23.03.2010

An der Bewusstseinsaufgabe gescheitert

Veröffentlicht als Leserbrief unter dem Titel "Drama und Tragik" im Goetheanum Nr. 18 vom 30.4.2010. | >> Langfassung.


Das Interview mit Prof. Jost Schieren im Goetheanum Nr. 12 vom 19.3. offenbart eine desolate Lage der Waldorfpädagogik nicht nur der akademischen.

Schieren spricht distanziert vom "Steiner'schen Geistverständnis". Er behauptet, dessen Kern liege darin, "dass das Geistige allein in und durch den freien Denkvollzug des modernen Menschen erscheint" und stellt einen falschen Gegensatz zur Offenbarung auf. Doch auch in dieser erscheint Geistiges, entscheidend ist aber der Weg! An die Hohlformel vom "freien Denkvollzug" kann man ebenfalls viele Fragen haben: Was ist wirkliches Denken? Was ist das Geistige? Erscheint es im Denken automatisch? Wie kann und muss das Denken geschult werden, um zur eigentlichen Geisteswissenschaft zu werden? Und so weiter.

Den wiederholten Fragen nach der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie weicht Schieren fortwährend aus. Stattdessen beklagt er die "akademieferne Verortung" der Anthroposophie und schiebt diese noch den dogmatischen Anthroposophen in die Schuhe – trotz jahrzehntelanger ernsthafter Forschung (man denke nur an die Versuche von Kolisko usw.), die von der herrschenden Wissenschaft eben völlig missachtet wurden. Das Gerede von der heute "pluralistischen", "diskursiven" Wissenschaft übersieht, dass es nach wie vor um herrschende Paradigma, Mehrheitsmeinungen, Publikationsmacht usw. geht und das Grundhindernis – das völlige Desinteresse und die Verleugnung des Geistes – nicht im geringsten kleiner geworden ist.

Geisteswissenschaftliche Tatsachen sind nicht jederzeit "reproduzierbar", sondern nur, wenn man die Instrumente dafür entwickelt hat – in seinem eigenen seelisch-geistigen Wesen! Doch niemand interessiert sich heute für etwas, für dessen Untersuchung er sich zunächst selbst verwandeln müsste! Und warum sollte die "Wissenschaftsgemeinde" sich für diese Geisteswissenschaft auch interessieren, wenn ihnen deren "Vertreter" ganz und gar entgegenkommen? Was Herr Schieren vertritt (wenn er etwas vertritt), ist für die akademische Wissenschaft sicherlich bequem genug, um sich darauf einzulassen – Anthroposophie ist es nicht mehr...

Im Bologna-Vortrag von 1911 (in GA 35) beschreibt Steiner sehr deutlich, wie Naturforschung und Geistesforschung nicht Anschluss aneinander suchen sollen, sondern sich gegenseitig in Ruhe lassen und ganz konsequent den jeweils eigenen Bereich erforschen müssten: die Naturforschung den Spiegel des Leibes und die Geistesforschung das sich spiegelnde Wesen...

Schieren, der deutlich sagt, dass Alanus keine anthroposophische Hochschule ist, will deren "pluralistischen" Ansatz damit rechtfertigen, dass Steiner selbst "immer wieder die unterschiedlichsten Anknüpfungen gesucht" habe. Es ist aber ein Unterschied wie Tag und Nacht, ob ein wahrer Geisteswissenschaftler Anknüpfungspunkte für sein Wirken und die Ergebnisse und Methoden seiner Forschung sucht – oder ob jemand, der sich intellektuell mit diesen Ergebnissen auseinandersetzt, Anschluss an die heutige Wissenschaftsgemeinde sucht! Schieren wehrt sich ja selbst schon gegen den Begriff "zentraler Kulturimpuls" für die Anthroposophie!

Die völlige Leugnung der wirklichen Geisteswissenschaft

Und dann kommt die Stelle, wo er wirklich das Wesen der Geisteswissenschaft leugnet:

"Es geht nicht in erster Linie darum, eine Weltanschauung zu haben und zu vertreten. Der philosophische Zweifel ist Ausdruck der Freiheit und Eigenständigkeit des Menschen. Es gibt keinen Ausbildungsweg zur Anthroposophie."


Das ist das genaue Gegenteil von allem, was Rudolf Steiner vertreten hat! Natürlich hat er zutiefst nach einer Weltanschauung gerungen. Was er fand, war das Wesen der Erkenntnis. Und was dadurch möglich wurde, war die Überwindung des philosophischen Zweifels – und nicht nur des Zweifels, sondern der Philosophie überhaupt – durch die Anthroposophie!

Erst dadurch aber wurde die Freiheit des Menschen begründet – nicht die negative Freiheit "von", sondern die wirkliche Realität der Freiheit. Der Zweifel macht den Menschen frei von göttlichen Offenbarungen. Die Überwindung des Zweifels aber macht den Menschen erst wirklich frei – in dieser Überwindung findet er sich als geistiges Wesen, das sich mit den göttlichen Welten wieder verbinden kann.

Wenn es keinen Ausbildungsweg zur Anthroposophie gäbe, wäre die Anthroposophie keine Wissenschaft! Zu jeder Wissenschaft gibt es eine Ausbildung. Und Rudolf Steiner hat diesen Ausbildungsweg in größter Differenziertheit und Ausführlichkeit beschrieben! Anthroposophie ist nicht zuerst eine Weltanschauung, sie ist zuerst ein Erkenntnisweg.

In gleicher Weise laviert Schieren an den Fragen nach der Reinkarnation, nach dem Begriff der "Gnade" in der Wissenschaft und nach der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie überhaupt vorbei.

Schieren sagt, es gehe in der Wissenschaft nicht immer darum, letztgültige Beweise für etwas zu liefern – daher betone Karl Popper den Grundsatz der Falsifikation. Dies ist aber sowohl in Bezug auf die Anthroposophie, als auch in Bezug auf die heutige Wissenschaft falsch. Das herrschende Paradigma kennt noch immer nur den Grundsatz der Falsifikation: Man könne überhaupt nie zu einem Beweis für die Wahrheit, sondern höchstens der Falschheit einer Theorie kommen. Dem diametral gegenüber steht aber die Anthroposophie oder Geisteswissenschaft: Sie arbeitet nicht mit Hypothesen, sondern auf absolut sicherem Boden! Sie erbaut sich ihre Erkenntnisgrundlage so fest, dass sie immer weiß, wann und wie lange sie sich auf dem Boden der Wahrheit bewegt. Damit aber hat sie letztgültige Erkenntnisse, auch wenn diese sich natürlich immer erweitern werden, je weiter man forscht. Was man aber erkannt hat, ist sicher.

Heutige Wissenschaft bewegt sich auf dem Boden der Hypothesen, Geisteswissenschaft bewegt sich in der Welt geistiger Realitäten, im Reich der Wahrheit.

Dass solche Interviews wie dasjenige mit Jost Schieren geführt und gedruckt werden, offenbart das Drama und die Tragik der heutigen Anthroposophie und Waldorfpädagogik in aller Deutlichkeit – für alle, die Augen haben zu sehen.