29.09.2009

90 Jahre Waldorfschule – Vorschau auf die Jahrhundert-Feier?

Eine Entgegnung auf Christoph Wiechert

Entgegnung auf: Christoph Wiechert: "Das Gespräch üben", Goetheanum Nr. 39 vom 27.9.2009. [Christoph Wiechert ist Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum in Dornach]. | PDF


Inhalt
Die ernste Lage in der ersten Waldorfschule
Der Beginn der Verschleierung
Erörterungen über "Impuls und Struktur"
Exoterisches Christentum und abstraktes Denken
Zehn-Jahres-Plan oder echte Neuanfänge?
Abschluss 


Wiechert beginnt mit der Feststellung: "Wenn in diesem Beitrag auf das 90-jährige Jubiläum der Waldorfschulen geblickt wird, dann geschieht das als Vorschau auf die Hundert-Jahrfeier: Wie wird die Schulbewegung [...] über diese Schwelle gehen?" – Natürlich, wieder einmal "die Schwelle"! Es scheint, als könne man diesem ausgetretenen, immer wieder bemühten Wort in "anthroposophischen" Zusammenhängen einfach nicht entkommen...

Doch die wichtige Frage ist: Was wird in diesem langen, drei Seiten umfassenden Aufsatz noch alles gesagt?

Die ernste Lage in der ersten Waldorfschule

Die erste Seite ist geprägt von einem recht ausführlichen Blick auf die Herausforderungen und Probleme, die schon in der ersten Waldorfschule auftraten.

Zunächst werden drei Grundbedingungen der Erziehungskunst genannt: eine "vollumfängliche Menschenerkenntnis"; die Fähigkeit, aus Begeisterung für diese Erkenntnis zu unterrichten, ein aus dem vollen Leben schöpfender Unterricht; ein am werdenden Menschen abgelesener Lehrplan.

Und dann fehlen klare Worte nicht: Es fehlte (schon, H.N.) in der ersten Waldorfschule mehreren Lehrern die so notwendige Lebendigkeit, "das Lehren aus der Verbindung mit den Schülern und der Menschenerkenntnis". "Der Unterricht war spröde, akademisch und die Lehrer zeigten kein Interesse an den Schülern." Ältere Schüler wandten sich hilfesuchend an Steiner selbst, der schließlich nichts anderes tun konnte, als einige Lehrer auszuwechseln. Nach einer gewissen Beruhigung brachen kurz "vor Schuljahresende 1924 [...] die Probleme wieder hervor. Steiners Fazit: Es mangele an Interesse für die Schüler, es mangele an Enthusiasmus für den Unterricht. Der 'moralische Kontakt' mit den Schülern ab der achten Klasse sei verloren gegangen."

Dieses für Rudolf Steiner ernsteste Problem führte ihn zu der Erkenntnis, dass es nochmals "einen neuen Einschlag" geben müsse. Er entschloss sich, im Herbst Vorträge über "die moralische Seite der Erziehung und des Unterrichts" zu geben – woran ihn dann aber tragischerweise die einsetzende Krankheit hinderte.

Der Beginn der Verschleierung

Doch wie geht es nach dieser zusammenfassenden Schilderung der sehr ernsten, 1924/25 absolut ungelösten Probleme für Wiechert weiter?

Mit der Frage: "Was sagt uns dieser Gestus?" – und mit der Antwort, dass es sich hier um einen "gewaltigen, teils sehr schmerzhaften Geburtsvorgang" handelte, und dass, "als Steiner seine 'Geburtshilfe' abgeschlossen hatte, die Entfaltung der Erziehungskunst ihren Anfang nahm". Und dann folgt die Feststellung, dass heute Lehrer in allen Himmelsrichtungen die drei oben genannten Grundbedingungen "so verinnerlicht haben, dass es Charakter [...] geworden ist", dass sich diese Fähigkeiten "tausendfach multipliziert (haben) in den Pädagogen, die diese Erziehungskunst in sich tragen."

Hier beginnt die Verschleierung der Realität in dramatischen bis wohlklingenden Worten... Denn was ist überhaupt mit "Gestus" gemeint? (Wieder ein abstrakter, schein-anthroposophischer Begriff, der sich hier zudem noch auf alles und nichts beziehen kann). Natürlich handelte es sich um einen gewaltigen Geburtsvorgang. Aber Rudolf Steiners Geburtshilfe war eben gerade nicht abgeschlossen! Mitnichten brach 1924 die glückliche "Kindheit" der Waldorfschule an, sondern die Geburt war noch gar nicht zuende, vielmehr hatten sich dramatische Komplikationen ergeben!

Und heute? Rudolf Steiner konnte seinen letzten, not-wendigen Vortragszyklus nicht mehr halten – und man kann sagen: Er wird bis heute nicht berücksichtigt. Denn die notwendigen moralischen Bedingungen der Erziehungskunst finden sich sehr wohl auch in früheren Vorträgen Rudolf Steiners – und auch immer wieder auf diesen Webseiten. Es ist deutlich, dass bis heute die wenigsten Lehrer diese Bedingungen erfüllen oder auch nur tief ernst nehmen und nach ihrer Verwirklichung streben.

Sicher gibt es angesichts von über 1.000 Waldorfschulen weltweit auch Hunderte von Lehrern, die entweder Naturtalente sind oder aus tiefem Streben, ernster Selbsterziehung und unmittelbarer Liebe zu den Schülern heraus wunderbar wirken. Man sollte aber ganz klar sehen und auch aussprechen, dass es etwa in deutschen Waldorfschulen verbreitet schon der Normalfall ist, dass eine Grundlagenarbeit im Kollegium gar nicht mehr stattfindet. Vielen, vielen Kollegen fehlt das tiefe Interesse an den Grundlagen der Waldorfpädagogik – und diese Grundlagen brechen in vielen Schulen in rasanter Geschwindigkeit weg!

Es geht dabei nicht einmal nur um die Tatsache, dass aktuell nicht oder nur sehr rudimentär an den Grundlagen gearbeitet wird – es ist bereits ein unermesslicher Schaden für die Substanz einer Schule, wenn klar ist, dass eine solche gemeinsame Arbeit aufgrund des Widerstandes mancher oder gar der meisten Kollegen gar nicht mehr möglich ist. Mag es an einer solchen Schule dann noch einige begeisterte Kollegen geben, diese Schule ist bereits keine Waldorfschule mehr – und diese Tatsache wird sich dann auch immer mehr offenbaren. Man hat im Inneren einen tödlichen Kompromiss geschlossen, die Quelle und das Wesen der Waldorfschule verleugnet...

Von alledem ist in Wiecherts Aufsatz jedoch keine Rede – nur von den "tausendfach multiplizierten Fähigkeiten"!

Erörterungen über "Impuls und Struktur"

Stattdessen weist für ihn der "Gestus" der ersten fünf Gründungsjahre auf ein anderes "bleibendes Gesetz" hin: Dass eine freie Schule nur lebensfähig ist, wenn Form- bzw. Gestaltungskräfte und Impulskräfte im Gleichgewicht bleiben. Sonst käme es zu Überregulierung bzw. zu Beliebigkeit und Anarchie. In diesem Zusammenhang erwähnt Wiechert die heute übergroße Einflussnahme "außerpädagogischer Belange", die potentiell dazu führt, Waldorfschule "auf eine formale Existenz zu reduzieren", also auf den bloßen Namen...

Dann aber setzt Wiechert die Polarität beider Kräfte mit Emil Molt und Rudolf Steiner in Beziehung: Steiner habe die Impulskraft vertreten, Molt die Strukturkraft. – Dies nun hat mit dem ersten Begriffspaar nichts mehr zu tun, denn nun ist mit der Strukturkraft die äußerliche Ermöglichung eines Impulses gemeint. Dass aber Emil Molt die finanziellen und physischen Mittel für die Schule bereitstellte, hat nicht das Geringste mit jener Polarität zu tun, die die Mitte zwischen Überregulierung und Beliebigkeit finden muss!

Überhaupt muss man in bezug auf die eigentliche Gestaltung der Waldorfpädagogik ganz deutlich sagen, dass Rudolf Steiner selbst beide Pole in vollendetem Gleichgewicht verkörperte! Er selbst gab ganz den Impuls, er selbst sorgte für die richtige Form des Impulses, gab sogar den Konferenzen die notwendige Struktur und so weiter.

Wiecherts Betrachtung über Molt und Steiner führt also vollkommen in die Irre, zumal er die Begriffe vorher ganz anders eingeführt hatte! Das Reden von polaren Kräften, Gleichgewicht usw. ist bequem und scheinbar auch sehr "anthroposophisch" – doch wenn man derart gedankenlos verschiedene Dinge durcheinanderwirft, nimmt man die Verantwortung gegenüber den Begriffen, den Lesern und vor allem Rudolf Steiner selbst nicht ernst genug!

Dann erwähnt Wiechert, dass die Begründung der Heilkunst oder der Eurythmie "aus dem Herzen der Anthroposophischen Gesellschaft" herausquoll, bzw. (ein neues Bild!) "aus dem Herzen Rudolf Steiners in das Gefäß der Gesellschaft" einströmte, die Waldorfschule jedoch "keine Initiative aus dem Herzen der Gesellschaft" war, sondern auf die Frage von Molt zurückging und auch später nicht der Hochschule angeschlossen wurde. – Es ist (zumindest mir) nicht ersichtlich, welchen Sinn und welche wesentliche Bedeutung dieser Absatz im Gesamtzusammenhang haben soll.

Exoterisches Christentum und abstraktes Denken

Und nun wird es ganz "esoterisch". Wiechert referiert im Anschluss an Rudolf Steiner und Walter Johannes Stein über die Strömungen des "dogmen- und strukturgetragenen" exoterischen und des "individuelleren" esoterischen Christentums und über die diese beiden Strömungen inspirierenden geistigen Wesenheiten. Dann erwähnt er Rudolf Steiners Bemerkung zu den Waldorflehrern, dass der anglo-amerikanische Erziehungsstil die Begabungen der Schüler zum Beruf machen will, die Erziehungskunst dagegen an den mitteleuropäischen Impuls (Goethe, Schiller...) anschließen muss. Daraufhin stellt Wiechert fest, dass der erstere Erziehungsstil als selektierender, "outcome-based" Ansatz heute global vorherrschend geworden ist, und verknüpft dies nun mit den vorherigen Gedanken, indem er sagt, dass das römische Christentum heute das allgemeine und das wissenschaftliche Denken prägt.

Auch hier muss man sich wieder fragen, welchen Sinn der ganze Gedankengang haben soll. Selbstverständlich gehen die heutigen Denkformen auf die Strömung des römisch-katholischen Christentums zurück – und so wie die katholische Kirche ganz in die Dekadenz und das Streben nach äußerlichem Machterhalt hineingeraten ist, so ist auch das heutige Denken in das völlig Tote hineingekommen. Die Frage ist nur, was der plötzliche Übergang auf dieses Thema, die Exkurse über die übersinnlichen Inspiratoren beider Strömungen und die unvermittelten Gedankensprünge innerhalb des Absatzes für einen Sinn haben.

Mit einer solchen Gedankenführung bzw. solchen Gedankensprüngen ist es natürlich möglich, in einem einzigen Aufsatz eine scheinbare Fülle von – teilweise "hoch-esoterischen" – Gedanken zu vereinen. Die Frage aber ist: Was soll das? Soll der Leser zu irgendeiner echten, eigenständigen Erkenntnis geführt werden, oder soll er nur mit einer Fülle von scheinbar gewichtigen Einzelheiten beladen werden? Der ganze Aufsatz hat letztlich den "Gestus" (!) unzähliger "anthroposophischer" Veröffentlichungen, Aufsätze, Vorträge usw. – immer geht es um scheinbar tiefe Inhalte, aber immer ist es unwahr, künstlich, zusammengesetzt, abstrakt. Und die wirklichen, die grundlegenden Fragen und Herausforderungen werden mit einer solchen Methode geradezu verschleiert und verschüttet!

So erweist sich auch der scheinbar "anthroposophische" Stil als ein Produkt jener Denkweise, die das römische Christentum uns beschert hat. Die äußere Gestalt der Gedanken erscheint anthroposophisch (denn Rudolf Steiner hat von diesen Dingen gesprochen), aber das Denken ist das alte, und es vereinnahmt nun auch die Anthroposophie, die damit ebenfalls zum toten Schein abstirbt...

Zehn-Jahres-Plan oder echte Neuanfänge?

Am Ende schreibt Wiechert, sein Beitrag möchte "den Blick hinlenken auf die Aufgaben, die bis zum hundertjährigen Jubiläum vor uns liegen." Diese seien

1. ein neues Gleichgewicht zwischen Impuls und Strukturkraft,
2. eine Hinterfragung und Prüfung des pädagogischen Gewohnheitslebens ("wir haben das schon immer so gemacht"),
3. ein Bewusstsein, dass die Erziehungskunst Rudolf Steiners ein Paradigmenwechsel schlechthin ist, dieser aber nicht einfach gegeben ist, sondern täglich neu realisiert wird.

In Wirklichkeit ist dies eine einzige Frage: Der "Paradigmenwechsel", den die Waldorfpädagogik bedeutet und erfordert, muss wahrgemacht werden! Die "Hinterfragung" der gewohnheitsmäßigen Bequemlichkeiten wäre dann nicht nur eine Selbstverständlichkeit, solche Gewohnheiten würden sich überhaupt gar nicht erst bilden! Und das notwendige Gleichgewicht zwischen Impuls und Struktur würde sich dann ganz von selbst immer wieder bilden, weil der Impuls (überhaupt erst) wirklich lebendig wäre und sich seine Form immer wieder selbst schaffen würde.

Erziehungskunst ist pädagogisches Handeln aus Liebe zu den Kindern, aus dem Streben nach lebendigem Geist-Erkennen und nach echter Geistesgegenwart. Wenn dieses Streben in allem Ernste da wäre, könnte es niemals ein Übergewicht an "Struktur" geben, könnte es niemals lähmende Gewohnheiten geben, würde einem der absolute "Paradigmenwechsel" täglich klar bewusst sein, weil ihm in der eigenen Willensanstrengung in jedem Moment nachgestrebt wird.

Dass sich am Ende von Wiecherts Aufsatz überhaupt diese drei recht abstrakten Herausforderungen für die nächsten zehn Jahre stellen (die ja auf die Realität hinweisen!), zeigt, wie virulent die Situation für die Waldorfbewegung ist – und dass zwar einzelne Pädagogen sehr ernsthaft und wahrhaftig nach einer echten innerlichen Verwirklichung der Bedingungen streben, dass aber dieses Streben im Großen – im eigenen Kollegium, in der Schulbewegung – viel zu schwach ist!

Man hat einfach schon viel zu lange Kompromisse über Kompromisse geschlossen und die unverzichtbaren Grundlagen zu wenig ernst genommen und viel zu wenig gepflegt. Nun sind sie verloren – und die "Bewegung" steht da, wo sie steht. Was über viele Jahre hinweg als Substanz immer mehr verloren gegangen ist, wird nun optimistisch zur Zehn-Jahres-Aufgabe erklärt, damit die Waldorfschule dann 2019 ein glorreiches Jubiläum feiern kann!

Wenn man bedenkt, dass ein keimhafter Impuls nach hundert Jahren ein kraftvoller Kulturimpuls werden sollte, und sich daneben wahrhaftig und ohne Verschleierung den inneren Zustand der Waldorfbewegung vor Augen hält, dann weiß man, dass der innere Substanzverlust 2019 einfach nur noch zehn Jahre weiter fortgeschritten sein wird.

Etwas ändern könnte sich nur dort, wo grundlegend ganz neue Anfänge gewagt werden – wo man sich nicht auf innere Kompromisse einlässt und wo das innere Streben nach Verwirklichung der Grundlagen in keinem Moment nachlässt. Nur dort, wo das Kollegium als Ganzes die wirklichen Grundlagen der Waldorfpädagogik erkennt und als Gemeinschaft den starken Willen hat, diese Grundlagen in vollem Umfange zu pflegen und immer mehr zu vertiefen – Woche für Woche, Jahr für Jahr...

Abschluss

Herr Wiechert nennt das "Austarieren der Gegensätze" von Impuls- und Strukturkräften (inkl. außerpädagogischer Einflüsse) "heute die größte Herausforderung der Schulbewegung". Das ist sie jedoch mitnichten. Die größte Herausforderung – und das versuchte auch dieser Aufsatz wieder deutlich zu machen – ist die innere, nämlich die Frage: Wie viele "Waldorflehrer" sind bereit, die Größe der Aufgabe so tief ernst zu nehmen, wie sie genommen werden muss (siehe z.B. "Zehn Gewissensfragen...")? Wie viele sind bereit, in ernst ringender Grundlagenarbeit den wesentlichsten Quell für eine wahrhafte Menschenbildung und für die notwendige Selbsterziehung zu sehen und hier auch keinerlei Kompromisse zu machen?

In diesen Fragen – und in der katastrophalen Antwort, die darauf gegeben werden müsste, wenn man wahrhaftig ist – liegt heute die größte Herausforderung der Waldorfbewegung!

Wenn Christoph Wiechert wirklich "das Gespräch üben" (so der Aufsatz-Titel) wollte, könnte er z.B. einmal damit beginnen, sich auf "Eine Klasse voller Engel" einzulassen. In diesem Buch sind so viele Anregungen für eine wirkliche Auferstehung der Erziehungskunst enthalten, dass es einen nur wundern kann, wie dieses Buch und seine Autorin in der "offiziellen Bewegung" bisher geradezu totgeschwiegen werden. Auch das ist natürlich ein sprechendes Phänomen...