17.08.2010

Vom Wesen dieser Seiten und vom Wesen der Erkenntnis – ein sokratisches Gespräch

Ein sokratisches Gespräch über Meinungen und Irrtümer, Form und Inhalt, Selbsterkenntnis und die Liebe zum Ideal.


Über...
...die Allgemeinheit von Meinungen und Irrtümern
...innere Abneigungen
...den Zusammenhang der Urteile über Form und Inhalt
...die Bedeutung und den Inhalt der „Kritik“
...die Frage nach dem Ideal
...den Zusammenhang von Form und Inhalt
...die Liebe zum Wesen und den Blick für die Wirklichkeit
...die wahre Liebe zum Ideal


Über die Allgemeinheit von Meinungen und Irrtümern

T: Mir ist, o Sokrates, eine Webseite aufgefallen, zu der ich dein Urteil hören möchte. Sie nennt sich „Wesen der Pädagogik“. Hast du von ihr schon gehört?

S: O ja, Talpides, das habe ich.

T: Und, was hältst du von ihr?

S: Was soll ich von ihr halten?

T: Nun, sicher hast du schon gehört, dass sie auf mannigfaltige Kritik stößt. Ich gestehe, dass auch ich diese Seite mit einer deutlichen Abneigung wahrnehme.

S: Spielt, o Talpides, dabei die mannigfaltige Kritik der Anderen eine Rolle?

T: Die... Ich ... glaube nicht – nein, ich glaube nicht.

S: Warum hast du jene dann zunächst erwähnt? Als erstes?

T: Weil es eine allgemeine Tatsache ist, die ich zunächst erwähnen wollte, da sie mir bedeutsam erschien.

S: Warum erschien sie dir bedeutsam?

T: Da in der Allgemeinheit einer Meinung sich doch mit mancher Gewissheit einiges von Wahrheit widerspiegelt.

S: Wenn es so wäre, so würde dann also die Allgemeinheit einer Meinung über die Wahrheit entscheiden?

T: Nein, o Sokrates. Doch die Allgemeinheit wird, so meinte ich, ein Hinweis auf die Wahrheit sein, auch wenn die allgemeine Meinung nicht vollständig mit dieser übereinstimmt.

S: So wird sich die Allgemeinheit also nie über die Wahrheit täuschen, im Großen und Ganzen?

T: Doch, möglich ist es, denn sonst gäbe es keinen Irrtum, der sich ebenfalls fortpflanzen oder auch von vornherein allgemein sein kann.

S: Wohl hast du gesprochen, Talpides!

Über innere Abneigungen

T: Es gibt aber, o Sokrates, verschiedene Arten von Wahrheiten.

S: Welche meinst du?

T: Zum einen die Wahrheiten, welche Tatsachen in der äußeren Welt sind, die man letztlich nachprüfen kann, ob sie vorhanden sind oder nicht. Und Wahrheiten, die in Bezug auf die Seele und die Beziehung der Menschen untereinander eine Tatsache sind und welche man nicht äußerlich nachprüfen kann, weil sie erst innerlich entstehen.

S: Und was möchtest du im Weiteren mit dieser Unterscheidung sagen?

T: Mir scheint, dass die Seite „Wesen der Pädagogik“, unabhängig von der Frage nach der Wahrheit der dort ausgesprochenen äußeren Tatsachen dadurch Kritik aufruft, dass sie in einem Stile verfasst ist, der die Leser mit innerer Abneigung durchdringt.

S: Ist sie denn in einem einheitlichen Stile verfasst?

T: Nein, o Sokrates, aber bestimmte Texte tragen jenen Stil, von dem ich gerade gesprochen habe.

S: Dann sage mir, welche Natur jener Stil hat, den du bezeichnen möchtest.

T: Die einen würden diesen Stil polemisch nennen, die anderen vielleicht nur scharf oder kritisch, andere würden einen Alleinvertretungsanspruch darin sehen, als ob hier jemand als Einziger die Wahrheit erkannt zu haben glaube. Wiederum andere würden vielleicht von einem Fanatiker oder Extremisten sprechen.

S: Und, o Talpides, bezeichnen alle diese Worte dasselbe Ding im Geiste?

T: Nein, o Sokrates, es gibt deutliche Unterschiede in dem, was die einzelnen Worte bezeichnen.

S: Warum führst du sie dann alle ununterschieden an?

T: Weil alle diese Urteile existieren, so meine ich, denn sie weisen alle auf ein gewisses Gemeinsames hin bzw. gehen von diesem Gemeinsamen aus.

S: Welches Gemeinsame wäre das?

T: Ich kann es nur umschreiben – es wäre, dass jemand etwas kritisiert und dass er dies in einer Form tut, die nicht hilfreich ist, sondern die als übel oder schlecht empfunden wird.

S: Kann denn das, was als übel oder schlecht empfunden wird, nicht auch hilfreich sein?

T: Wie das, o Sokrates?

S: Was, o Talpides, geschah, als Gautama auf die Straße ging und die Leiden entdeckte?

T: Die Erkenntnis der Leiden führte ihn zur Erleuchtung.

S: Und sind nicht auch die Leiden etwas, was ohne Zweifel als übel oder schlecht empfunden wird?

T: Sie sind es.

S: Kann nicht auch eine Form der Kritik, die als übel oder schlecht empfunden wird, hilfreich sein?

T: Nicht, solange sie so empfunden wird.

S: Wer empfindet denn, Talpides?

T: Der Leser ist es.

S: Jeder Leser?

T: Es gibt auch Leser, die „Vom Wesen der Pädagogik“ mit Begeisterung lesen.

Über den Zusammenhang der Urteile über Form und Inhalt

S: So gibt es also widersprüchliche Empfindungen?

T: So ist es.

S: Du aber sprachst bisher nur von jenen, die etwas Übles oder Schlechtes zu empfinden meinen.

T: Diese scheinen mir in der Überzahl zu sein.

S: So ist die Wahrheit also doch eine demokratische Frage, in der die Masse der Stimmen entscheidet?

T: Nein, o Sokrates. Doch jene, die begeistert sind, teilten zumeist die Ansicht des Autors von vornherein.

S: Haben sie darum weniger Recht?

T: Nicht so, auch sie haben Recht, doch sie sehen weniger das Üble der Form, weil sie vor allem auf den Inhalt blicken, mit dem sie übereinstimmen.

S: Ist nicht vielleicht auch der Blick auf den Inhalt entscheidend dafür, wie man die Form empfindet?

T: Was meinst du, o Sokrates?

S: Du sagst, die Einen, denen du mehr Weitblick zusprichst, sehen von vornherein das Üble der Form und deshalb sei es richtig, sich mit dem Inhalt zumindest unter diesen Bedingungen nicht zu befassen.

T: So ist es.

S: Und ich frage, ob nicht der Blick auf den Inhalt – den jeder für sich auch von vornherein hat – entscheidend dafür ist, wie man die Form empfindet?

T: Willst du sagen, dass die Ansicht, die ein jeder in Bezug auf den Inhalt hat, auch auf das Urteil in Bezug auf die Form wirkt?

S: So ist es.

T: Wenn es so wäre, dann würden jene, die dem Inhalt widersprechen, zu einem irrtümlichen Urteil über die Form kommen.

S: Genau das ist es, was ich behauptet habe.

T: Wenn sie aber trotz allem zu diesem Urteil kommen, sei es irrtümlich, so ist es für sie selbst und in ihrer Seele gleichwohl eine Tatsache. Wie sollten also die Texte, die ein solches Urteil hervorrufen, hilfreich sein?

S: Lieber Talpides, rufen sie es nicht nur deshalb hervor, weil die Leser von vornherein anderer Meinung über den Inhalt des Gesagten sind?

T: In den meisten Fällen wird es so sein.

S: Was aber kann der Schreiber dafür, dass seine Form abgelehnt wird, weil man mit seinem Inhalt nicht übereinstimmt?

T: Nichts, o Sokrates. Aber er könnte eine Form wählen, die den Leser geneigter macht, die Wahrheit des Inhaltes zu erkennen.

S: O Talpides, meinst du ernstlich, die Wahrheit sei etwas, was den Menschen wie eine Bestechung schmackhaft gemacht werden sollte?

T: Nicht so, o Sokrates. Doch was hilft es, wenn eine Wahrheit abgelehnt wird, weil man die Form als übel empfindet?

S: Wir drehen uns im Kreise, Talpides. Hatten wir nicht eben erkannt, dass die Form nur deshalb so empfunden wird, weil man die Wahrheit ablehnt?

T: Du hast recht, Sokrates.

S: Was aber nun?

Über die Bedeutung und den Inhalt der „Kritik“

T: Ich frage mich, was sich dadurch ändert, dass diese Texte in der Welt sind? Die, die die Wahrheit teilen, sind begeistert, dass es einmal ausgesprochen wird. Die, die sie ablehnen, sind empört, dass so fruchtlos und übel gesprochen wird.

S: Was ändert sich, Talpides, wenn du auf das schaust, was du eben gesagt hast?

T: Es wird immerhin deutlich, dass verschiedene Meinungen bestehen.

S: Und was ändert sich noch durch die Existenz dieser Seiten über das „Wesen der Pädagogik“?

T: Die eine der beiden Ansichten wird öffentlich vertreten.

S: Und die andere?

T: Die andere ist die mehr Allgemeine, die ohnehin öffentlich vertreten wird, selbst dann, wenn nichts im Speziellen darüber gesagt wird.

S: Wovon reden wir gerade?

T: Die Ansicht, die in dieser Seite etwas Übles sieht, ist jene, dass mit der Pädagogik im Wesentlichen alles in Ordnung sei. Sie wird schon dadurch vertreten, dass man nichts sagt, indem man handelt wie immer, was indirekt eine Aussage darüber ist, dass alles in Ordnung sei.

S: Und die andere?

T: Die andere Ansicht ist die, dass im Wesentlichen nicht alles in Ordnung sei.

S: Und wird sie auch vertreten, wenn man nichts sagt?

T: Nein, o Sokrates, sie kann nur vertreten werden, wenn man etwas sagt. Denn wenn man nichts sagt, ist man von vornherein – zumindest von außen betrachtet und erkennbar – ein Anhänger der ersteren Ansicht.

S: So gibt es in Bezug auf diese zwei Ansichten also eine unterschiedliche Mühe, sich in die Welt zu stellen und die Reaktion zu empfangen?

T: Ja, die Ansicht, dass etwas wesentlich nicht in Ordnung sei, muss sich zunächst formulieren und in der Folge dann gegen die Ansicht behaupten, dass alles in Ordnung sei – um so mehr, weil es doch täglich geschehe und weil man sich doch täglich bemühe.

S: Und wird die kritische Ansicht nicht schon dadurch bekämpft, dass die nicht-kritische Ansicht auf ihre täglichen Mühen hinweist?

T: So ist es.

S: Will aber die kritische Ansicht die täglichen Mühen verneinen?

T: Nein, sondern sie will auf etwas hinweisen, was in diesen täglichen Mühen nach ihrer Meinung fehlt.

S: Und ist dies überflüssig oder gar übel und verwerflich?

T: Nicht, wenn es sich um etwas sehr Wesentliches handelt.

S: Wohl, o Talpides. Nun sind wir, so meine ich, einer Erkenntnis dieser Fragen näher.

T: Die Gegenseite aber meint, dass die Kritik alles entwerte, was doch täglich getan wird.

S: Und wie siehst du es, Talpides?

T: Was täglich getan wird, ist das eine; was unterlassen wird, ist das andere. Das Getane hat seinen Wert. Wenn aber das Unterlassene etwas Wesentliches ist, so verliert das Getane seine Essenz, die es gewinnen würde, wenn das Unterlassene getan werden würde.

S: Wie also empfinden jene, die in der Kritik etwas Übles sehen?

T: Sie empfinden die Entwertung des Getanen und sehen darin etwas Übles. Sie empfinden nicht das Unterlassene, sonst würden sie nichts Übles, sondern etwas Hilfreiches empfinden.

S: Und du, Talpides? Empfindest du, dass der Autor das Getane entwertet, so wie es getan ist?

T: Nein, o Sokrates. Das Getane an sich wird nicht entwertet, es behält seinen Wert als Getanes. Es verliert seinen Wert nur dadurch, dass es seine Essenz noch  nicht hat, weil das Wesentliche unterlassen wird.

S: Hat also der Autor nicht Recht, wenn er das Getane an dem Wesentlichen misst, was das eigentliche und eigene Ideal derer ist, die täglich etwas tun?

T: Doch, genau das ist der Anspruch, den jene sich stellen müssen, die einem Ideal folgen.

Über die Frage nach dem Ideal

S: Wird nun aber der Kritiker wieder kritisiert, weil er eine Kritik äußert, die jene sich selbst gegenüber formulieren müssen, die dem Ideal folgen?

T: Nein, o Sokrates, nun scheint mir, dass er kritisiert wird, weil jene diesem Ideal gar nicht folgen wollen.

S: Kannst du es in anderen Worten formulieren?

T: Wenn jemand kritisiert wird, weil er auf etwas Wesentliches hinweist, das unterlassen wird, für das Verfolgen des Ideals aber notwendig ist, dann kann der Grund nicht sein, dass man das Ideal liebt. Er könnte nur dann kritisiert werden, wenn man sein Bestes tut, um dem Ideal zu folgen – oder aber wenn man etwas ganz anderes tut und mit Jenem, der auf das Unterlassen hinweist, nicht dasselbe Ideal teilt.

S: Und um welchen der beiden Fälle handelt es sich?

T: Offenbar ist das Ideal des Autors dieser Seiten und das Ideal derer, die ihn kritisieren, nicht dasselbe.

S: Wie kommst du zu diesem Schluss?

T: Wenn es dasselbe wäre, müssten die Anderen, die doch dasselbe Ideal haben, ihr tägliches Tun ganz in gleicher Weise kritisieren, wenn sie etwas unterlassen, was wesentlich ist. Und in der Tat sind die gewissenhaftesten Menschen stets solche, die sich selbst am wahrhaftigsten kritisieren, weil sie am deutlichsten erkennen, wo sie das Wesentliche unterlassen haben. Diese aber werden Kritik von außen in der Wahrheit ihres Inhaltes ebenfalls immer anerkennen, wenn der Inhalt mit dem übereinstimmt, was sie selbst bereits zuvor erkannt haben.

S: Könnte es nicht sein, dass sie die Kritik von außen zurückweisen, weil sie sie bereits zuvor selbst erkannt haben?

T: Ich dachte bis heute, dass es sich zum großen Teil so verhielte, weil ich dem Urteil gefolgt war, was diese über die Form hatten und noch immer haben. Nachdem ich nun mit deiner Hilfe, o Sokrates, erkannt habe, dass das Urteil über die Form von den eigenen Gedanken über den Inhalt geprägt ist, kann es nur anders sein. – Gerade weil auch der Inhalt zurückgewiesen wird, ist ganz und gar deutlich, dass diejenigen, die die Kritik von außen zurückweisen, auch den Inhalt der Kritik gar nicht teilen. Das aber bedeutet, dass sie zurückweisen, dass etwas Wesentliches in entscheidender Weise unterlassen und versäumt wird.

S: Wie aber wäre es, wenn die Kritik zurückgewiesen würde, weil sie bereits zuvor selbst erkannt wurde?

T: Dann müssten die Pädagogen das Wesentliche tun und nicht unterlassen; sie müssten sich zumindest mit aller Kraft bemühen, das Wesentliche zu tun, und sie müssten selbst erkennen, dass sie es tun oder sich zumindest mit aller Kraft darum bemühen. Wenn dies der Fall wäre, könnte man die Kritik zurückweisen, weil sie nichts kritisieren könnte, was man nicht schon täte. Wenn nämlich nur das kritisiert wird, was man schon wirklich und wahrhaftig tut, dann ist die Kritik sinnlos.

S: Und ist die Kritik nun also sinnvoll?

T: Ja, weil etwas kritisiert wird, was tatsächlich nicht getan wird.

S: Und ist es eine Kritik, die das, was getan wird, entwertet?

T: Nein, denn sie lässt es als solches voll gelten, aber sie weist auf das hin, was unterlassen wird, obwohl es das Wesentliche ist.

Über den Zusammenhang von Form und Inhalt

S: Ist es also eine Kritik?

T: Ja und nein. Es ist eine Kritik, insoweit alles Kritik genannt werden darf, was auf etwas hinweist, was nicht oder noch nicht oder nicht mehr getan wird. In übriger Hinsicht ist es ein Aufruf. Ich bin erstaunt, o Sokrates, denn nun sehe ich, dass man es wirklich ganz und gar positiv auffassen kann. Das Negative ist allein schon dadurch enthalten, dass der Hinweis auf etwas Nicht-Daseiendes der Inhalt des Gesagten ist. Dieses Negative wird auch teilweise sehr scharf gezeichnet und auch sehr kritisch ausgesprochen. Die Frage aber, ob man diesen Hinweis, diese Kritik, als solches negativ empfindet, hängt ganz davon ab, welcher Ansicht man in Bezug auf Wahrheit und Bedeutung des Inhaltes hat.

S: Wohl, Talpides. Aber gilt dies auch für die Form?

T: Es gilt ganz und gar auch für die Form, o Sokrates. Denn ich sehe nun, dass die Form keineswegs für sich übel oder missgünstig ist. Sie ist dies oder anderes, was man ihr an Urteilen hinzufügt, nicht im Geringsten. Im Gegenteil, die Form muss sich nach der Wirklichkeit richten. Wenn dem Inhalte nach gesagt wird, dass etwas sehr Wesentliches versäumt und unterlassen wird, und wenn dieses Versäumnis so allgemein und ausgeprägt ist, wie es in diesem Fall der Wahrheit entspricht, so muss auch die Form in Schärfe und Deutlichkeit dem entsprechen.

S: Warum, o Talpides?

T: Andernfalls könnte man den Inhalt nicht ernst nehmen, weil er mit der Form nicht zusammenstimmt. Es wäre so, wie wenn zum Beispiel ein ängstliches Kind vorsichtig den Zeigefinger hebt und flüstert: Ich glaube, dort brennt es. Man könnte dann von Glück sagen, wenn die Warnung gehört würde, nicht aber, weil Form und Inhalt zusammenstimmten. Das Gleiche gilt aber für das, was ich anfänglich einwandte, nämlich ob nicht eine andere Form den Leser geneigter machen würde. Nicht die persönliche Geneigtheit oder irgendeine sonstige Eitelkeit sollte darüber bestimmen, ob ein Feuer gelöscht wird, sondern allein die Wahrheit und Wirklichkeit der Gefahr.

S: Wo liegt dann aber das Üble, was einige Leser der Form dieser Seite zuschreiben wollen?

T: Es liegt auch hier in der Wahrheit und Wirklichkeit der Gefahr bzw. des Versäumnisses von etwas Wesentlichem. Die Leser, die dies von sich weisen und sich in welcher Weise auch immer zu Unrecht kritisiert fühlen, kommen nicht zu der Erkenntnis, von der gesprochen wird. Sie empfinden sich im Recht und den anderen im Unrecht – und darum empfinden sie eine Abneigung sowohl gegen den Inhalt, als auch gegen die Form. Indem sie die Wirklichkeit leugnen, wird das Übel subjektiviert und ganz dem Anderen zugeschoben: Der Inhalt sei unwahr, die Form sei widerwärtig, beides sei von Übel.

S: Könnte eine andere Form aber nicht dennoch zur Wahrheit führen?

T: Nein, o Sokrates, denn wenn man die Wahrheit nicht erkennen möchte, wird man sich auf keine Form einlassen. Warum sollte man sich auf die lieblichste oder bittendste aller Formen einlassen, wenn man die Wahrheit gar nicht anerkennen will?

Über die Liebe zum Wesen und den Blick für die Wirklichkeit

S: Wozu aber ist die Seite dann hilfreich, wenn sie nicht der Erkenntnis der Wahrheit dient?

T: Sie dient sehr wohl der Erkenntnis der Wahrheit, in vielerlei Weise. Diejenigen, die über Wesen und Wirklichkeit der Waldorfpädagogik im Unklaren sind, erhalten Aufklärung, und genau das scheint mir doch ein Ziel dieser Seite zu sein. Daneben gibt es jene Leser, die meinen, sich über Wesen und Wirklichkeit der Waldorfpädagogik im Klaren zu sein, weil sie selbst auf diesem Felde ebenfalls tätig sind. Nicht selten aber macht die Tätigkeit auf einem Felde blind entweder über sein Wesen oder seine Wirklichkeit oder beides, sonst hätten wir eine ideale Gesellschaft, nicht wahr, o Sokrates?

S: So ist es, Talpides, aber fahre fort.

T: So sehr nun die Tätigkeit auf einem Felde blind machen kann, wenn man nicht zugleich innig das Ideal liebt und die Schärfe des Blickes für die Wirklichkeit behält, sondern zumindest eines von beiden verliert, so sehr kann dennoch die Offenbarung dieses Wesens oder dieser Wirklichkeit durch eine dritte Person wiederum den Blick schärfen oder die Liebe zum Ideal neu entzünden.

S: Und was hieße das, o Talpides?

T: Es hieße, dass man sich von den Seiten über das „Wesen der Pädagogik“ nicht mit antipathischer Geste abwendet, sondern dass man innerlich empfindet, was auch wirklich ihre Absicht ist.

S: Und was, o Talpides, ist dies?

T: Es ist, o Sokrates, genau dies – den Blick für die große Entfernung zwischen der Wirklichkeit und dem Wesen zu schärfen und die Liebe zu diesem Wesen neu zu entzünden.

S: Und woran würde man erkennen, dass sich diese Liebe neu entzünde?

T: Daran, dass jenes getan würde, was die Entfernung zwischen dem Wesen und der Wirklichkeit überbrückt – eben jenes Wesentliche, das heute unterlassen wird. Wesentlich ist es gerade deshalb, weil ohne dieses das Wesen nicht zur Wirklichkeit kommen kann. Solange aber ist die Wirklichkeit wesenlos.

S: Warum aber wird dies nicht erkannt, sondern der Mensch beschimpft und gemieden, der darauf hinweist?

T: Weil man das Ideal und Wesen nicht liebt. Aus diesem Grunde ist einem die Wirklichkeit auch ohne dieses Wesen lieb und empfindet man jeden Hinweis auf etwas Fehlendes als von Übel.

S: Wenn man aber das Wesen nicht liebt, warum ist dann ein solcher Hinweis von Übel und nicht gleichgültig?

T: Weil er, so scheint es jedenfalls, das entwertet, was tatsächlich getan wird. Wenn man das Wesen nicht erkennt, dann missversteht man jeden Hinweis auf das unterlassene Wesentliche und erkennt darin irrtümlich eine bloße Kritik an dem Getanen. Aber mir scheint, o Sokrates, man wehrt sich noch aus einem anderen Grunde. Denn den meisten Menschen ist es doch wohl gar im Grunde des Herzens deutlich, wenn auf irgendeinem Gebiete des Lebens etwas vom Wesen fehlt, und je mehr, um so mehr. Dennoch ist die Seele nicht von einfacher Natur. Und so kann sie dennoch eine Erkenntnis ablehnen, nach der sie sich in anderer Hinsicht gerade sehnt, und kann eine Tat unterlassen, die sie in anderer Hinsicht zu tun wünschte. So ist auch die Seele entzweit in einen Teil, der das Wesen liebt, und einen anderen, der es nicht liebt.

Über die wahre Liebe zum Ideal

S: Und welche Erkenntnis hast du nun gewonnen, o Talpides?

T: Es ist, mein geliebter Lehrer, genau jene Erkenntnis, die in dem von uns tief verehrten Aufruf enthalten ist. O Mensch, erkenne dich selbst... Die Erkenntnis, die auf sich selbst bezogen ist, führt zugleich zur Erkenntnis alles anderen, während ohne jene auch alle andere Erkenntnis nur scheinbar und immer wieder irrtümlich bleibt.

S: Wie aber, o Talpides, kommt man nun dem Wesen näher – in der Wirklichkeit?

T: Wie es sich in unseren letzten Worten bereits andeutete, braucht es dazu sowohl die Liebe zum Wesen als auch den Weg in die Wirklichkeit und den klaren Blick für den Abstand, wo und in welchem Maße er vorhanden ist.

S: Und wie siehst du dieses beides in der Seite über das „Wesen der Pädagogik“ verwirklicht?

T: Ich sehe sowohl die Liebe zum Wesen als auch den klaren Blick, der notwendig ist, weil in der Wirklichkeit dieses Wesen heute nicht gefunden werden kann, indem nämlich das Wesentliche ganz und gar versäumt wird. Und nun sehe ich auch, dass die Kritiker dieser Seite nur jenen Aspekt sehen, der den „klaren Blick“ bezeichnet. Sie bekämpfen diesen, weil sie jenen anderen – die Liebe zum Wesen – gar nicht sehen und auch selber nicht haben. Am liebsten würden sie dennoch in süßer Sprache vom Wesen sprechen hören und natürlich zugleich die Bestätigung empfangen, dass dieses Wesen genau das ist, was sie täglich verwirklichen, zumindest im Großen und Ganzen.

S: Und was tun sie damit, o Talpides?

T: Sie belügen sich selbst. Sie streben nicht nur nicht nach Selbsterkenntnis, sondern sie verhindern sie geradezu. Innerlich wissen sie, dass es ein Ideal und eine Wirklichkeit gibt, aber tatsächlich wollen sie vom Ideal nichts wissen oder aber von vornherein ihre Taten als so gut und ideal wie möglich ansehen. Sie ertragen den Widerspruch nicht – und damit auch nicht den Hinweis auf diesen Widerspruch. Die Seite über das „Wesen der Pädagogik“ offenbart sowohl etwas von der wirklichen Gestalt des Ideals und der Liebe zu ihm, als auch den wirklichen Widerspruch zwischen diesem Ideal und der Wirklichkeit, die wesenlos und lieblos in Bezug auf das Ideal ist. Deshalb wird sie von jenem Teil der Seele bekämpft, dem diese Wesen- und Lieblosigkeit zugrunde liegt.

S: Aber die Pädagogen verweisen doch darauf, dass sie sich jeden Tag bemühen. Ist dies nicht Liebe zum Ideal?

T: Ja und nein, o Sokrates. Ja, indem diese Liebe verborgen im Grunde ihres Herzens lebt und sie sich ohne diese Liebe um nichts und überhaupt nichts bemühen würden. Nein jedoch, indem sie die Liebe nicht auf das Ideal selbst richten, sondern sie nur unbewusst sich ausleben lassen, wodurch sie ihrem eigentlichen Ziel niemals wirklich näher kommen kann.

S: Was aber wäre dazu notwendig, o Talpides?

T: Die Liebe zum Ideal müsste sich so klar wie möglich auf das Ideal richten – sie dürfte nicht nachlassen, sondern müsste in ihrem inneren Blick immer klarer, stärker und leuchtender werden. Die Liebe müsste ihr Ziel, das Ideal und das Wesen, immer liebender und immer klarer anblicken – und das Anblicken wäre eine immer klarere und immer mehr von Liebe getragene Erkenntnis.

S: Großartig sind deine Worte, Talpides, fahre fort...

T: Diese immer mehr in alle Richtungen wachsende Erkenntnis würde immer konkreter jede kleine Tat durchleuchten und durchwärmen, Erkenntnis und Tat wären immer mehr ein und dasselbe. Das Ideal würde durch die Liebe, die zugleich ganz und gar Erkenntnis wird, zur vollen Wirklichkeit in der Wirklichkeit...!

S: Gesegnet bist du, o Talpides, für diese klaren Worte!