28.12.2009

Waldorfpädagogik – wohin?

Ein Rückblick auf das Jahr 2009 (siehe auch "2009: Von der Krisis der Anthroposophie – eine Überschau").


Die Waldorfschule sollte nach dem Scheitern der Dreigliederungsbewegung diejenige Frucht der anthroposophischen Bewegung sein, an dem das Wirken der Anthroposophie unmittelbar erlebbar werden sollte.
Die Waldorfschule war für Rudolf Steiner eine große Zukunftshoffnung – in flammenden Worten sprach er immer wieder zu den Lehrern, sprach auf Elternabenden, auf Schuljahresfeiern...

Was ist geblieben? Schulen und Kollegien, die den Lehrplan nach Rezept umsetzen, aber oft froh sind, wenn die Arbeit an den "Grundlagen" gar nicht mehr stattfindet. Kollegien, in denen sich nur noch eine Minderheit, oft nur noch ein Bruchteil wirklich ernsthaft als Anthroposoph empfindet; Kollegien, die zerstritten sind, mit Konflikten kaum umgehen können, sich externe Berater holen usw.

Sicher ist dies nur eine Seite, sicher findet an diesen Schulen trotz allem viel engagierte und gute Arbeit statt – aber diese erstgenannte Seite zeigt, wenn man sie anzuschauen wagt, unmittelbar und in erschütternder Deutlichkeit, dass von Anthroposophie allerhöchstens noch die letzten Spuren vorhanden sind, wenn überhaupt.

Hatte man die Anthroposophie als Grundlage der Waldorfschule bis in die 70er Jahre hinein sehr dogmatisch gehandhabt – sehr zum Leidwesen zahlloser Eltern, die sehr oft von oben herab bevormundet wurden – und in dieser Weise völlig missverstanden, so wird sie in den heutigen Waldorfschulen mehr und mehr überhaupt nicht mehr gesucht, geradezu ausgestoßen. Man will nur noch den Lehrplan, will Empfehlungen zu einzelnen Epochen usw., aber das tiefere Wesen der Anthroposophie als Wissenschaft vom Geiste? Nein!

Es kann auch kaum anders sein, wenn man sich nicht trotz aller "Überlastung" entschließt, dass die spirituelle Grundlage und Voraussetzung der Waldorfschule entschlossen gepflegt werden muss. Wenn man dies nicht tut, ist sie eben nicht da! Und es kann auch kaum anders sein, wenn speziell in der Oberstufe viele neue Kollegen nicht einmal eine Waldorfausbildung haben. Der Lehrermangel der quantitativ immer noch weiter sich ausdehnenden Waldorfbewegung ist eklatant.

Das Schlimme aber ist: Über das noch vielfach eklatantere Wegbrechen der spirituellen Grundlage und ihrer Pflege wird nicht gesprochen – allenfalls hinter vorgehaltener Hand! Längst ist die Situation so schlimm, dass auf irgendeine Rettung irgendwelcher Grundlagen eigentlich gar nicht mehr gehofft werden kann. Schon die Situation auf Delegiertentagungen etc. ist in dieser Hinsicht sehr trostlos (einzelne herausragende Vorträge und Seminarleiter sollten darüber nicht hinwegtäuschen) – und dabei kommen hier jeweils immer nur die engagiertesten Lehrer zusammen! Wie gesagt, am Engagement an sich fehlt es ganz und gar nicht, sondern am Engagement für das Spirituelle.

Und dann erschien Ende Mai ein Buch, das der Waldorfpädagogik sowohl den Spiegel vorhielt, als auch den Ausblick auf eine wahrhaft spirituelle Entwicklung frei machte: "Eine Klasse voller Engel" von Mieke Mosmuller.

Es war und ist erschütternd zu erleben, wie sich an diesem Buch die Reaktionen spalten, ja die Geister scheiden... Auf der einen Seite: Totschweigen und Verteufeln. Auf der anderen Seite: Tiefe Berührung und Begeisterung.

Bis heute wurde das Buch in der waldorfpädagogischen Zeitschrift "Erziehungskunst" nicht besprochen – weder positiv, noch negativ. Meine Besprechung wurde zurückgewiesen, und man hat mir mitgeteilt, dass überhaupt keine Rezension erscheinen werde... Auch im "Goetheanum" wurde nichts abgedruckt, obwohl zum 90-jährigen Jubiläum der Waldorfschule inzwischen mehrere andere Aufsätze erschienen waren. "Die Drei" lehnte eine Besprechung ab, weil die "Erziehungskunst" zuständig sei...

Im August erschien dann eine Besprechung in der eher unbekannten Zeitschrift "Lazarus" und im November in der Schweizer Zeitschrift "Gegenwart", die sogar mit einem Hinweis an alle deutschen Waldorfschulen geschickt wurde. Reaktionen darauf sind mir bisher nicht bekannt – außer ein völlig verständnisloser, mich und Frau Mosmuller beschimpfender Brief aus der Leitung der Akademie für anthroposophische Pädagogik in Dornach...

Im August ging meine eigene Webseite zum Wesen der Pädagogik online. Hier gehe ich in vielen Aufsätzen auf die grundlegenden, brennenden Fragen ein, zum Beispiel: "1919-2009 – wo steht die Waldorfschule heute?""Waldorfpädagogik – eine Gesinnungspädagogik", "Der Weg in die Welt und zum wahren Selbst – für die Kinder, für den Lehrer". Vor allem aber widerlege ich auch die zahlreichen Einwände, die mir gegen "Eine Klasse voller Engel" begegnet sind: "Entgegnung auf die haltlosen Einwände", "Vom rechten Verständnis""Weltfremde Ideale?!"

Die entscheidende Zukunftsfrage wird sein: Wie wird dieses Buch von einzelnen Menschen aufgegriffen werden? Wann wird man sich mit dessen Entwurf für eine völlig neue Lehrerbildung auseinandersetzen? Wann wird man überhaupt verstehen, was in diesem Buch gesagt wurde?

Das ist überhaupt das Erschütterndste, was einem im Zusammenhang mit diesem Buch begegnet: Durch die neue Webseite bin ich mit vielen Menschen ins Gespräch gekommen. Menschen, von denen ich es am wenigsten erwartet hätte, begegneten dem Buch voller Unverständnis, ja Feindschaft! Das Feindselige, was der Autorin unterstellt wird, begegnet einem in den Reaktionen... Man fühlt sich offenbar an einem sehr wunden Punkt getroffen, das ist deutlich. Man hat Angst um das Außenbild der Waldorfpädagogik, auch um das eigene Selbstbild. Aber versteht man auch nur ansatzweise, worauf die Autorin hinweisen will? Einen solchen Willen zum Verständnis habe ich bei all diesen verständnislosen Reaktionen nicht erleben können. Dabei geht es um die zentrale Frage in Bezug auf die Zukunft der Waldorfpädagogik.

Aber es gibt auch andere Reaktionen – Menschen, die tief berührt sind, die zum ersten Mal das wirkliche Wesen der Waldorfpädagogik erahnen, ja erleben. Menschen, die das in diesem Buch Beschriebene am liebsten sofort aufgreifen würden – oder aber nach einem Ort suchen, wo dies aufgegriffen wird. Menschen, die das Buch aus vollem Herzen bejahen, auch die Kritik bejahen, die eigentlich keine Kritik, sondern eine Diagnose ist – und die von vielen anderen Menschen in ganz ähnlicher Weise empfunden wird.

Dies macht dann doch wieder Hoffnung, dass aus einer Gesinnung der Wahrhaftigkeit heraus Schwächen, Fehler und Versäumnisse klar gesehen und anerkannt werden und daraus eine Kraft und ein Wille entsteht, das Zentrum und die Grundlage der Waldorfpädagogik wieder ins Zentrum zu rücken: die entschlossene Selbsterziehung und die spirituelle Arbeit und Entwicklung. Ohne dass diese Arbeit mit aller Kraft verfolgt wird, kann es für die Waldorfbewegung keine Zukunft geben.