08.10.2009

Von angeblichem Hochmut und wirklichem Erleben

Antwort auf Vorwürfe nach meiner Buchkritik "Der kompetente Waldorfschüler - und die Lehrer?". | PDF


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Vorwürfe eines Lehrers und eine Antwort
Abstrakt bleibendes Denken...
...oder wirkliches Erleben
Zum Abschluss


Vorwürfe eines Lehrers und eine Antwort

In Bezug auf meinen Aufsatz "Der kompetente Waldorfschüler – und die Lehrer?" fragte mich ein Lehrer kürzlich eindringlich, woher ich mir das Recht nähme, zu glauben, diese Dinge beurteilen zu können. Meine Aufsätze würden einen unglaublichen Hochmut zeigen. Ich würde den wirklichen Alltag der Lehrer weder sehen, noch sehen wollen. Ich selbst sei kein Lehrer, stünde ganz außerhalb und würde die Dinge "ganz von oben" betrachten und darüber urteilen. In meiner Buchkritik ließe ich im Grunde nichts gelten und würde keinerlei Wertschätzung für das zeigen, worum sich jeder Lehrer täglich bemühe. Es gehe aber darum, das "Ideal in der Wirklichkeit zu erleben", also zu erleben, wie in jedem Lehrer dieses Ideal lebe.

Es ist absolut nicht mein Anliegen, "alles schlechtzumachen", in vernichtenden Urteilen Kollegen vor den Kopf zu stoßen, zu moralisieren oder zu demoralisieren. Weder zweifle ich am großen Engagement (bis hin zur Überlastung) jedes Einzelnen, noch daran, dass jeder Lehrer eine Idealvorstellung der Waldorfpädagogik – in jeweils unterschiedlichster Tiefe und Ausprägung – in seiner Seele trägt. Auch sehe ich sehr genau, welche Probleme und Belastungen der konkrete Alltag in einer Schule mit sich bringt.

Meiner Ansicht nach liegt die Gefahr des Hochmutes viel weniger darin, auf Schwächen bzw. Probleme hinzuweisen, als darin, "wohlwollend" und "wertschätzend" zu beurteilen, ob jemand etwas "gut gemacht" hat. Es wäre wirklich vermessen, sich hinzustellen und zu beurteilen, dass jemand anders etwas "gut gemacht" hat! Probleme, Versäumnisse und ähnliches kann man jedoch erkennen – und ein Urteil darüber kann ganz objektiv sein. Es mag schmerzvoll sein und muss dennoch nicht ein Be-urteilen sein. Es geht allein um die klare Erkenntnis dessen, was notwendig wäre und was derzeit so schwerwiegend versäumt wird – aus welchen Gründen auch immer...

In diesem Sinne verstehe ich alles, was ich schreibe. Ich beurteile nirgendwo den einzelnen Menschen. Ich beschreibe jedoch das, was sich erleben lässt, was ich erlebe, und das enthält dann selbstverständlich auch ein Urteil – so wie es Urteile meines Gegenüber sind, ich sei hochmütig, ich hätte überhaupt nicht das Recht zu einem solchen Urteil usw.

Abstrakt bleibendes Denken...

Ich glaube, das größte Problem ist gerade hier das Missverstehen. Auch in der Buchkritik ging es mir nicht um ein vernichtendes Urteil über die einzelnen Autoren, die zu diesem Buch beitrugen – sondern um einen Blick auf das, was man an dem Buch selbst, am Stil, in einzelnen Abschnitten usw. erleben kann. Ich habe versucht, deutlich zu machen, wie die ganze Art des Buches immer wieder geradezu abführt von dem, was eigentlich das Wesen der Waldorfpädagogik wäre.

Der Lehrer, mit dem ich sprach, meinte, dass andere Menschen aus dem Buch sehr viele Anregungen empfangen können. Auch das ist für mich wieder keine Frage. Man wird aus allem Anregungen empfangen können, wenn man die Dinge in sich lebendig macht. Die Frage ist nur: Sind die Dinge bereits so lebendig geschrieben, dass sie auch in der Art, wie sie geschrieben sind, etwas vom Wesen der Waldorfpädagogik in sich tragen – oder führen sie in der Art, wie sie geschrieben sind, gerade in die Irre?

Natürlich enthält das Buch eine ungeheure Fülle an Material – und bringt sehr, sehr viele Gedanken über Inhalt und Ziele der Waldorfpädagogik. Und trotzdem wird gerade durch den ganzen Stil des Buches jeder Mensch, der diese Pädagogik nicht selbst schon ganz von innen kennt, von ihrem eigentlichen Wesen abgehalten, weggeführt. Das habe ich versucht, in einer tatsächlich sehr scharfen Kritik deutlich zu machen. Scharf deshalb, weil es sich um ganz entscheidende Fragen handelt und die bestehende Unklarheit in diesen Fragen die Waldorfbewegung immer weiter in die Veräußerlichung und den Verlust ihrer Substanz führen wird.

...oder wirkliches Erleben

Daher wiederhole ich hier nochmals meine Überzeugung, dass ein Buch über die "Kompetenzen des Waldorfschülers" ganz anders hätte geschrieben werden müssen, wenn man an ihm den Geist der Waldorfpädagogik hätte erleben sollen. Man erlebt an diesem Buch eben vor allem den toten Geist, die allgemeine Intellektualität. Man kann sich darin täuschen, weil ja von geistigen Inhalten die Rede ist. Es geht aber nicht darum, abstrakt von solchen Dingen zu reden, die man als "Waldorflehrer" und "Anthroposoph" "weiß", sondern darum, das als Realitäten wirklich zu erleben. Dann aber würde man über dasselbe niemals mehr so abstrakt schreiben können. Der Stil zeigt, dass man das, wovon man spricht, allenfalls (mit Hilfe des anthroposophischen Hintergrundwissens) abstrakt erlebt – es soll aber für den wahren Waldorfpädagogen unmittelbares Erleben in der Wirklichkeit werden. Nur so wird man – immer mehr  – ganz und gar "von innen heraus" mit seinen Schülern mitleben können.

Dieses Erleben der seelisch-geistigen Realitäten ist nicht einfach so zu haben. Die "Begrifflichkeiten" der Anthroposophie verhelfen zu einem ersten (intellektuellen) Verständnis – aber sie erzeugen schnell die Illusion, damit wäre schon alles getan oder gar schon jenes Erleben da, auf das ich hier hindeuten möchte. So ist es aber nicht. Ein immer tieferes Erleben des Seelisch-Geistigen setzt voraus, dass man selbst dieses Seelisch-Geistige sucht, erstrebt, erforscht, vertieft, verwirklicht – mit anderen Worten: es setzt einen realen geistigen Schulungsweg voraus.

Vieles ist möglich ohne ein solches tieferes Erleben. Man kann die Lehrplanempfehlungen, die Methodik und Didaktik der Waldorfpädagogik auch so umsetzen, man kann auch so ein erfahrener Lehrer werden, bis zu einem gewissen Grade eine gute oder sehr gute Beziehung zu den meisten Schülern haben (u.a. je nach eigenem Talent). Doch ein tiefes Verständnis für die Kinder und Jugendlichen, jeden einzelnen, wird nur möglich werden aus einem tieferen Erleben heraus. Wenn man dies verneint, weiß man eben nicht, wie tief das Verständnis sein könnte! Und wie verwandelnd dies wirken würde...

Rudolf Steiner sprach davon, dass das einzelne Kind dem Lehrer (im realen Erleben) zum Rätsel werden muss. Ein tieferes Erleben macht die Fragen nicht kleiner, sondern größer! Aber gerade das Leben mit solchen Rätseln ist eine reale Kraft, gehört zu dem, was eigentlich erzieherisch wirksam ist. Ein solches tieferes Erleben ist aber etwas, was nur durch einen wirklich begonnenen und immer kräftiger werdenden Schulungsweg errungen werden kann.

Zum Abschluss

Man mag andere Formen der "Waldorfpädagogik" genügend finden, man mag selber diesen eigentlichen Weg nicht gehen wollen – das ist dann auch eine Realität. Ich will nur darauf hinweisen – und dazu habe ich das Recht, weil es die Wahrheit ist –, dass das Wesen der Waldorfpädagogik sich erst da in voller Gestalt zu offenbaren beginnt, wo die Notwendigkeit des inneren Schulungsweges voll erkannt und dieser Weg auch tatsächlich begangen wird. Diese Frage kann man nicht ernst genug nehmen, denn die Gefahr (und die Realität) ist überall und immer wieder, dass man sie zu leicht nimmt...

Ich will (und kann!) also überhaupt niemanden zwingen, diese Frage so ernst zu nehmen – aber ich will klar aussprechen, was die tiefergehende Wirklichkeit der Waldorfpädagogik ist oder wäre. Dies geschieht allein aus Liebe zu diesem wahren Wesen der Waldorfpädagogik – und zum Wesen der heranwachsenden Menschen, dem gerecht zu werden doch das hohe, zur Selbsterziehung und Selbstverwandlung befeuernde Ideal von uns allen als Lehrer, Eltern und Erzieher sein kann.

Hören wir also auf, uns des Hochmuts zu beschuldigen, anerkennen wir vielmehr die Wahrheit und betreten wir – mutig und demütig zugleich – den Weg zum wirklichen Erleben des Geistes!