19.08.2009

Waldorfpädagogik – eine Gesinnungspädagogik

Oder: Waldorfpädagogik – eine Pädagogik für den ganzen Menschen (Lehrer!)

Vom Sündenfall der Waldorfpädagogik - und von ihrem eigentlichen Wesen jenseits von Lehrplan und Methodik. | PDF


Waldorfpädagogik ist keine Alternativpädagogik mit einem anderen Lehrplan und einer anderen Methodik. Sie ist überhaupt keine Lehrplan- und Methodenpädagogik.[1] Dass sie heute immer mehr nur noch als solche umgesetzt wird (und auch das oft sehr zweifelhaft), heißt nichts anderes als: Waldorfpädagogik existiert heute eigentlich gar nicht. Ihrem Wesen nach ist sie Gesinnungspädagogik. Was heißt das? Die grundlegende Voraussetzung der Waldorfpädagogik ist die Gesinnung des Lehrers – ein immer tieferes Empfinden von der Größe der Aufgabe und ein immer mehr sich vertiefender Wille: eine wirkliche Liebe zur Anthroposophie, ein staunendes Erleben des umfassenden Mysteriums des Menschenwesens; ein wahrhaftiges Streben nach immer tieferer Selbsterkenntnis und Selbsterziehung.

Dies ist die wahre Grundlage der Waldorfpädagogik. Diese von Rudolf Steiner begründete Pädagogik wird nur in dem Maße wahr, wie der Lehrer ihre von Rudolf Steiner immer wieder betonte Grundlage der Gesinnung in sich lebendig macht.

Es ist sehr leicht und bequem, diese Worte Rudolf Steiners zu überlesen oder zu verdrängen. Doch eine Waldorfpädagogik, die nicht die Gesinnung und das Sein ihrer Lehrer ganz ins Zentrum aller Bemühungen stellt, erliegt wirklich dem Sündenfall der Waldorfpädagogik.

Sie fällt heraus aus jedem lebendigen Erleben des Ideals – und sie wird zu der abstrakten Lehrplan- und Methodenpädagogik, die wir heute überall haben. Dann kann man sehr gut "Waldorfschulen" haben, wo viele Lehrer (wohl sogar die meisten) gar keine tiefe Liebe, Sehnsucht, ja nicht einmal mehr irgendein tieferes Interesse an der Anthroposophie empfinden.

Der zweifache Sündenfall der Waldorfbewegung

Der Sündenfall der Waldorfschule: Der Verlust der lebendigen Grundlage der Waldorfpädagogik – und damit der Waldorfpädagogik selbst.

Der zweite Sündenfall ist dann, diesen ersten nicht einmal mehr zu sehen. Verschwand zunächst die notwendige Gesinnung, das lebendige Empfinden und Wollen, so ging danach auch die Erkenntnis dieses Verlustes verloren. Es gab eine Zeit, da sah man zumindest mit großer Sorge, wie mit der zunehmenden Zahl der Waldorfschulen die innere Substanz schwand, wo man sogar einen "Gründungsstopp" beschloss. Heute ist das längst Vergangenheit, doch während die Studentenzahlen an den "Waldorflehrerseminaren" sogar weiter sinken, feiert die Bewegung in diesem Jahr "90 Jahre Zukunft"!

Ist die innere Substanz erst einmal ruiniert, "lebt es sich ganz ungeniert", möchte man verzweifelt sagen. Aber so ist es doch: Es gibt kaum mehr irgendwo einzelne Waldorflehrer, die diese tief ernste, moralische, durchseelte und durchgeistigte Gesinnung haben, die die Grundlage für die Verwirklichung wahrer Waldorfpädagogik sein müsste. Erst eine solche Gesinnung wäre der lebendige Quell wahrer pädagogischer Intuitionen, würde den Menschen zum Waldorflehrer machen, würde in ihm "den Pädagogen erwachen lassen".

Dass man glaubt, die Waldorfpädagogik durch Fortbildungen usw. vertiefen zu können, durch einen eigenen Waldorfabschluss weiterentwickeln zu können, durch wöchentliche Konferenzen usw. auch nur im Ansatz zu verwirklichen, das ist die große Lebens-Illusion der Waldorfpädagogik. Ohne die tief-ernste, ehrfürchtige Gesinnung ist all dies nutzloses "Blendwerk" – die "Waldorfpädagogik" wird dann ein bloß "technisches" Machwerk ohne innere Substanz. Es ist, wie wenn ein Klavierspieler alle Regeln des Pianospiels umsetzt und sein Spiel dennoch keinerlei Seele hat. Es ist wie der Unterschied zwischen Martha und Maria. Geschäftigkeit oder Verinnerlichung. Man mache sich diesen Unterschied doch einmal sehr tief bewusst!

Vom not-wendigen Unterscheidungsvermögen

Das Schicksal der Waldorfpädagogik hängt davon ab, ob die tiefer empfindenden Waldorflehrer immer mehr das notwendige Unterscheidungsvermögen gewinnen: Eine Waldorfpädagogik kann äußerlich noch so erfolgreich und lebendig erscheinen (Veröffentlichungen, Studien, Tagungen, Neugründungen...) – wenn die innere Gesinnung fehlt, ist es keine Waldorfbewegung. Trotz Engagement, trotz Idealismus, Mehrarbeit, Unterbezahlung usw.

Gerade darin besteht das eigentliche, absolut notwendige Unterscheidungsvermögen – dass man lernt zu empfinden, zu erleben, wie das Wesen einer Sache trotz vieler "Trotz", vieler Äußerlichkeiten, nicht verwirklicht wird. Es geht darum, die Äußerlichkeiten vom Wesen unterscheiden zu lernen.

Gerade die tiefe Liebe zur Sache, zum Ideal, macht es notwendig, sich einzugestehen, wenn sie nicht verwirklicht wird, weil die Lebensgrundlage nicht verwirklicht wird.

Es ist keine Liebe zum Ideal, sich Illusionen zu machen, zu glauben, das Entscheidende wäre nebensächlich oder es würde sich "nach und nach" schon entwickeln, gleichsam von selbst, wenn man nur das Äußere pflegt und "entwickelt". Dies ist die größte Selbsttäuschung und bildet den Übergang zum zweiten Sündenfall – dass man sich nämlich über diese Fragen gar keine Gedanken mehr macht.

Man findet gar keinen Übergang mehr zwischen den Worten Rudolf Steiners und der heutigen Realität, es ist als stünde infolge dieses (zweifachen) Sündenfalls eine ganze Welt des Erlebens zwischen beiden. Die Fragen, die sich der wahre Waldorflehrer stellen müsste, sind ganz andere als die "Themen" der heutigen Waldorfbewegung – die sich gar keine echten Lebensfragen mehr stellt.

Wie groß und strahlend ist dein Begriff vom Ideal der Waldorfpädagogik, wie tief und umfassend ist dein Empfinden, wie heilig und stark ist dein Wille? Das sind die Gretchenfragen der wahren Waldorfpädagogik.

Waldorfpädagogik ist Gesinnungspädagogik – sie beginnt mit einer tiefen inneren Gesinnung oder sie beginnt gar nicht...

Fußnote


[1] Wie immer wieder suggeriert wird, zuletzt wieder in einem neuen Standardwerk: "Entwicklungsaufgaben und Kompetenzen. Vom Bildungsplan der Waldorfschule". Diese Suggestion ist eben bereits ein Teil des Problems, der grandiosen Selbsttäuschung.