23.01.2010

Der Waldorfschüler – das unbekannte Wesen

Von der Suche nach Spuren eines noch ungeschehenen Wunders...


Inhalt
Einleitung
Was bedeutet die Frage nach dem Wesen?
Vom wirklichen Erleben der Aufgabe
Der verloren gehende Quellgrund
Das noch ungeschehene Wunder


Einleitung

Der Titel dieses Aufsatzes ist natürlich provokant – weil er bereits alle möglichen Gedanken anregt. Wieso "unbekannt"? Geht es hier um Aufklärung der "Außenwelt"? Wieso das Wesen, wieso der Schüler?

Nein, es geht nicht um die "Außenwelt", sondern um die Waldorfbewegung selbst. Hier "weiß" man natürlich sehr gut, dass jeder Mensch ein Individuum ist. Aber kann man mit diesem Wissen auch etwas anfangen? In der übrigen Pädagogik weiß man dies heute auch – es gibt eigentlich nur noch wenige Inseln in der pädagogischen Landschaft, wo heute noch öffentlich behauptet wird, Pädagogik sei Wissensvermittlung ohne Ansehen der Individualität.

Es bleibt aber gültig und hochaktuell, was Rudolf Steiner wenige Monate nach Gründung der ersten Waldorfschule in Bezug auf das Bildungswesen sagte:

"Bei dem Versuch, die pädagogische Aufgabe zu lösen, kommt es darauf an, den Grund zu erkennen, warum die guten Erziehungsprinzipien, die vorhanden sind, in so weitgehendem Maße zu nicht befriedigenden Ergebnissen führen. – Es wird doch zum Beispiel allgemein anerkannt, daß die sich entwickelnde Individualität des Kindes für die Gewinnung der leitenden Ideen im Unterrichten und Erziehen beobachtet werden müsse. In allen Tonarten wird dieser Gesichtspunkt als ein richtiger hingestellt.
Aber es gibt heute gewichtige Hindernisse, diesen Gesichtspunkt einzunehmen. Er erfordert, um in wahrer Praxis zur Geltung zu kommen, eine Seelen-Erkenntnis, die wirklich das Wesen des Menschen aufschließt." (GA 24, S. 267ff).

Was bedeutet die Frage nach dem Wesen?

Es geht um das Wesen des Menschen – nicht um die individuelle äußere Erscheinung! Diese ist immer nur Hinweis auf das Wesen, das natürlich auch individuell ist. Aber erst das Wesen ist wirklich individuell, während die äußere Erscheinung es in vielerlei Hinsicht nur scheinbar ist und man sich mit dem Blick auf die Erscheinung oft genug (oder fast immer) den Blick auf das Wesen verstellt.

Jeder Mensch, jeder Schüler, hat also ein ganz individuelles, ganz geheimes und zunächst unerkanntes Wesen. Insofern kann man von "dem" Waldorfschüler gar nicht sprechen. Die Überschrift soll aber noch auf etwas anderes hinweisen: Was ist "das Wesen" der Waldorfschüler – aller Waldorfschüler? Mit anderen Worten: Was kann sich (vielleicht: nur) in "der" Waldorfschule entwickeln? In der Waldorfschule, wenn diese selbst ihr Wesen zur Erscheinung bringen würde?

Was könnten Schüler entwickeln, was würde "Waldorfschüler" bedeuten können, wenn Waldorfschule wirklich Waldorfschule wäre?

"Waldorfschüler" ist zunächst ein Sammelbegriff, insofern kann man der Waldorfschüler sagen. Das Wort bezeichnet zunächst nichts anderes als heranwachsende Menschen, die eine "Waldorfschule" besuchen! Entscheidend aber ist die Frage: Was ist eine Waldorfschule? Hier tritt die Frage nach dem Wesen auf. Was würde zum wahren Wesen der Waldorfschule, der Waldorfpädagogik gehören, was werdenden Menschen ermöglicht, ihr eigenes Wesen zu entfalten?

Das Ziel, jedem einzelnen Menschen die Entfaltung seines Wesens zu ermöglichen, gehört offenbar zum Wesen der Waldorfpädagogik. Die Frage aber ist: Wie kann dieses Ziel erreicht werden? Wie kann das Wesen dieser Pädagogik verwirklicht werden? Welche Fähigkeiten braucht der Waldorflehrer dazu? 

Und insofern liegt in der Überschrift dieses Textes auch die Aussage: Das Wesen "des Waldorfschülers" ist innerhalb der Waldorfbewegung unbekannt – weil das Wesen der Waldorfpädagogik noch immer unerkannt bzw. unverwirklicht ist. Das Wesen des Waldorfschülers würde man sozusagen erst erkennen können, wenn es durch das verwirklichte Wesen der Waldorfpädagogik in die Erscheinung treten könnte – wenn also junge Menschen wirklich ganz und gar den Weg der Entfaltung ihres Wesens gehen könnten, weil die dies allein ermöglichende Pädagogik ganz und gar real wäre.

Dann erst würde man erleben und erfahren können, was Waldorfschule wirklich ist – und was Waldorfschüler, was ganz zur Freiheit kommende Menschen wirklich sind.

Vom wirklichen Erleben der Aufgabe

Wir wissen oder ahnen alle, wie groß und ungeheuerlich diese Aufgabe ist. Wir wissen oder können wissen, wie groß die äußeren und inneren, die physischen, leiblichen und seelischen Hindernisse sind, die einer Entwicklung wahrer Freiheit im Wege stehen. Zumindest ansatzweise kennen wir alle diese Hindernisse in uns selbst. Wir erleben alltäglich die Wirkungen dieser Hindernisse – wiederum in uns selbst, in der Arbeit mit den Kollegen, in der Arbeit und im Zusammenleben mit den Schülern, mit den eigenen Kindern, mit Freunden, mit Fremden...

Wenn man sich mit dieser Erkenntnis tief durchdringt, kann sie einem zu einem wirklichen Erleben bringen, wie groß die Aufgabe ist – und wie unvollkommen sie heute gelöst wird.

Es geht nun wiederum nicht um Vorwürfe oder ähnliches, sondern allein darum, sich die Tatsache klarzumachen: Ohne dass man die wirkliche Größe der Aufgabe und ihrer Hindernisse – immer wieder! – real erlebt und sich bewusst macht, kann die Aufgabe nicht erfüllt werden. Wenn man dies erlebt, kann man immer noch scheitern – und wird das höchste Ziel natürlich immer nur anstreben können –, aber wenn man jenes reale Erleben nicht hat, wird man nicht einmal die Aufgabe be- oder ergreifen können.

Natürlich unterscheiden sich Waldorfschüler von anderen Schülern – dass es zwischen Waldorfschulen und andere Schulen reale Unterschiede gibt, ist für jeden Menschen offensichtlich. Die Frage aber ist, ob die Waldorfschulen ihr eigenes Ziel verwirklichen bzw. überhaupt in seiner ganzen Tragweite erfassen?

Wenn die Waldorfschulen das Wesen der Waldorfpädagogik ernst nehmen, dürften sie mit dem, was irdisch geschieht und gelingt (bzw. misslingt), eigentlich nie zufrieden sein. Sie dürften natürlich auch nicht "verzweifeln", sondern müssten die starke, liebende Verbindung zu dem Wesen halten und pflegen und vertiefen – nicht aus Liebe zu einer abstrakten Idee, sondern aus Liebe zu einem realen Wesen und zum Wesen der realen Kinder und Jugendlichen. Das Wesen der Waldorfpädagogik, wie Rudolf Steiner es als lebendiges Ideal erlebbar gemacht hat, ist aus dem Wesen des Menschen selbst geschöpft – und man liebt das Wesen des einzelnen Menschen nur, wenn man auch das Wesen dieser Pädagogik wahrhaft liebt und in dieser Tiefe ernst nimmt.

In Bezug auf die äußere Welt und auf konkrete organisatorische, pädagogische u.ä. Fragen haben Waldorflehrer inmitten ihres großen bis ungeheuren Engagements "keine Schwierigkeiten", d.h. sie ergreifen so ungeheuer viele Fragen und Aufgaben, dass man eigentlich gar nicht mehr "verlangen" kann, sondern ihnen im Gegenteil so viel wie möglich "abnehmen" wollte. Aber das ist gerade ein Teil des Problems.

Der verloren gehende Quellgrund

Wo bleibt die Besinnung? Wo bleibt die Pflege einer tiefen Verbindung zum Ideal? Wie viel davon hat man vielleicht noch gar nicht verstanden? Wie viel entfällt einem immer wieder aus dem Bewusstsein? Aus dem Gefühl, aus dem Willen? Wie kommt man an das Ideal überhaupt heran? Wie kommt man überhaupt erst einmal heraus aus seinem Alltagsbewusstsein, mit dem man – wie man doch weiß –, an die Sphäre des Ideals wenn überhaupt nur scheinbar herankommt? Was tut man allein zuhause? Tut man etwas? Jeden Tag? Und was im Kollegium? Was tut man, damit auch dort irgendeine innere Arbeit gelingt? Und nicht nur irgendeine, sondern eine immer tiefere, stärkere? Hält man das überhaupt noch für möglich? Zumindest in Kleingruppen, wenn schon nicht (mehr) im großen Kreis? Oder ist all dies schon eine "schöne Illusion" geworden?

Man könnte in dieser Weise noch Dutzende, ja Hunderte Fragen anschließen – die gestellten sollen nur darauf hinweisen, wie umfassend die Aufgabe ist, die sich hier stellt.

In Bezug auf das Äußere, "Konkrete", "Lebenspraktische", die "Anforderungen des Alltags" ist man geübt, fortwährend tätig, sicher auch ausgelastet und überlastet – aber in Bezug auf das Innere, das doch die eigentliche Grundlage und Quelle dieser Pädagogik sein muss?

In Schulen, in denen eine wirkliche geistige Arbeit, etwa mit einem Spruch aus dem "Seelenkalender", gar nicht mehr stattfindet, ist wohl oft sogar schon das Erleben dessen verlorengegangen, wie sehr diese geistige Arbeit das eigentlich Reale und Praktische und Quellkräftige für alles pädagogische Tun ist, sowohl für das "Was", als auch erst recht für das "Wie", auf das es so sehr ankommt. Wenn man aber nicht einmal mehr erleben kann, dass und warum diese geistige Arbeit das Entscheidende an der Waldorfpädagogik ist, dann ... hat man auch jedes Urteilsvermögen über die wahre Aufgabe verloren.

Darin liegt die eigentliche Tragik: Dass diese eigentliche Aufgabe und der Quellgrund, aus dem heraus sie bewältigt werden kann, immer mehr aus dem Blick gerät, gar nicht mehr verstanden wird – geschweige denn, erlebt, geschweige denn, ergriffen...

Das noch ungeschehene Wunder

Wo die Aufgabe, das Band zum Geiste zu entwickeln und zu stärken, noch deutlich ist, muss sie auch ergriffen werden. Man muss also ernst machen mit dem, was man erkannt hat. Das spirituelle Element der Waldorfpädagogik muss wirklich gepflegt werden – und es darf nicht als Element angesehen werden, sondern als Lebensblut für alles übrige, als Quell von allem anderen.

Dazu gehört, dass man ein Vertrauen in diese geistigen Kräfte und die eigene Arbeit hat. Wenn man diese innere Arbeit wirklich ganz ernst nimmt und das eigene Streben und das des Kollegiums wirklich ernst und wahrhaftig ist (nicht halbherzig, sondern mit vollem Herzen), dann kann und darf man das Vertrauen haben, dass sich dies wirklich auf alles übrige auswirkt. Man darf das Vertrauen haben – und wird es auch immer mehr erleben –, dass dies nicht "verlorene" Zeit ist, sondern gewonnene Zeit. Gewonnene Kraft, gewonnenes Wesen...

Und wiederum: Wenn man damit einen Anfang macht, ist es noch immer v nur ein Anfang. Je ernsthafter man hier zu Werke geht, je entschlossener man hier auch als Kollegium strebt, desto mehr wird man selbst sehen, wie sehr man noch am Anfang steht. Man wird immer mehr selbst erkennen, wie groß die Aufgabe ist, was die nächsten Schritte sein können und müssen usw. – So wie man im "Äußeren" die Dinge "organisiert", Aufgaben ergreift und erledigt usw., wird man nun erst wirklich anfänglich urteilsfähig über das, was die konkreten und realen Aufgaben in der seelisch-geistigen Arbeit sind, wie man sie angehen muss, was an innerlichen Kräften dafür notwendig ist und vieles mehr.

Was geschieht dann? Man wird anfänglich eine Waldorfschule...

Was das bedeutet und was dann geschieht, kann man nicht voraussagen – denn es ist in dem hier gemeinten Maße noch nirgendwo geschehen. Aber alle Schulen, die sich in dieser Weise auf den Weg machen oder gemacht haben, werden bestätigen können, dass ungeheuer viel geschehen wird – mehr, als man sich je erträumt hätte...

Was also eine Waldorfschule wirklich sein kann, was also auch für den Weg der Kinder und Jugendlichen wirklich getan werden könnte, welche grandiose Bedeutung das innerliche Tun der Lehrer haben könnte – all das wird man erst glauben und wissen und mit eigenen Augen sehen können, wenn sich Schulen in dieser konsequenten, radikalen, spirituellen Weise entschlossen und willensstark auf den Weg machen.

Der Waldorfschüler – das unbekannte Wesen...