wie im Gespräch des Lehrerkollegiums, wenn man sich um das Wesen eines Schülers bemüht, dieses wie greifbar wird. Man erlebt sich dem Wesen des Kindes nahe und man findet so die Kraft zum Helfen.“

Man bespricht, man kommt zu einer Diagnose und zu Maßnahmen. Man macht sich aber überhaupt nicht klar, was man da eigentlich tut. Man glaubt, zu helfen, aber was eigentlich geschieht, weiß man absolut nicht. Dazu müsste man den Gedanken erfassen, dass es wirklich ein Eingriff in das Wesen des Kindes und dessen Freiheit ist, wenn man so vorgeht!

Allein schon das Wort Kinderbesprechung zeigt den ganzen geistigen Gewaltakt, wenn man das Wort denn einmal ernst nehmen würde. Man stelle sich einmal vor, man selber würde von Kollegen besprochen werden, und selbst wenn sie es „gut meinen“: würde man das wollen?

Es geht nicht darum, dem Kind nicht zu helfen! Aber man muss sich klar machen, welche Hilfe es braucht und welche nicht. Zuallererst müsste man sich klarmachen, dass man immer dann, wenn Hilfe notwendig ist, vor leiblichen Hindernissen steht, die das Erscheinen, das Sich-Inkarnieren des Wesens erschweren. Man hat es also gerade nicht mit dem Wesen zu tun, sondern mit dessen Hindernissen! Wie könnte man je meinen, man wäre schon bei dem Wesen des Kindes, wenn man sich gerade mit seinen Hindernissen beschäftigt!

Es sind Floskeln, die einem ein subtiles, erhebendes Selbstgefühl vermitteln, wenn es heißt, „man erlebt sich dem Wesen des Kindes nahe und man findet so die Kraft zum Helfen.“ Wie edel! Man ist aber in eine Illusion verstrickt, wenn man die Hindernisse mit dem Wesen verwechselt oder überhaupt glaubt, sich dem Wesen so nähern zu können oder auch nur zu dürfen. Und die „Kraft zum Helfen“? Was kostet es denn für Kraft, mit einem Mädchen Freihandgeometrie zu machen? Oder welche Kraft ist gemeint? Etwa die Ideenfähigkeit? Womit gesagt wäre, dass es auch tatsächlich das ist, was das Mädchen bräuchte? In jedem Fall zeigt sich, dass es eine furchtbare und phrasenhafte Abstraktion ist, in zwei Sätzen solche Dinge zu sagen.

Auch das Wort „wie greifbar“ ist schon eine Phrase. Natürlich, wenn etwas „wie greifbar“ ist, dann hat man sich ihm ja auf fantastische Weise erfolgreich genähert – aber wie oft haben wir eine solche Phrase schon gehört? Und was ist sie wert, wenn sich herausstellt, dass man Hindernisse und Wesen verwechselt? Allein dies zeigt schon die ungeheure Anmaßung, in der man sich hier bewegt.

Und so abstrakt und sorglos geht es dann weiter:

Die Kinderbesprechung ist eine Gesamtleistung des Lehrerkollegiums. Sie braucht keine besondere Methode. Nur [...] durchläuft sie jedes Mal wie von selbst drei Stufen. (S. 131)


Ich frage nochmals: Würde man sich selbst auf diese Weise gern „besprechen“ lassen?

In der ersten Stufe versucht man, ein Bild des Schülers zu gewinnen. Wie hat der Schüler sich entwickelt in der Zeit, wie stellt der Schüler sich im Raum dar? Was lehrt uns dieses? [...] Der Klassenlehrer schildert den Schüler, schildert auch den Grund, warum er den Schüler bespricht, das Bild ergänzt sich mit Beiträgen der Kollegen. (ebd.)


Bei dieser kühlen, sachlichen Schilderung muss einem das kalte Grausen kommen – schon ganz unabhängig von den bereits angedeuteten grundsätzlichen Gründen gegen jegliche solche Besprechung.

- „Die Schilderungen sollten nicht...“

Und wie wenig die Lehrer allein schon zu einer selbstlosen Sicht auf das Kind fähig sind, zeigt Wiechert wie immer durch eine Schilderung von Möglichkeiten und Gefahren, die wieder die Realität spiegeln:

Die Schilderungen sollten nicht die Sympathien oder die Antipathien der Lehrer in Bezug auf den Schüler abbilden. Auch kann sich eine bestimmte „Farbe“ einschleichen, wenn der Schüler eines bestimmten Kollegen dargestellt wird („die Schüler bei ihm sind immer so, ist ja klar“). Auch darf nicht im Geringsten die leiseste Stimmung entstehen, als ob man über einen Schüler richten würde. Kommen solche Stimmungen auf, wird man machen können, was man will: das Wesen des Schülers entzieht sich dem Kreis der Kollegen, die Betrachtung wird gegenstandslos. (S. 132)


Man möchte fragen: Ist denn die Kinderbesprechung auch noch ein Übfeld!? Die Schilderungen sollten nicht...? Und wenn solche Stimmungen aufkommen, entzieht sich das Wesen des Schülers...? Hier wird nicht wirklich mit geistigen Realitäten gerechnet – immer nur mit der illusionären Vorstellung, die man sich von dem Prozess macht. Ist Herr Wiechert als „Anthroposoph“ denn ernstlich der Meinung, dass Gedanken und Stimmungen jemals ohne Wirkung bleiben würden? Wenn es heikel wird, entzieht sich „das Wesen des Schülers“ einfach und das Ganze bleibt ohne Wirkung? Dem Wesen des Schülers kommt man überhaupt nicht nahe, aber man tritt ihm zu nahe! Es ist jedes Mal ein Übergriff, selbst wenn man im eigenen realen Bewusstsein niemals an das reale Wesen des Kindes herankommt.

Es wäre selbst dann ein Übergriff, wenn man all die Vorurteile und Stimmungen auslöschen könnte (nach jahrelanger Selbsterziehung jedes Einzelnen) – aber Wiecherts Beschreibung macht ja offenkundig, dass die Kinderbesprechungen ein Übfeld inmitten krasser menschlicher Schwächen sind. Man will „helfen“, aber man begeht übersinnliche Verbrechen...

Sorglos fährt Wiechert fort:

Eine relativ starke Seelenhygiene wird hier von den Teilnehmern verlangt. Gelingt sie, dann wird der Schritt zum zweiten Teil ein erwarteter; man möchte weiterkommen auf der Suche nach dem Wesen des Schülers... [...]
Zuerst braucht man ein gewisses menschenkundliches Fachwissen, so wie jedem Beruf ein Fachwissen zugrunde liegt. [...] Was man ebenfalls braucht, ist ein Erahnen der Zusammenhänge. Das geht nicht nur durch logische Schlussfolgerungen, sondern man braucht auch ein Gefühl dafür. [...] Die ganze Menschenkunde ist der Hintergrund, die „Grammatik“ für das Verstehen. [...]
Die Erfahrung lehrt, dass die Frage nach der Konstitution des Ätherleibes [...] oft eine sehr brauchbare Eingangsfrage für den zweiten Teil der Schülerbetrachtung bildet. [...]
Sahen wir, wie im ersten Schritt der Weg vom Phänomen zum Symptom gesucht wurde, so geht es hier um die Erfahrung der Evidenz im Kreis der Kollegen. Wird das Dargestellte als stimmig mit dem Wesen des Schülers empfunden? Man spürt, die Gespräche bekommen eine Intimität, wenn sie wahr sind. (S. 132ff)


Eine relativ starke Seelenhygiene? Und mit dem Rest der verschmutzten Seele kann man es machen? Nicht einmal die vollkommenste Seelenhygiene berechtigt zu einer Kinderbesprechung! Wie wenig selbstlos das Ganze aber ist, zeigt schon wiederum die Formulierung: „Man möchte weiterkommen auf der Suche nach dem Wesen des Schülers...“ Man spürt förmlich den interessierten Griff nach dem Wesen, es ist wie ein interessantes Rätsel – kann man nicht empfinden, wie das völlig unpassend ist, wenn es um das Wesen eines Menschen geht? Kann man nicht empfinden, dass man das Wesen so niemals finden wird, immer nur eine Illusion, dass man aber dennoch immer unberechtigt auf das Wesen zugreift?

Es geht um einen Zugriff – die Menschenkunde gibt einem die Grammatik, und dann braucht es nur noch das richtige Gefühl. Und dann hat man das Wesen erfasst. Welch ein Hochmut und eine Illusion! In derselben Diktion geht es aber weiter mit der „brauchbaren Eingangsfrage“ usw. – es ist furchtbar, und das muss man empfinden lernen!

Vom Phänomen zum Symptom!? Das Kind wird auf ein Symptom reduziert – und man glaubt, sich dem Wesen zu nähern? Das ist doch wohl der gewaltigste Widerspruch, den es nur geben kann. Die ganze Rede vom Wesen und von Wahrheit ist nur Gerede, es sind Worte ohne Inhalt. Natürlich kann man eine Intimität spüren, wenn ein gewisser Ernst vorhanden ist, und vielleicht schwingt man sich tatsächlich auf ein vorliegendes Symptom ein, dass einem realen Hemmnis entspricht. Um welchen Preis...?

- Beim Helfen hilflos?

Und der letzte Teil des traurigen Dramas:

Man findet den Weg zur Hilfe auch nur, wenn man in sich den Willen zur Hilfe auch wirklich wachruft, auch wenn man ein Kollege ist, der nie mit dem betreffenden Schüler arbeiten wird. [...] Dafür ist es notwendig, dass das Lehrerkollegium sich eine elementare Erkenntnis erwirbt über die Wirkung des Lehrstoffs auf den Schüler. (S. 136)


Also auch das ist fortwährende Realität: Wildfremde Kollegen sind dabei, und viele anwesende Kollegen haben gar kein Interesse am Kind, also auch nicht den Willen zu helfen. Man fängt einen undurchschauten Prozess an, und am Ende stellt sich heraus, dass viele nicht einmal helfen wollen? Dass sie bis dahin einfach nur interessiert mitgemacht haben oder vielleicht nicht einmal das? Was für ein schreckliches Übfeld ist dies!?

Und ganz am Ende stellt sich heraus: Um helfen zu können, bräuchten die Lehrer ja doch vielleicht zumindest etwas elementare Erkenntnis über die Wirkung des Lehrstoffs – also zumindest einen Hauch waldorfpädagogisches, anthroposophisches „Fachwissen“! Nun löst sich die Grundlage, auf der man steht, also wirklich in Nichts auf, der Boden hat, wie Steiner es warnend prophezeite, so viele Löcher, dass man nichts mehr hat, worauf man stehen kann.

Die Lehrer haben nicht einmal elementare Erkenntnisse über die Wirkung des Lehrstoffes – sie „müssten sie sich erwerben“!?

Man macht also eine Kinderbesprechung in einem Kollegium, das keinerlei Selbsterziehung betreibt (man sieht zertretene Sträucher nicht; man sieht nicht, ob man selbst ein Pedant oder Chaot ist; man vermag es nicht, auch nur eine von seinen Gewohnheiten zu verändern; die Kollegen sind gar nicht im Einklang miteinander usw. usf.), das großteils gar kein wirkliches Interesse an diesem Kind hat, dass es oftmals nicht einmal kennt; wenn man das Kind kennt, begegnet man ihm mit allerlei Vorurteilen, Sympathien und Antipathien, die vor allem mit einem selbst zu tun haben; man kommt aber doch irgendwie gemeinsam von der „Bildbesprechung“ zum „Symptom“, dann bildet sich die Illusion heraus, dass man sich dem Wesen des Kindes nähert, das „fast wie greifbar“ wird. Man kommt zu einer Diagnose, assoziiert Ideen, wie man helfen könnte – und schließlich zeigt sich, dass man das Feld, wo wirkliche Hilfe zu suchen wäre, nicht im geringsten kennt!

Das Ganze ist ein einziges Stolpern aus der Finsternis in die Finsternis – begleitet von der Finsternis der eigenen unverwandelten Seele. Eine Realität in alledem bildet dann nur noch der ebenso schwarze Zugriff auf das unerkannte Wesen des Kindes. Schwarze Pädagogik mit besten Absichten von dreißig Dilettanten, die sich überhaupt nicht klarmachen, was sie hier tun.

Und ich sage nochmals: Selbst wenn es sich äußerlich nicht so schlimm darstellt, wenn es vielleicht sogar klare Hinweise darauf gibt, dass man dem Kind wirklich scheinbar helfen konnte – selbst dann macht man sich den wirklichen Vorgang nicht klar, der so nie geschehen darf.

Aber sogar wenn man das nicht einsieht – wie kann man auch nur glauben, eine „Kinderbesprechung“ machen zu dürfen, wenn man nicht einmal die eigenen Hausaufgaben gemacht hat? Wenn man glaubt, sich um die Selbsterziehung gar nicht sonderlich kümmern zu müssen? Wenn man glaubt, in Bezug auf die Wirkung der einzelnen Lerninhalte eigentlich völlig ahnungslos bleiben zu können? Es ist ein extremstes Herumstümpern, das auf extremstem Hochmut und Ahnungslosigkeit beruht! Es ist, wie wenn ein Chirurg glaubt, angetrunken, ohne Kenntnis der inneren Organe und fast ohne Wissen von der Wirkung und Funktion seiner Instrumente operieren zu können! Wenn er Glück hat, überlebt der Patient – und in Ausnahmefällen wird der Eingriff vielleicht sogar auf den ersten Blick geholfen haben...

Was braucht ein Kind wirklich? Auf die Hilfsmaßnahmen des von Wiechert geschilderten Beispiels könnte jeder Klassenlehrer sofort allein und selbst kommen, der sich auch nur ein wenig auf das Kind einlässt. Er muss es nicht einem ganzen Kollegium aussetzen. Als Eltern kann man noch eine gesunde tiefe Scham und Scheu empfinden, wenn auf dem Elternabend über ein fremdes Kind gesprochen wird – und sei es ganz und gar positiv! Offenbar geht diese Scham beim Thema „Kinderbesprechung“ völlig verloren. Dort ist es plötzlich normal, dass ein Kind sich völlig entkleiden und dem Blick sogar der unverwandelten und desinteressierten Kollegen präsentieren muss. Was kann man tun, damit erkannt wird, wie schlimm das ist? Selbst dann, wenn doch ein großer Ernst waltet und man sich um die Zurückhaltung des Urteils bemüht und so weiter?

Ein Kind braucht die Liebe seines Klassenlehrers oder seiner Lehrerin. Eine Liebe, die so groß sein soll, wie sie sich nur machen kann – aus aller Kraft. Ein Kind braucht eine Klassenlehrerin, die sich mit aller Kraft der Selbsterziehung widmet, denn nur aus diesem Quell kann immer mehr jene wahre, starke, hellsichtige Liebe hervorgehen, die mit dem Kinde zusammenleben kann, die das sich schrittweise inkarnierende Wesen des Kindes immer mehr ahnt, auch wenn sie es in keinster Weise in Worte fassen könnte und es auch gar nicht wollte. Eine solche Lehrerin, einen solchen Lehrer braucht ein Kind. Und eine solche wahrhafte Pädagogin würde alle Hindernisse, die der Erscheinung des Wesens dieses Kindes im Wege stehen, am besten erkennen – und sie würde es allein erkennen können. Niemand würde ihr auch nur annähernd bei dieser großartigen, ungeheuren Aufgabe helfen können und brauchen. Außer vielleicht eine wahrhaftige Heileurythmistin oder eben, wenn notwendig, ein wirklicher Arzt...

Es gibt nichts, was mehr sieht als die Liebe. Und es gibt nichts, was tiefer und vollständiger heilt als die Liebe. Kinder brauchen Lehrer, die an ihrer wirklichen Liebe arbeiten – und das ist eine Frucht der Selbsterziehung. Alle Erziehung ist Selbsterziehung...

Über die Selbsterziehung und die Liebe

Im letzten Kapitel – über die Selbsterziehung – gibt Wiechert dann eine Zusammenschau einiger Übungen und jener sieben Tugenden, die Rudolf Steiner den Lehrern ans Herz legte. Er beginnt mit den Worten:

Es ist nicht leicht, über dieses Thema im Allgemeinen zu sprechen. Gerade auf diesem Feld ist alles sehr individuell. Jeder, der sucht, findet seinen zu ihm passenden Weg. Dabei kann man es bewenden lassen. Man kann aber auch feststellen, dass viele Kollegen eigentlich einen Zugang zur inneren Vorbereitung suchen und ihn doch nicht finden [...] (S. 165)


Also auch hier wieder das „Freilassende“ – und hinterher das Abstrakte, denn eine kurze Skizze einzelner Übungen kann fast zwangsläufig nur abstrakt werden. Jeder, der sucht, findet, dabei kann man es bewenden lassen? Und wer nicht sucht? Alle gehören dazu, und wir nennen uns Waldorf (es merkt schon keiner)? Wahrscheinlich wird man so lange alles „freilassen“, bis niemand mehr da ist, der überhaupt noch weiß, worauf sich das „Freilassen“ einmal bezog.

Selbsterziehung ist die notwendige Grundlage der Waldorfschule – oder Waldorfschule ist nicht.

Man kann und muss dann immer noch freilassen – aber man kann nicht sagen: „Dabei kann man es bewenden lassen!“

Und auch hier gilt wieder die Wahrheit von St. Exupéry: Wenn ich ein Schiff bauen will, geht es nicht darum zu sagen: Holz wäre übrigens eine notwendige Grundlage, sondern man muss die Sehnsucht nach dem Meer erwecken! (Wenn man dies allerdings versucht und bekämpft wird, weil man zugleich verzweifelt darauf hinweist, dass Menschen, die sich als Seefahrer verstehen, auf einem klapprigen Floß stehen, dessen Bohlen noch nicht einmal vertäut sind, dann ist das eine etwas andere Situation...).

Es nützt also nichts, zum ungezählten Male noch komprimierter jene Übungen zusammenzufassen, die man in jeder Buchhandlung unter dem Namen „Wege der Übung“ besser bestellen kann, sondern man müsste für die Selbsterziehung selbst begeistern, in beide Richtungen: In Bezug auf die Erkenntnis der ungeheuren Bedeutung für die Pädagogik – und auf die Erkenntnis der ungeheuren Bedeutung für den Menschen selbst. Aus der Begeisterung erwächst der Wille, nicht aus der Einsicht allein. Dass die Einsicht selbst schon Willenskraft in sich trägt, ist erst eine Frucht der Selbsterziehung...

Jede Erziehung ist Selbsterziehung. Dass man ohne einen mit Kraft gegangenen inneren Schulungsweg keine Waldorfpädagogik verwirklicht, könnte doch auch – statt sinnlos als Kritik abgewehrt zu werden – ein Aufruf sein, dasjenige, was man bisher zu tun beansprucht hat, von heute an wahrzumachen...

Man reiße sich los von dem „Kritik! Hör auf!“ oder von dem „Ich muss gar nichts, und je mehr du mir das sagst, desto weniger will ich“. Man wird schon erkennen müssen, dass Selbsterziehung die Grundlage nicht nur der Waldorfpädagogik, sondern jeder Erziehung ist. Waldorfpädagogik aber meint es mit der Erziehung ernster, sie meint es wirklich ernst, das heißt wahrhaftig. Letztlich kann man ruhig alle vergessen, die etwas von einem wollen. Wiechert mit seinen Ratschlägen, Niederhausen mit seiner Webseite usw. Man vergesse alle anderen und denke nur an sich und die Kinder, die einem anvertraut sind.

Darauf kommt es doch an – auf einen selbst und auf die Kinder. In sich selbst kann und wird man die Wahrheit über die Bedeutung der Selbsterziehung finden. Wenn man die Kinder wirklich liebt, wird man selbst fühlen, wie diese Bedeutung, der leise Ruf stärker wird – und umgekehrt: Wenn man die Bedeutung der Selbsterziehung erkennt und erlebt, wird man die Kinder immer mehr und immer tiefer lieben können. Um die Liebe aber geht es. Die Liebe selbst wird einem den Weg weisen, wenn man ihr nur die Tür öffnet...