Bewusstseinsethische Aufgabe

aus: Das Goetheanum Nr. 12 vom 19.03.2010, S. 7-9.

Jost Schieren wurde 2008 an der Alanus-Hochschule zum weltweit ersten Professor für Waldorfpädagogik ernannt ("Goetheanum" Nr. 24/2008). Der Leiter des Fachbereichs Bildungswissenschaft war selbst zehn Jahre als Deutschlehrer an der Dortmunder Rudolf-Steiner-Schule. Er sieht die Waldorfpädagogik vor der Herausforderung, sich in einem wissenschaftlichen Kontext bewähren zu müssen.


Vom Bahnhof in Alfter führt eine Straße in leichten Kurven zur Alanus-Hochschule, genauer: zu ih­rem bereits zweiten Standort. Ihr tradi­tioneller Kern liegt weiter oben auf dem Höhenzug des Vorgebirges. Der neue Standort ist ein Neubaukomplex: Be­tonwürfel, modern-sachlich, aber auch holzverschalt, prägen den Campus II. In einem dieser Würfel treffe ich Jost Schie­ren zum Gespräch über Wissenschaft­lichkeit und Anthroposophie.

Freundlich und offen begrüßt er mich in seinem Büro im zweiten Stock, das karg eingerichtet aussieht. Er sei erst vor Kurzem eingezogen und es seien noch nicht alle Möbel da, entschuldigt er sich. Mit Blick auf begrünte Dächer beginnen wir das Gespräch mit einer These.

Freier Denkvollzug statt Offenbarung

Sebastian Jüngel: Stimmt es, dass die Wissenschaft gewöhnlicherweise Objek­te und Sachverhalte anschaut, die An­throposophie als Geisteswissenschaft dagegen Wesen und Beziehungen?

Jost Schieren: Eine solche Gegen­überstellung greift zu kurz. Denn auch die Erziehungswissenschaften befassen sich mit Beziehungsvorgängen. Das Be­sondere der Anthroposophie als einer Wissenschaft liegt aus meiner Sicht in zwei Aspekten: Erstens: Der Kern der Anthroposophie liegt darin, dass sie – kurz gesagt – eine Wissenschaft vom freien Menschen ist. Rudolf Steiner hat in seinem erkenntniswissenschaftlichen Frühwerk die Bedingungen der Frei­heitsfähigkeit des Menschen auf Grund­lage des autonomen Denkwillens he­rausgearbeitet. Der zweite Aspekt betrifft den Umgang mit Spiritualität. Der Geistbegriff Steiners zielt auf den Be­reich einer autonomen Gesetzmäßig­keit, die in sich selbst begründet ist. Diese ist in früheren Kulturen als Of­fenbarung verstanden worden. Das Ra­dikale des Steiner'schen Geistverständ­nisses liegt nun darin, dass das Geistige allein in und durch den freien Denk­vollzug des modernen Menschen er­scheint. Das nennt Steiner Intuition.

Was bedeutet dies für die Anthroposophie als Wissenschaft?

Steiner hat die Anthroposophie immer als Geisteswissenschaft bezeichnet. Das war ja keine bloße Vokabel, sondern gehörte zu Steiners Konzept von Anthroposophie hinzu. Er strebte selbst mit seiner Dissertation ein akademisches Wirken an, was ihm aber nicht gelungen ist. Daraufhin suchte er Anschluss an literarische Kreise, an das Umfeld der Arbeiterbildungsschule und dann an die Theosophen. Damit hat das Ganze eine andere Wendung genommen und die wissenschaftliche Verortung der Anthroposophie steht noch aus.

Akademiefern etabliert

Die Anthroposophie ist durch eine wohl wachsende Anzahl von Dissertationen und über einzelne Lehrstühle Gegen­stand der Forschung. Dennoch ist sie im akademischen Bereich eher eine Randerscheinung.

Das hängt vor allein damit zusammen, wie bislang der Wissenschaftsansatz Rudolf Steiners rezipiert worden ist. Man muss Folgendes bedenken: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Anthroposophie von Steiner entwickelt wurde, hatten wir ein weitgehend unangefochtenes materialistisches und positivistisches Wissen­schaftsparadigma, welches die ge­samte geistige Kultur der deut­schen Klassik, der Romantik und auch des Idealismus recht aggres­siv bekämpft hat. Unsere gesamte technische und materialistische Zivilisation nahm ja dort ihren An­fang. Was damals gedacht wurde, wird heute gelebt.

Gegen diese einseitig materia­listische Wissenschaft hat sich Steiner zu Recht gewehrt. Das ist der Grund dafür, dass Steiners Texte oft polemisch und scharf wirken. Es war ein Geisteskampf, und der wird in der Regel mit har­ten Bandagen geführt.

Nun kommt jedoch hinzu, dass man mündlich direkter und un­differenzierter formuliert als schriftlich. Durch die Herausgabe der Vorträge wurde Steiners Wis­senschaftskritik überliefert. Dies wurde als Steiners Gesinnung rezipiert, hat sich bei den Anthroposophen habitualisiert und hat dazu geführt, dass sich die Anthropo­sophie außerhalb der Universitäten aka­demiefern etabliert hat. Die wissenschaft­lichen und auch die gesellschaftlichen Paradigmen haben sich aber inzwischen geändert. Es geht heute vielmehr um Me­thodentransparenz, Diskursoffenheit, Hie­rarchiefreiheit und Pluralität. Es macht daher keinen Sinn, die Wissenschaft wie noch zu Steiners Zeiten zu diffamieren.

Und es kommt noch eine weitere re­zeptionsideologische Problematik hinzu: Steiner wurde von den frühen Anthropo­sophen oft als <Menschheitsführer>, und <Lichtbringer> glorifiziert. Dabei wurde die eigene Rezeption der Anthroposophie zu­gleich mit der Anthroposophie identifi­ziert. jede andere, im Diskurs grundsätz­lich mögliche Sicht wurde als Geg­nerschaft diskreditiert. Dass Steiner auch Thesen aufgestellt, Meinungen geäußert, Sichtweisen dargestellt hat, wurde überse­hen. Jede seiner Äußerungen wurde als verkündete Wahrheit aufgefasst. Das wi­derspricht aber einer wissenschaftlichen Grundhaltung, die immer dialogoffen und mehrperspektivisch argumentiert, und führt in der Folge zu der nur allzu be­kannten unkritisch dogmatischen Vertre­tung der Anthroposophie.

Dem Pluralismus verpflichtet

Was heißt das für Ihre Arbeit an der Alanus-Hochschule?

Wir begreifen die Alanus-Hochschule als einen Ort, wo sich die Studierenden mit den unterschiedlichsten künstleri­schen und wissenschaftlichen Ansichten und Positionen auseinandersetzen kön­nen und auch müssen. Wir sind keine an­throposophische Hochschule, sondern eine Hochschule, in der man sich mit An­throposophie auseinandersetzen kann. Wir wollen uns als Institution plural auf­stellen, was nicht heißt, dass die einzelnen Lehrenden keine klare Position beziehen. Hier treten dann natürlicherweise Diver­genzen und Diskurse auf, mit denen die Studierenden umzugehen lernen.

Dies gilt auch für die Waldorfpädagogik. Sie wird im Kontext anderer pädagogischer Ansätze behandelt. Dies ist auch nötig, denn die Anthroposophie und mit ihr die Waldorfpädagogik sind keine solitären Er­scheinungen, sondern sie stehen in einem breit vernetzten geistes- und kulturge­schichtlichen Kontext. Es ist ja geradezu ein Merkmal der Arbeit Rudolf Steiners, dass er immer wieder die unterschied­lichsten Anknüpfungen gesucht hat. Ich betrachte die abgegrenzte und zum Teil isolierte Verortung der Anthroposophie in der Gegenwart als rezeptionsgeschichtli­ches Phänomen, und zwar mehr noch auf Seiten der Anthroposophen als auf Seiten der Gegenwartskultur.

Bedeutet das nicht eine Relativierung der Anthroposophie als zentralem Kulturimpuls?

Ich betrachte die Auseinandersetzung mit einem Menschen- und Weltbild, das Ringen um eine Weltanschauung, als Teil unseres Menschseins. Es geht nicht in erster Linie darum, eine Weltanschauung zu haben und zu vertreten. Der philosophi­sche Zweifel ist Ausdruck der Freiheit und Eigenständigkeit des Menschen. Es gibt keinen Ausbildungsweg zur Anthroposophie. Und ob etwas ein <zentraler Kultur­impuls> ist oder nicht, das zu entscheiden möge man der Geschichte überlassen.

Gnade spiegelt sich in Bescheidenheit

Was ist aber das Spezifische des anthropo­sophischen Ansatzes?

Anthroposophie als Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Mein Doktorvater Klaus Michael Meyer-Abich zitiert in einem seiner Bücher den Philo­sophen und Pädagogen Georg Picht, der sinngemäß, bezogen auf die Naturwis­senschaft, sagt: Eine Wissenschaft, die das Objekt ihrer Forschung zerstört, muss sich selbst infrage stellen lassen. Gegenüber diesem Wissenschaftverständnis, wel­ches dazu geführt hat, dass wir zivilisato­risch den Bezug zur Natur und auch zu ei­nem angemessenen Verstehen des Menschen verloren haben, bilden die An­throposophie und die Waldorfpädagogik ein Korrektiv, weil sie vom Menschen aus­gehen.

Sie haben die Kompatibilität der Anthropo­sophie mit der heutigen Wissenschaft be­tont. Wie sieht es beispielsweise mit dem Aspekt der <Gnade> bei höheren Erkennt­nisstufen aus, den Rudolf Steiner vielfach anführt? Diesen Begriff kann man in der Wissenschaft auch heute nicht heranzie­hen.

Das sehe ich anders: Zum wissenschaft­lichen Ethos gehört eine strenge Disziplin in der Urteilsbildung und die Bereitschaft, die eigenen Thesen und Ergebnisse immer wieder neu infrage zu stellen. Für eine gute wissenschaftliche Leistung braucht es Selbstlosigkeit, Hingabe, Ausdauer und – das weiß jeder Wissenschaftler – den rechten Moment. Das erinnert schon etwas an den Begriff der Gnade. Jede wirkliche Einsicht macht uns beschei­den. Das mag daran liegen, dass echte Einsichten eben nicht <von unten nach oben> erzwungen werden können, son­dern dass sie sich <einstellen>.

Selbstgebung der Person im Zentrum

Und wie sehen Sie das beim für die An­throposophie zentralen Begriff des <Wesens>, sagen wir beispielsweise von Ele­mentarwesen?

Ich habe das Gefühl, Sie lassen nicht locker. Auch hier ist es zunächst einmal wichtig zu klären, was gemeint ist. Man­che Begriffe geisteswissenschaftlicher Art haben uns eine falsche Fährte ein­schlagen lassen. Was sind denn Ele­mentarwesen? Oft kursieren Bilder von kleinen zwergenartigen Gestalten. Das sind Kinderbilder.

Der Ansatz Steiners ist der, dass er sagt, in der Natur liegen Gestaltungen vor. Also ist es nicht grundsätzlich falsch, davon auszugehen, dass es auch Gestaltungskräfte gibt. Es wäre ja auch sehr einseitig, würde man bei einem Gemälde von Picasso davon ausgehen, als hätten sich – vielleicht aufgrund ei­ner Erschütterung – die Farben von selbst auf dem Blatt ausgegossen. Nein, auch hier geht man davon aus, dass es eine gestaltende, Instanz gibt. Ähnlich geht die Anthroposophie von in der Er­scheinungswelt wirksamen formativen Kräften aus, die als solche naturwissen­schaftlich-phänomenologisch unter­sucht werden können. Aber das ist nicht mein Gebiet.

Nehmen wir ein weiteres Beispiel aus Ih­rem Fachgebiet, die Reinkarnation.

Nun, entscheidend für jede Pädagogik sind die Menschen, die Kinder und Jugendlichen, mit denen wir arbeiten. Allein deshalb ist es für einen Pädago­gen wichtig, sich zu vergewissern, wel­ches Menschenverständnis er hat. Hat er ein eher deterministisches Men­schenbild, wie es beispielsweise durch den Behaviorismus oder auch durch weite Teile der Gehirnforschung etab­liert worden ist? Oder haben wir ein Menschenbild, welches einen freien Per­sönlichkeitskern zugesteht? Dann hat man es mit unterschiedlichen Persönlichkeitstheorien zu tun.

Um es kurz zu sagen: Der Begriff der Reinkarnation, wie ihn Steiner entwi­ckelt hat, bietet aus meiner Sicht einen persönlichkeitstheoretischen Ansatz, der es möglich macht, die Autonomie des Menschseins konsequent zu Ende zu denken. Dieser Aspekt macht die Reinkarnationsidee interessant. Damit sage ich nicht, dass es Reinkarnation gibt. Ich sage nur, dass Reinkarnation ein Erklärungsmodell ist, das einen Vor­teil hat gegenüber vielen anderen Er­klärungsmodellen, weil die Selbstge­bung der Person im Zentrum bleibt. Dass es andere Meinungen und auch Opposition gibt, gehört zur Wissen­schaft.

Reinkarnation wäre nur ein Modell, kei­ne Wirklichkeit?

Vorsicht. Ich habe nicht gesagt, dass Reinkarnation nur ein Modell ist. Ich habe gesagt, dass ich mit dem Begriff der Reinkarnation wissenschaftsme­thodisch nur in Form eines Modells oder einer Theorie umgehen kann. Soll­ten Sie oder andere dies als eine Realität erfahren, so bleibt Ihnen das unbe­nommen.

Aber wie wird das Wissenschaft?

Ihre Frage impliziert, in der Wissen­schaft ginge es allein darum, letztgültige Beweise für etwas zu liefern. Das ist nicht immer der Fall, daher spricht ja auch Karl Popper von der Falsifikation als einer wissenschaftlichen Kategorie. Neben der Aufgabe, Erkenntnissicherheit zu gewährleisten, definiert die Wis­senschaft auch eine moderne Bewusst­seinsform, die sich darum bemüht, Forschung nachvollziehbar, methodisch reflektiert und selbstkritisch zu betrei­ben. Diese bewusstseinsethische Funk­tion von Wissenschaft ist unter ande­rem von Johann Wolfgang Goethe beschrieben worden.

Achtung vor dem Geheimnis

Wie kann ein Pädagoge ohne eigene Reinkarnationsforschung Kinder verste­hen?

Vieles, was mir bisher als sogenannte Reinkarnationsforschung begegnet ist, betrachte ich als Vermessenheit, die der Persönlichkeit des anderen Menschen nicht gerecht wird. Nochmals: Als Pä­dagoge habe ich es vor allem mit der Persönlichkeit des Kindes und Jugend­lichen zu tun, die noch gar nicht voll­ständig ausgebildet ist.

Wir stehen ja, wenn wir es mit einem Menschen zu tun haben, vor einem gro­ßen Geheimnis, das Geheimnis des menschlichen Ich. Und es gibt eine Achtung vor dem Geheimnis. Auch wenn Rudolf Steiner manches Geheim­nis gelüftet hat, bedeutet dies nicht, dass wir damit einfach umgehen kön­nen. Auch dies ist eine wissenschaftli­che Haltung.