08.08.2009

10 Fragen zur Gewissensprüfung der Waldorfschulbewegung

Die Waldorfschulen wollen die von Rudolf Steiner begründete Waldorfpädagogik verwirklichen. Gelingt ihnen dies? Werden sie ihrem eigenen Anspruch gerecht? Was wären die Maßstäbe? Was ist das Wesentliche der Waldorfpädagogik? – Zehn Fragen zur Gewissensprüfung. | PDF

1. Nehmen wir die Aufgabe ernst genug?

[Der Pädagoge] muss in einer noch tieferen Weise in sein Zeitalter hineinwachsen: er darf nicht jenen Grundcharakter behalten, den das Denken und die ganze Gesinnung des Menschen in der Gegenwart hat. [...] [E]s handelt sich darum, die ganze Pädagogik und die ganze Didaktik in ein elementares Gefühl zusammenzufassen, so dass Sie gewissermaßen in Ihrer Seele die ganze Schwere und Wucht der Aufgabe empfinden: Menschen hineinzustellen in diese Welt. Ohne das wird unsere Waldorfschule nur eine Phrase bleiben. Wir werden alles Schöne sagen über die Waldorfschule, aber wir werden auf einem durchlöcherten Boden stehen, bis solche Löcher so groß werden, dass wir keinen Boden mehr haben, auf dem wir herumgehen können. Wir müssen die Sache innerlich wahrmachen.
Rudolf Steiner, 17.6.1921, GA 302, S. 94f.

Die drei goldenen Regeln der Erziehungs- und Unterrichtskunst, die in jedem Lehrer, jedem Erzieher, ganz Gesinnung, ganz Impuls der Arbeit sein müssen [...], die müssen sein:
Religiöse Dankbarkeit gegenüber der Welt, die sich in dem Kinde offenbart, vereinigt mit dem Bewußtsein, daß das Kind ein göttliches Rätsel darstellt, das man mit seiner Erziehungskunst lösen soll. In Liebe geübte Erziehungsmethode, durch die das Kind sich instinktiv an uns selbst erzieht, so daß man dem Kinde die Freiheit nicht gefährdet, die auch da geachtet werden soll, wo sie das unbewusste Element der organischen Wachstumskraft ist.
Rudolf Steiner, 19.8.1922, GA 305, S. 75.

2. Nehmen wir die Anthroposophie ernst genug?

Sie selbst als Lehrer der Waldorfschule werden sich immer mehr in die Durchschlagskraft des Geistes hineinfinden und die Möglichkeit finden, alle Kompromisse beiseite zu lassen. [...] Wenn solche Leute, die im heutigen pädagogischen Leben drinnenstehen, uns loben, da müssen wir denken, da muß etwas bei uns nicht stimmen. Wir brauchen nicht jeden gleich hinauszuwerfen, der uns lobt, aber wir müssen uns klar sein, daß wir sorgfältig untersuchen, was wir nicht richtig machen, wenn wir gelobt werden von denjenigen, die im heutigen Erziehungswesen drinnenstehen. Das muß unsere gründliche Überzeugung werden. [...] Wir müssen auch innerlich, dem Gemüte nach, tatsächlich Anthroposophen sein im tiefsten Sinne des Wortes als Waldorflehrer [...]
Rudolf Steiner, 24.7.1920, GA 300a, S. 166f.

Wir reden hier viel von Waldorfschul-Prinzip, von neuer Pädagogik. Das Wichtigste ist, daß man im Wachstum bleibt. Jeden Tag ist die Gefahr vorhanden, daß die Dinge sauer werden. Das ist es, worauf es ankommt, daß man nicht vom Kleben an den Gewohnheiten einschläft, wenn man etwas tun soll, wenn man etwas bereiten soll. [...] Es kommt darauf an, daß man eine neue Begeisterung wirklich aufbringt. [...] Innerlich zusammenwachsen mit der Flamme, die sich heute entzündet, auf daß die Michael-Impulse verwirklicht werden!
Rudolf Steiner, 20.7.1924, GA 217a, S. 184.

3. Ist unsere Verbindung zu den Kindern tief genug?

Mit dem Kinde müssen wir innerlich zusammenleben können! Wir müssen so das Menschliche lebendig in uns aufgenommen haben, daß wir mit dem Kinde lebendig zusammenleben können. Bloßes Verstehen des Kindes nützt gar nichts.
Rudolf Steiner, 1.7.1923, GA 304a, S. 89.

Um aber dafür, ich möchte sagen, das rechte Herz zu haben, daß sich jetzt in diesem Lebensalter die jungen Damen und Herren so neben den Lehrer hinstellen werden, der ihnen früher Autorität war, um dazu das rechte Verhältnis zu haben, muß man eben [...] ein offenes Urteil für die Welt überhaupt haben, als Weltmensch in der Welt drinnen stehen; [...] nicht bloß eintrainiert haben Unterrichtsmethoden, sondern selber sich Fragen zu beantworten nach den Zielen der Menschheit, nach dem Inhalt der einzelnen Menschheitsepochen, nach dem Sinn des Lebens in der Gegenwart und so weiter. Und man muß diese Fragen nicht im Kopfe wälzen, sondern im Gemüte tragen, dann wird man sie auch im Gemüte mit der Jugend wirklich erleben.
Rudolf Steiner, GA 305, S. 171.

4. Sind wir uns bewusst, was wirklich erzieherisch wirkt?

Zum Lehrer gehört nicht Wissen und Beherrschen der Methoden der Pädagogik, sondern ein bestimmter Charakter, eine Gesinnung, die schon wirkt, ehe der Lehrer gesprochen hat. Er muss, bis zu einem gewissen Grade, eine innere Entwicklung durchgemacht haben, er muss nicht nur gelernt, er muss sich innerlich verwandelt haben. Man wird einst beim Examen nicht das Wissen, ja nicht einmal die pädagogischen Grundsätze, sondern das Sein prüfen.
Rudolf Steiner, 24.1.1907, GA 55, S. 136f.

Sie werden nicht gute Erzieher und Unterrichter werden, wenn Sie bloß auf dasjenige sehen werden, was Sie tun, wenn Sie nicht auf dasjenige sehen werden, was Sie sind. [...] der Mensch in der Welt wirkt nicht nur durch dasjenige, was er tut, sondern vor allem durch dasjenige, was er ist.
Rudolf Steiner, 21.8.1919, GA 293, S. 26f.

5. Haben wir echte Begeisterung?

Mit welchen Kräften arbeiten wir denn eigentlich, wenn wir pädagogisch arbeiten? [...] Die Beantwortung der Frage: Wie macht man dies, wie macht man jenes? – ist doch nur von geringem Wert. Von größtem Wert aber ist es, daß der Mensch Enthusiasmus hat in seiner Tätigkeit, und diesen Enthusiasmus in seiner Tätigkeit auch voll entwickeln kann, wenn er Pädagoge sein soll. Dieser Enthusiasmus hat eine ansteckende Gewalt; und er ist es allein, der Wunder wirken kann in der Erziehung. Das Kind geht mit dem Enthusiasmus gerne mit, und wenn es nicht mitgeht so ist das meistens ein Zeugnis dafür, daß dieser Enthusiasmus nicht vorhanden ist. [...] Ich möchte sagen, an dem Waldorfschul-Lehrerbewußtsein müssen wir arbeiten.
Rudolf Steiner, 16.10.1923, GA 302a, S. 122-124.

Verkennen Sie nur nicht, daß die Frage vorzugsweise eine Sache des Interesses an den Kindern und den jugendlichen Leuten ist, und eine Sache des Enthusiasmus. Es ist nicht umsonst, daß ich bei jeder Gelegenheit betone, daß wir auf allen Gebieten nicht vorwärtskommen ohne Enthusiasmus, ohne innere Beweglichkeit. Wirklich, wenn ich – ich meine, es ist ja schlimm, aber diesen Enthusiasmus, den sehe ich nicht; ich kann nicht finden, daß Mühe gegeben wird, ihn wirklich hervorzuzaubern. Sehen Sie, wenn ich so alles ausführen könnte, was sich mir aufdrängt, so würde ich zum Beispiel nach einer Lehrerkonferenz probieren, auf wieviel Stühlen Pech klebt, wenn die Lehrerkonferenz zu Ende ist. Es kommt mir vor, Sie kleben auf ihren Sitzen, Sie sind müde. Ein Mensch kann doch nicht müde sein, wenn er im Geiste leben soll, Müde sein ist doch eine Sache der Interesselosigkeit.
Rudolf Steiner, 15.7.1924, GA 300c, S. 189f.

6. Haben wir Interesse am Größten wie am Kleinsten?

Das zweite, meine lieben Freunde, ist, daß wir als Lehrer Interesse haben müssen für alles dasjenige, was in der Welt ist und was den Menschen angeht. [...] Wir sollen uns für die großen und für die kleinsten Angelegenheiten der Menschheit interessieren. Wir sollen uns für die großen und für die kleinsten Angelegenheiten des einzelnen Kindes interessieren können. [...]
Rudolf Steiner, 6.9.1919, GA 294, S. 193f.

Wir müssen uns bewußt sein der großen Aufgaben. Wir dürfen nicht bloß Pädagogen sein, sondern wir werden Kulturmenschen im höchsten Grade, im höchsten Sinne des Wortes sein müssen. Wir müssen lebendiges Interesse haben für alles, was heute in der Zeit vor sich geht, sonst sind wir für diese Schule schlechte Lehrer. Wir dürfen uns nicht nur einsetzen für unsere besonderen Aufgaben. Wir werden nur dann gute Lehrer sein, wenn wir lebendiges Interesse haben für alles, was in der Welt vorgeht. Durch das Interesse für die Welt müssen wir erst den Enthusiasmus gewinnen, den wir gebrauchen für die Schule und für unsere Arbeitsaufgaben. Dazu sind nötig Elastizität des Geistigen und Hingabe an unsere Aufgabe.
Rudolf Steiner, 20.8.1919, GA 293, S. 16, Ansprache am Vorabend des ersten Lehrerkurses.

7. Sind wir kompromisslos wahrhaftig?

Und das dritte ist: Der Lehrer soll ein Mensch sein, der in seinem Inneren nie ein Kompromiß schließt mit dem Unwahren. Der Lehrer muß ein tief innerlich wahrhaftiger Mensch sein, er darf nie Kompromisse schließen mit dem Unwahren, sonst würden wir sehen, wie durch viele Kanäle Unwahrhaftiges, besonders in der Methode, in unseren Unterricht hereinkommt. Unser Unterricht wird nur dann eine Ausprägung des Wahrhaftigen sein, wenn wir sorgfältig darauf bedacht sind, in uns selbst das Wahrhaftige anzustreben.
Rudolf Steiner, 6.9.1919, GA 294, S. 193f.

Diese Geisteswissenschaft muss einmal in vollem Ernste und in ganzer Stärke Wahrheiten ans Tageslicht bringen, welche die heutige Menschheit einfach nicht mag, ohne welche aber die Fortentwicklung der heutigen Menschheit nicht geschehen kann. Deshalb sausen wir so in die Dekadenz hinein, weil die Menschheit schon aus den alten Denkgewohnheiten ablehnt, was sie eigentlich seelisch zum Fortschritt braucht.
Rudolf Steiner, GA 192, S. 169.

8. Nehmen wir die spirituelle Menschenkunde ernst genug?

Wenn Sie nun Menschenkunde studieren, wie wir es getan haben, so erleben Sie das zunächst bewusst; meditieren Sie nachher darüber, so geht ein innerer geistig-seelischer Verdauungsprozeß in Ihnen vor sich, und der macht Sie zum Erzieher und Unterrichter. [...] Wir werden innerlich so gedanken- und empfindungsfruchtbare Menschen, daß alles nur so aus uns heraussprudelt. [...] Kurz, Sie wissen, was Sie für den speziellen Fall anwenden müssen. [...]
Das heißt: aus dem Geiste heraus pädagogisch schaffen, pädagogische Kunst werden. Gesinnung muß das werden, Seelenverfassung muß das werden.
Rudolf Steiner, GA 302a, S. 51ff.

[Wahre Geist-Erkenntnis] muß eine wirkliche Erziehungs- und Unterrichtskunst tragen. Denn sie führt zu einer Menschen-Erkenntnis, die so in sich bewegliche, lebendige Ideen hat, daß der Erzieher sie in die praktische Anschauung der einzelnen kindlichen Individualität umsetzen kann. [...] Die hier gemeinte Geist-Erkenntnis führt nicht, nach dem Vorbilde der Natur-Erkenntnis, zum Vorstellen allgemeiner Ideen, um diese im einzelnen Falle anzuwenden, sondern sie erzieht den Menschen zu einer Seelen-Verfassung, die den einzelnen Fall in seiner Selbständigkeit schauend erlebt. [...] Wer aber auf die für dieses Gebiet sachgemäße Beobachtungsart eingeht, der schärft sein Seelenauge für das Individuelle der Kindeswesenheit. Ihm wird das Kind nicht zum „einzelnen Fall“, den er nach einem Allgemeinen beurteilt, sondern zum ganz individuellen Rätsel, das er zu lösen sucht.
Rudolf Steiner, Februar 1920, GA 24, S. 267ff und GA 300c, S. 9f.

9. Spricht die Welt aus uns?

Das sind die Dinge, die einem belegen können, wie Unterrichten und Erziehen nicht auszugehen haben von irgendeinem Erlernen, das man dann anwendet, sondern wie Unterricht und Erziehung auszugehen haben von einem lebendigen Durchdrungensein, das einen so hineinstellt in die Klasse, wie wenn man etwas wäre, das in diesem Wirken auf die Kinder, ich möchte sagen, nach vorne sich äußert, indem von hinten her die Weltengeheimnisse pulsierend den Menschen durchströmen; wie wenn man das bloße Werkzeug dafür wäre, daß die Welt zu dem Kinde sprechen könne.
Rudolf Steiner, 10.4.1924, GA 308, S. 72.

Wenn Sie aber die Kinder von der 9. in die 10. Klasse hinüberführen, dann müssen Sie sie eben in eine andere Lebenslage versetzen, dann muß das Kind merken: Donnerwetter, was ist denn mit dem Lehrer geschehen? Bisher haben wir ihn für ein außerordentliches Glanzlicht gehalten, als einen Menschen, der viel zu sagen hat, aber jetzt beginnt viel mehr als ein Mensch zu reden: die ganze Welt beginnt aus ihm zu reden. Und wenn man in sich empfindet das intensivste Interesse an den einzelnen Weltfragen und dann in die glückliche Lage versetzt ist, sie anderen jungen Menschen mitzuteilen, dann redet die Welt aus einem; dann ist es tatsächlich so, als ob Geister aus einem redeten.
Rudolf Steiner, 21.6.1922, GA 302a, S. 83.

10. Wollen wir dies alles überhaupt?

Und Ihr, sehr verehrte Lehrer, die Ihr diese Arbeit übernommen habt, die Ihr selbst eingeführt worden seid in den Geist, der diese Schule beseelen soll, Ihr wißt ja, welch tiefe Verantwortung Euch damit auferlegt ist, und ich richte die Bitte an Sie alle, die Sie mitwirken werden als Lehrkräfte an der Waldorfschule: seien Sie sich mit mir voll bewußt der außerordentlichen Schwere der Verantwortung und hören Sie nie auf, diese Verantwortung ebenso tief wie ich jederzeit zu verspüren.
Emil Molt, 7.9.1919, GA 298, S. 20, Worte zur Eröffnung der Waldorfschule.