23.03.2010

Einführung

Im aktuellen "Goetheanum" erschien ein Interview mit dem "Professor für Waldorfpädagogik" Jost Schieren von der Alanus-Hochschule. Dieses Interview ist außerordentlich aufschlussreich für die Frage, wo die sogenannte Waldorfpädagogik heute steht. Man lese es möglichst erst selbst im Original, bevor man den folgenden Ausführungen folgt.

Zunächst wird man generell bemerken können, wie akademisch-intellektualisiert Schierens Sprache ist. Es ist aber nicht nur die Sprache, sondern auch das durch sie zum Ausdruck kommende Denken. Dadurch aber wird die Anthroposophie bzw. das Verständnis von ihr auf die rein intellektuelle Ebene des Verstandesdenken herabgezogen. Schon daran müsste klar werden, dass es hier überhaupt nicht mehr um Anthroposophie geht, sondern um eine Schimäre, eine verzerrte Totenmaske von ihr. Es ist tatsächlich wie der Tanz um das goldene Kalb. Jeder möchte sich auf "die Anthroposophie" berufen, beansprucht, über sie Aussagen machen zu können – und niemand merkt, dass man längst über etwas völlig anderes spricht. Ich werde dies an konkreten Beispielen verdeutlichen.

Das "Steiner'sche Geistverständnis"

Schieren sagt, das Radikale des "Steiner'schen Geistverständnisses" liege darin, "dass das Geistige allein in und durch den freien Denkvollzug des modernen Menschen erscheint". Das nenne Steiner Intuition. Schon das Wortungetüm "Steiner'sches Geistverständnis" zeigt die Intention des Akademikers Schieren: Er formuliert fortwährend neutral-distanziert, interpretierend, von außen. Das gehört offenbar zum Wesen des heutigen "diskursiven Wissenschaftspluralismus": Man betrachtet, verortet, legt sich aber selber nicht fest. Man spricht vom "Steiner'schen Geistverständnis", dessen Wesen man zu kennen glaubt, aber man gibt nicht wirklich zu erkennen, inwieweit das vielleicht auch das eigene Verständnis ist. Man bleibt Zuschauer! Bequem erhöht auf dem allwissenden Stuhl des Wissenschaftlers, der alles interpretieren darf und sich in der "pluralen Wissenschaftsgemeinde" zuhause fühlt. Nichts ist bequemer als die intellektuelle Distanz!

Schierens Satz von Steiners Geistverständnis ist eigentlich eine reine Hohlformel. Wer wollte bestreiten, dass man als letzte Ausläufer des Geistigen heute allein noch das versteht, was das menschliche Denken hervorbringt? Aber man hat heute gar keinen Geistbegriff. Schon die Formel vom "freien Denkvollzug" ist eine Hohlformel, denn ist denn dieser "freie Denkvollzug" etwas Selbstverständliches? Und was ist oder wäre das Geistige, was durch diesen "Denkvollzug" erscheint? Erscheint es automatisch? Und so weiter – man kann allein an diesen einen Satz Dutzende von Fragen haben. Hohlformeln und intellektualistische Floskeln haben es an sich, dass sie schön klingen und die heutigen hohlen Köpfe befriedigen, weil diese gar nicht mehr merken, dass in solchen Sätzen nichts gesagt ist und dass man daran viele Fragen haben müsste...

Es stimmt auch nicht, dass das selbstständige Denken und Offenbarungen einen Gegensatz bilden, innerhalb dessen letztere nichts Geistiges wären. Natürlich erscheint auch in der Offenbarung etwas Geistiges! Wahrscheinlich wäre es oft sogar viel geistiger als das, was man heute als "Denken" bezeichnen zu können meint! Der entscheidende Unterschied ist nicht das Geistige an sich, sondern die Frage, wie man sich dem Geistigen nähern kann. Offenbarungen sind heute zweifellos absolut selten geworden – und sie lassen nicht frei. Und sie können gerade deshalb in ihrer Wahrheit nicht geprüft werden. Der Mensch soll heute also durch das eigene Denken zum Geiste kommen. Dafür aber muss das Denken überhaupt erst einmal wahrhaft erkannt, geübt und ergriffen werden – in vielen Stufen. Sonst wird man die Stufen der höheren Erkenntnis und damit das, was Rudolf Steiner Geisteswissenschaft nennt, überhaupt nie erreichen!

Anschluss an die akademische Wissenschaft finden?

In seiner Antwort auf die nächste Frage ("Was bedeutet dies für die Anthroposophie als Wissenschaft?") setzt Schieren seine nichtssagenden Sätze fort, indem er eigentlich nichts anderes sagt als: Steiner hat seine Anthroposophie immer als (Geistes-)Wissenschaft bezeichnet. – Was soll eine solche Antwort!? Die Frage ist doch gerade: Wie kommt man zu der Wissenschaft des Geistes?

Im nächsten Satz sagt Schieren, mit Rudolf Steiners Anschluss an die Theosophen entstand eine Wendung, die dazu führte, dass die wissenschaftliche Verortung der Anthroposophie bis heute ausstehe. Dem muss man entgegensetzen: Das Verständnis der Anthroposophie als Wissenschaft des Geistes steht bis heute in der Wissenschaftsgemeinde und in der "Anthroposophenschaft" deshalb aus, weil sich niemand die Mühe macht, zu verstehen, wie man zu dieser Geisteswissenschaft kommen könnte. Entweder wird immer schon alles vorausgesetzt und man ergeht sich in Hohlformeln – oder man nimmt die Anthroposophie von vornherein nicht ernst. Wirkliches Streben ist auf beiden Seiten nicht vorhanden.

Schieren beklagt, dass sich die Anthroposophie "akademiefern etabliert" habe. Dies ist vielleicht tatsächlich zu beklagen, aber es vor allem den Anthroposophen in die Schuhe zu schieben, ist unredlich, denn es gab jahrzehntelang ernsthafte anthroposophische Forschung – man denke nur an die Versuche von Kolisko –, die aber nie zur Kenntnis genommen wurden und auch heute nicht den Hauch einer Chance wissenschaftlicher "Rezeption" hätten. Denn die ganze "plurale Wissenschaftsgemeinde" ist eine große Illusion. Auch heute setzt sich durch, was Mehrheitsmeinung ist, was in den großen wissenschaftlichen Medien überhaupt erscheinen darf und so weiter. Die Sprachregelungen sind heute wesentlich anders als früher ("pluralistisch", "diskursiv", "ergebnisoffen" usw.), aber die harte Wirklichkeit ist die gleiche: Desinteresse und Verleugnung des Geistes. Was zählt, sind auch in der Wissenschaft Beziehungen, Machtverhältnisse und Mehrheiten.

Dazu kommt, dass geisteswissenschaftliche Fakten nun einmal nicht objektiv-neutral-jederzeit "reproduzierbar" sind, sondern nur, wenn man die Instrumente dafür entwickelt hat – in seinem eigenen seelisch-geistigen Wesen! Damit aber ist Anthroposophie als Wissenschaftsmethode für die heutige Wissenschaft bereits "gestorben". Niemand interessiert sich heute für etwas, für dessen Untersuchung er sich zunächst selbst verwandeln müsste! Und warum sollte die "Wissenschaftsgemeinde" sich für diese Geisteswissenschaft auch interessieren, wenn ihnen deren "Vertreter" ganz und gar entgegenkommen? Was Herr Schieren vertritt (wenn er etwas vertritt), ist für die akademische Wissenschaft sicherlich bequem genug, um sich darauf einzulassen – Anthroposophie ist es nicht mehr...

Schieren will den Eindruck erwecken, als wäre Steiners Wissenschaftskritik erstens völlig falsch verstanden worden und zweitens heute gar nicht mehr aktuell. Man achte gerade in diesem Abschnitt einmal auf Schierens akademische Sprache!

Gegen diese einseitig materialistische Wissenschaft hat sich Steiner zu Recht gewehrt. (...) Nun kommt jedoch hinzu, dass man mündlich direkter und undifferenzierter formuliert als schriftlich. Durch die Herausgabe der Vorträge wurde Steiners Wissenschaftskritik überliefert. Dies wurde als Steiners Gesinnung rezipiert, hat sich bei den Anthroposophen habitualisiert und hat dazu geführt, dass sich die Anthroposophie außerhalb der Universitäten akademiefern etabliert hat. Die wissenschaftlichen und auch die gesellschaftlichen Paradigmen haben sich aber inzwischen geändert. Es geht heute vielmehr um Methodentransparenz, Diskursoffenheit, Hierarchiefreiheit und Pluralität. Es macht daher keinen Sinn, die Wissenschaft wie noch zu Steiners Zeiten zu diffamieren.


Was ist dem zu erwidern? Vieles. Erstens: Rudolf Steiner soll sich mündlich also anders geäußert haben, als er es meinte? Er hätte es in Wirklichkeit gar nicht so scharf und polemisch gemeint? Das ist gerade gegenüber Rudolf Steiner schon ein halber Vorwurf der Unwahrhaftigkeit. Steiner hat sich auch schriftlich verschiedentlich sehr scharf geäußert! Zweitens aber hat er auf der anderen Seite immer wieder die großartigen Leistungen und die volle Berechtigung der Wissenschaft betont. Diesen scheinbaren Widerspruch muss man verstehen, indem man erkennt, worauf es Steiner ankam. Dann aber weiß man auch, dass sich Steiner heute genauso scharf und ausdrücklich gegen die heutige Wissenschaft gewandt hätte! Denn was soll mit "Diskursoffenheit" usw. überhaupt gewonnen sein, wenn erstens nach wie vor die Mehrheiten und nicht die Wahrheiten entscheiden – und wenn zweitens nach wie vor überhaupt gar keine Geisteswissenschaft betrieben wird!? Und was nützt jegliche Methodentransparenz (die es vor 100 Jahren definitiv auch schon gab!), wenn die richtigen und notwendigen Methoden, um die Anthroposophie zu realisieren, weder verstanden noch angewendet werden!?

Der Bologna-Vortrag zum Verhältnis von (Natur-)Wissenschaft und Geistesforschung

Vielleicht ist es hier jetzt am Platze, einmal auf Rudolf Steiners Vortrag auf dem Kongress in Bologna 1911 einzugehen. Dort schilderte Steiner in aller notwendigen Kürze die Methoden der von ihm vertretenen Geisteswissenschaft ("Die psychologischen Grundlagen und die Erkenntnistheoretische Stellung der Anthroposophie", in GA 35). Man kann stark, sehr stark bezweifeln, dass auch nur ein Bruchteil der heutigen Wissenschaftsgemeinde verstanden hätte und – schlimmer noch – zu verstehen bereit gewesen wäre, was Steiner dort geschildert hat. Und das lag oder liegt nicht an Steiner, sondern daran, dass man von der Realität des Geistes gar nichts wissen will! Man will nur im Trüben fischen, neuronale bzw. neurologische Zusammenhänge aufdecken und so weiter. Man will von seinem eigenen Geist entfremdet bleiben, denn wirkliche Geisteswissenschaft wäre unbequemer als alles andere, was man bis dahin praktiziert hat.

Und nun komme ich zu der Stelle, die ich hier im Auge habe und zitieren möchte (GA 35, S. 139ff):

Das heißt aber doch nichts anderes als: das Ich steht mit seiner mathematischen Vorstellung nicht außerhalb der transzendent mathematischen Gesetzmäßigkeit der Dinge, sondern innerhalb. Und man wird deshalb zu einer besseren Vorstellung über das "Ich" erkenntnistheoretisch gelangen, wenn man es nicht innerhalb der Leibesorganisation befindlich vorstellt, und die Eindrücke ihm "von außen" geben läßt; sondern wenn man das "Ich" in die Gesetzmäßigkeit der Dinge selbst verlegt, und in der Leibesorganisation nur etwas wie einen Spiegel sieht, welcher das außer dem Leibe liegende Weben des Ich im Transzendenten dem Ich durch die organische Leibestätigkeit zurückspiegelt. Hat man sich einmal für das mathematische Denken mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß das "Ich" nicht im Leibe ist, sondern außerhalb desselben und die organische Leibestätigkeit nur den lebendigen Spiegel vorstellt, aus dem das im Transzendenten liegende Leben des "Ich" gespiegelt wird, so kann man diesen Gedanken auch erkenntnistheoretisch begreiflich finden für alles, was im Bewußtseinshorizonte auftritt. – Und man könnte dann nicht mehr sagen, das "Ich" müsse sich selbst überspringen, wenn es in das Transzendente gelangen wollte; sondern man müßte einsehen, daß sich der gewöhnliche empirische Bewußtseinsinhalt zu dem vom menschlichen Wesenskern wahrhaft innerlich durchlebten, wie das Spiegelbild sich zu dem Wesen dessen verhält, der sich in dem Spiegel beschaut. –
Durch eine solche erkenntnistheoretische Vorstellung würde nun der Streit zwischen der zum Materialismus neigenden Naturwissenschaft und einer das Spirituelle voraussetzenden Geistesforschung in eindeutiger Art wirklich beigelegt werden können. Denn für die Naturforschung wäre freie Bahn geschaffen, indem sie die Gesetze der Leibesorganisation unbeeinflußt von einem Dazwischenreden einer spirituellen Denkart erforschen könnte. Will man erkennen, nach welchen Gesetzen das Spiegelbild entsteht, so ist man an die Gesetze des Spiegels gewiesen. Von diesem hängt es ab, wie der Beschauer sich spiegelt. Es geschieht in verschiedener Art, ob man einen Planspiegel, einen konvexen oder einen konkaven Spiegel hat. Das Wesen dessen, der sich spiegelt, liegt aber außerhalb des Spiegels. So könnte man sehen in den Gesetzen, welche die Naturforschung ergibt, die Gründe für die Gestaltung des empirischen Bewußtseins; und in diese Gesetze wäre nichts einzumischen von dem, was die Geisteswissenschaft über das innere Leben des menschlichen Wesenskernes zu sagen hat. Innerhalb der Naturforschung wird man mit Recht sich immer wehren gegen ein Einmischen rein spiritueller Gesichtspunkte. Und auf dem Felde dieser Forschung ist es nur naturgemäß, daß man mehr sympathisiert mit Erklärungen, die mechanisch gehalten sind, als mit spirituellen Gesetzen. Eine Vorstellung wie die folgende muß dem in klaren naturwissenschaftlichen Vorstellungen Lebenden sympathisch sein: "Die Tatsache des Bewußtseins durch Gehirnzellen-Erregung ist nicht wesentlich anderer Ordnung als die Tatsache der an den Stoff gebundenen Schwerkraft" (Moritz Benedikt). Jedenfalls ist mit einer solchen Erklärung exakt methodologisch das naturwissenschaftlich Denkbare gegeben. Sie ist naturwissenschaftlich haltbar, während die Hypothesen von einem Regeln der organischen Vorgänge unmittelbar durch psychische Einflüsse naturwissenschaftlich unhaltbar sind. Der vorhin charakterisierte erkenntnistheoretische Grundgedanke kann aber in dem ganzen Umfange des naturwissenschaftlich Feststellbaren nur Einrichtungen sehen, welche der Spiegelung des eigentlichen seelischen Wesenskernes des Menschen dienen. Dieser Wesenskern aber ist nicht in das Innere des physischen Organismus, sondern in das Transzendente zu verlegen. Und Geistesforschung wäre dann als der Weg zu denken, sich in das Wesen dessen einzuleben, was sich spiegelt.
Selbstverständlich bleibt dann die gemeinsame Grundlage der Gesetze des physischen Organismus und jener des Übersinnlichen hinter dem Gegensatz: "Wesen und Spiegel" liegen. Doch ist dies gewiß kein Nachteil für die Praxis der wissenschaftlichen Betrachtungsweise nach den beiden Seiten hin. Diese würde bei der charakterisierten Festhaltung des Gegensatzes in zwei Strömungen fortfließen, die sich gegenseitig erhellen und erläutern. Denn es ist ja festzuhalten, daß man es in der physischen Organisation nicht mit einem von dem Übersinnlichen unabhängigen Spiegelungsapparat im absoluten Sinne zu tun hat. Der Spiegelungsapparat muß eben doch als das Ergebnis der sich in ihm spiegelnden übersinnlichen Wesenheit gelten. Der relativen gegenseitigen Unabhängigkeit der einen und der anderen von obigen Betrachtungsweisen muß ergänzend eine andere, in die Tiefe gehende, gegenübertreten, welche die Synthesis des Sinnlichen und Übersinnlichen anzuschauen in der Lage ist. Der Zusammenschluß der beiden Strömungen kann als gegeben gedacht werden durch eine mögliche Fortentwickelung des Seelenlebens zu der charakterisierten intuitiven Erkenntnis. Erst innerhalb dieser ist die Möglichkeit gegeben, den Gegensatz zu überwinden.


Jost Schieren und alle, die wie er "Anthroposophie" akademisch vertreten möchten, haben keine Ahnung von der wahren Differenz zwischen aller heutigen Wissenschaft und wahrer Geisteswissenschaft.
Sie möchten Anthroposophie "akademisch verorten" und merken gar nicht, dass das unmöglich ist. Allenfalls können sie versuchen, das eine oder andere Forschungsergebnis Rudolf Steiners in ihren akademischen Zusammenhängen besser zu "verorten" – aber auch das ist nur möglich, insofern die heutige Wissenschaft einige von Steiners Erkenntnissen längst auch auf ihrem Wege selbstständig gewonnen hat... Dann aber entstehen nur weitere Illusionen, denn die "Anthroposophie-Vertreter" glauben dann, die heutige Wissenschaft wäre auf dem Wege, die Anthroposophie anzuerkennen, aber das tut sie nicht. Sie erkennt nicht einmal ihre Ergebnisse an, denn es sind nur ihre eigenen Ergebnisse, um die es der Wissenschaft geht. Man kann noch so sehr betonen, Steiner habe das schon lange gesagt, oder sich mit seiner akademischen Sprache in den wissenschaftlichen Diskurs einbringen. Nur wenn man sich diesem Diskurs und seiner Sprache gänzlich anpasst, wird man anerkannt – aber nur, weil man mitmacht, nicht etwa, weil man eine Bereicherung darstellen würde. Anthroposophie wird nicht anerkannt. Und sie geht im Zuge der Anpassung ihrer "Vertreter" noch in ihren letzten Spuren verloren...

Dogmatisch, dialogoffen ... oder christlich?

Und dann diskreditiert Schieren alle, die die Anthroposophie nicht im Sinne des modernen Diskurses und der modernen Distanz rezipieren... Er sagt:

Und es kommt noch eine weitere re­zeptionsideologische Problematik hinzu: Steiner wurde von den frühen Anthropo­sophen oft als "Menschheitsführer", und "Lichtbringer" glorifiziert. Dabei wurde die eigene Rezeption der Anthroposophie zu­gleich mit der Anthroposophie identifi­ziert. Jede andere, im Diskurs grundsätz­lich mögliche Sicht wurde als Geg­nerschaft diskreditiert. Dass Steiner auch Thesen aufgestellt, Meinungen geäußert, Sichtweisen dargestellt hat, wurde überse­hen. Jede seiner Äußerungen wurde als verkündete Wahrheit aufgefasst. Das wi­derspricht aber einer wissenschaftlichen Grundhaltung, die immer dialogoffen und mehrperspektivisch argumentiert, und führt in der Folge zu der nur allzu be­kannten unkritisch dogmatischen Vertre­tung der Anthroposophie.


Natürlich gibt es dogmatische Anthroposophen aber ebenso gibt es scheinbar undogmatische Anthroposophen, die die Dogmatiker gar nicht von den wirklichen Anthroposophen unterscheiden können oder wollen. Rudolf Steiner darf also nicht als Menschheitsführer angesehen werden – so die Lehre derer, die Steiner aseptisch-distanziert-diskursiv rezipieren wollen und dabei automatisch glauben, ihre Rezeption wäre die richtige, sie würden sehen können, wann Steiner nur eine These aufgestellt, eine Meinung geäußert hätte! Bei solchen Sätzen würde es mich nicht wundern, wenn Schieren sich prächtig mit einem Helmut Zander verstehen würde, der auch meinte, Steiner akademisch-wissenschaftlich fundiert verstanden zu haben (indem er ihm Kalkül, Machtstreben und meisterhaften Eklektizismus und Neuinterpretation unterstellte).

Das ganze Gerede von "mehrperspektivisch" usw. ist inhaltsleer bis tief verlogen. Erstens: Wer wäre ein größerer Meister des Umfassend-Perspektivischen als Rudolf Steiner? Zweitens aber: Etwas ist entweder eine erkannte Wahrheit oder eine bloße Meinung. Solange man nicht willens und auch nicht fähig ist, Steiners Wahrheiten ernst zu nehmen und sich mit aller Kraft selbst um den von ihm aufgezeigten Erkenntnisweg bemüht, sollte man nicht einmal anfangen zu spekulieren, was bei ihm eine bloße These gewesen sein könnte (oder dies sogar dogmatisch behaupten)! Man geriete nur auf die größten Irrwege.

Heute glaubt man durch "kritische Wissenschaft" ungeheuer weit zu kommen, auch in der Erkenntnis der Person Rudolf Steiners. Aber diese kritische Wissenschaft hatte man schon vor 100 Jahren – und man sehe zum Beispiel, wohin es die kritische Bibelforschung damals schon gebracht hat. Es wäre übrigens interessant, wie Schieren sich auf die Frage nach dem Christuswesen in seinen Formulierungen aus- und herumgedrückt hätte. Diese Frage ist und bleibt die eigentliche Gretchenfrage der Wissenschaft...

Einen kleinen Vorgeschmack, wie Schieren hier reagiert hätte, gibt vielleicht seine Antwort auf den Hinweis des Interviewers, dass man in der heutigen Wissenschaft den Begriff der Gnade nicht kenne, den Steiner in Zusammenhang mit den höheren Erkenntnisstufen vielfach anführe. Schieren kann darauf nur erwidern:

Das sehe ich anders: (...) Für eine gute wissenschaftliche Leistung braucht es Selbstlosigkeit, Hingabe, Ausdauer und – das weiß jeder Wissenschaftler – den rechten Moment. Das erinnert schon etwas an den Begriff der Gnade.


Was für eine armselige Ausflucht auf die Frage! Es geht doch nicht um holprige Analogien, sondern um die Frage, ob die heutige Wissenschaft den Begriff der Gnade kennt, d.h. einen wirklichen Begriff davon hat oder nicht. Das ist eine ganz klare Frage, die eine ganz klare Antwort verlangt (hätte).

Pluralistischer Diskurs-Steiner? Nein, tote Waldorfpädagogik!

Und dann will Schieren selbst aus Rudolf Steiner einen pluralistischen, diskurs-betonten Wissenschaftler machen  um die Beliebigkeit seines eigenen Standpunktes zu bemänteln:

Wir sind keine anthroposophische Hochschule, sondern eine Hochschule, in der man sich mit Anthroposophie auseinandersetzen kann. Wir wollen uns als Institution plural aufstellen, was nicht heißt, dass die einzelnen Lehrenden keine klare Position beziehen. Hier treten dann natürlicherweise Divergenzen und Diskurse auf, mit denen die Studierenden umzugehen lernen.
Dies gilt auch für die Waldorfpädagogik. Sie wird im Kontext anderer pädagogischer Ansätze behandelt. Dies ist auch nötig, denn die Anthroposophie und mit ihr die Waldorfpädagogik sind keine solitären Erscheinungen, sondern sie stehen in einem breit vernetzten geistes- und kulturgeschichtlichen Kontext. Es ist ja geradezu ein Merkmal der Arbeit Rudolf Steiners, dass er immer wieder die unterschiedlichsten Anknüpfungen gesucht hat.


Natürlich hat Rudolf Steiner überall Anknüpfungspunkte gesucht! Die wirkliche Anthroposophie hat ja überall reale Anknüpfungspunkte an sämtliche Erscheinungen des Lebens, weil sie diese Erscheinungen bis zu ihren geistigen Wirklichkeiten erforscht. Aber es ist etwas völlig anderes, ob ein Menschheitsführer – oder sagen wir nur: ein wahrer Geisteswissenschaftler – Anknüpfungspunkte und Verständnis-Ansatzpunkte für sein Wirken und die Ergebnisse und Methoden seiner Forschung sucht – oder ob jemand, der sich intellektuell mit diesen Ergebnissen auseinandersetzt, Anschluss an die heutige Wissenschaftsgemeinde sucht. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht!

Schierens Hohlformeln vom Kontext, in dem die Anthroposophie und die Waldorfpädagogik stehen, führen vollkommen in die Irre. Sie sollen einzig und allein Schierens eigenes akademisches Herumstolpern und intellektualistisches Dozieren rechtfertigen. In Wirklichkeit waren die (wirkliche) Anthroposophie und die (wirkliche) Waldorfpädagogik ein völliger Neueinschlag – und sollten ein tiefgreifender Kulturimpuls sein. Schon das ist etwas, wogegen Schieren sich innerlich wehrt:

"Ob etwas ein 'zentraler Kulturimpuls' ist oder nicht, das zu entscheiden möge man der Geschichte überlassen."


Auch hier soll also wieder der "objektive", distanzierte Zuschauer-Blick aus der späteren Zukunft in die Vergangenheit entscheiden... Rudolf Steiner hat zwar bei der Begründung der Waldorfschule gewisse Kompromisse gemacht, wo es nicht anders ging, aber er hat auch gesagt:

Der Lehrer muß ein tief innerlich wahrhaftiger Mensch sein, er darf nie Kompromisse schließen mit dem Unwahren, sonst würden wir sehen, wie durch viele Kanäle Unwahrhaftiges, besonders in der Methode, in unseren Unterricht hereinkommt.


Heute dagegen steht die Waldorfbewegung vor den Trümmerscherben ihrer eigenen Unwahrhaftigkeit – es ist längst nicht nur in die Methode das Unwahrhaftige hineingekommen, nein, es wurden ganze Körbe voll Methodik über Bord geworfen, und mehr noch: An sehr vielen Waldorfschulen besteht schon die Mehrheit der Kollegien aus Menschen, die sich gar nicht tiefer für die Waldorfpädagogik interessieren – und für ihre spirituelle Grundlage überhaupt nicht. Das müsste man endlich einmal zugeben und als Problem überhaupt offen ansprechen. Dass man es nicht tut, ist die Krönung der Unwahrhaftigkeit. Statt dessen bereitet man aufwendige "Lehrergewinnungs-Kampagnen" vor und tut so, als wären die vorhandenen Lehrer wahrhaftige, tief strebende Waldorfpädagogen. Nichts ist unwahrer!

Die Waldorfpädagogik heute ist tot – und das theoretische Akademisieren von "Waldorf-Professoren" wie Schieren ist der Totengesang dazu.

Die völlige Leugnung der wirklichen Geisteswissenschaft

Und Schieren singt dann auch das Totenlied der Anthroposophie:

Es geht nicht in erster Linie darum, eine Weltanschauung zu haben und zu vertreten. Der philosophische Zweifel ist Ausdruck der Freiheit und Eigenständigkeit des Menschen. Es gibt keinen Ausbildungsweg zur Anthroposophie.


Das ist das genaue Gegenteil von allem, was Rudolf Steiner vertreten hat! Natürlich hat er zutiefst nach einer Weltanschauung gerungen. Aber nicht nach einer beliebigen – sondern nach einer, die unerschütterlich wäre. Und was er fand, war das Wesen der Erkenntnis. Und was dadurch möglich wurde, war die Überwindung des philosophischen Zweifels – und nicht nur des Zweifels, sondern der Philosophie überhaupt – durch die Anthroposophie!

Erst dadurch aber wurde die Freiheit des Menschen begründet – nicht die negative Freiheit "von", sondern die wirkliche Realität der Freiheit. Der Zweifel macht den Menschen frei von göttlichen Offenbarungen. Die Überwindung des Zweifels aber macht den Menschen erst wirklich frei – in dieser Überwindung findet er sich als geistiges Wesen, das sich mit den göttlichen Welten wieder verbinden kann.

Wenn es keinen Ausbildungsweg zur Anthroposophie gäbe, wäre die Anthroposophie keine Wissenschaft! Zu jeder Wissenschaft gibt es eine Ausbildung. Und Rudolf Steiner hat diesen Ausbildungsweg in größter Differenziertheit und Ausführlichkeit beschrieben! Anthroposophie ist nicht zuerst eine Weltanschauung, sie ist zuerst ein Erkenntnisweg. Was Schieren in diesen drei oben zitierten Sätzen sagt, ist wirklich die umfassende Leugnung des Wesens der Anthroposophie.

Wie sehr Schieren in dem rein abstrakt-distanziert-theoretischen Felde der heutigen Wissenschaft bleibt, zeigt auch sein Herumlavieren bei der Frage nach der Reinkarnation – also nach dem, was "Rudolf Steiners 'eigenste Mission'" (so der Titel eines aktuellen sehr guten Werkes von Thomas Meyer) betraf:

Der Begriff der Reinkarnation, wie ihn Steiner entwi­ckelt hat, bietet aus meiner Sicht einen persönlichkeitstheoretischen Ansatz, der es möglich macht, die Autonomie des Menschseins konsequent zu Ende zu denken. (...) Damit sage ich nicht, dass es Reinkarnation gibt. Ich sage nur, dass Reinkarnation ein Erklärungsmodell ist, das einen Vor­teil hat gegenüber vielen anderen Er­klärungsmodellen, weil die Selbstge­bung der Person im Zentrum bleibt. Dass es andere Meinungen und auch Opposition gibt, gehört zur Wissen­schaft.

Reinkarnation wäre nur ein Modell, kei­ne Wirklichkeit?
Vorsicht Ich habe nicht gesagt, dass Reinkarnation nur ein Modell ist. Ich habe gesagt, dass ich mit dem Begriff der Reinkarnation wissenschaftsme­thodisch nur in Form eines Modells oder einer Theorie umgehen kann. Soll­ten Sie oder andere dies als eine Realität erfahren, so bleibt Ihnen das unbe­nommen.


Schieren behandelt Reinkarnation also wirklich nur als theoretisch möglichen und als solchen sogar sehr interessanten Ansatz. Er sagt sogar, dass er mit dem Begriff der Reinkarnation "wissenschaftsmethodisch" nur als Theorie umgehen kann. Nun käme alles darauf an, ob er dieses "ich" gleichbedeutend mit "man" verwendet – und wie er seinen Nachsatz "Sollten Sie oder andere..." meint. In jedem Fall ist die anschließende Frage des Interviewers absolut berechtigt: Aber wie wird das Wissenschaft? Das ist ja gerade die alles entscheidende Frage: Wie kommt man zu den Forschungsergebnissen der Geisteswissenschaft? Wie kommt man dazu, etwa in Bezug auf die Frage der Reinkarnation "eine Realität zu erfahren"?

Will Schieren sagen, dass er die Reinkarnation "wissenschaftsmethodisch" zwangsläufig nur als Modell und Hypothese behandeln kann – und will er damit auf seine eigene Unfähigkeit hinweisen oder eine generelle Aussage treffen?

Er bleibt die Antwort auch auf die vom Interviewer gestellte Frage schuldig. Wie wird das Wissenschaft? Schieren sagt, es gehe in der Wissenschaft nicht immer darum, letztgültige Beweise für etwas zu liefern – daher betone Karl Popper den Grundsatz der Falsifikation.

Schieren laviert hier gleich um mehrere Ecken. Was er sagt, ist sowohl in Bezug auf die Anthroposophie, als auch in Bezug auf die heutige Wissenschaft falsch. Die heutige Wissenschaft – zumindest das herrschende Paradigma – kennt noch immer nur den Grundsatz der Falsifikation: Man könne überhaupt nie zu einem letztgültigen Beweis für die Wahrheit einer Theorie kommen, sondern immer nur zum Beweis ihrer Falschheit. Das ist das eine. Dem diametral gegenüber steht aber die Anthroposophie oder Geisteswissenschaft: Sie arbeitet nicht mit Hypothesen, sondern auf absolut sicherem Boden! Sie erbaut sich ihre Erkenntnisgrundlage so fest, dass sie immer weiß, wann und wie lange sie sich auf dem Boden der Wahrheit bewegt. Damit aber hat sie letztgültige Erkenntnisse, auch wenn diese sich natürlich immer erweitern werden, je weiter man forscht. Was man aber erkannt hat, ist sicher.

Heutige Wissenschaft bewegt sich auf dem Boden der Hypothesen, Geisteswissenschaft bewegt sich in der Welt geistiger Realitäten, im Reich der Wahrheit.

"Nachvollziehbar, methodisch reflektiert und selbstkritisch" (Schieren) sind beide – nur wird die erstere den Weg zur Anthroposophie niemals finden, wenn sie nicht den Schritt vom abstrakten Intellekt hin zu einer wahren Selbsterkenntnis und zu einem realen Erfassen des Geistes macht. Die heutige Wissenschaft wird diesen Schritt aber niemals machen, da ja sogar die selbsternannten Vertreter der Anthroposophie stattdessen den Schritt in den abstrakten Intellekt hinein machen bzw. aus diesem gar nicht herauskommen...

Dass Menschen wie Jost Schieren zu "Professoren für Waldorfpädagogik" ernannt werden und dann noch als berufene "Fachleute" von der Wochenschrift "Das Goetheanum" interviewt werden und dass derartige Auslassungen dann auch noch gedruckt werden, offenbart das Drama und die Tragik der heutigen Anthroposophie und Waldorfpädagogik in unvorstellbarer Deutlichkeit – für alle, die Augen haben zu sehen.