03.08.2009

Der kompetente Waldorfschüler - und die Lehrer?

Buchkritik: W.M. Götte et al.: Entwicklungsaufgaben und Kompetenzen. Zum Bildungsplan der Waldorfschule. VFG, 2009 (437 S., 29€). | PDF

Zur Kritik an dieser Buchkritik siehe auch: Von angeblichem Hochmut und wirklichem Erleben.

Ein neues Buch beschreibt auf vielen, vielen Seiten die "Kompetenzen", die Waldorfschüler in der Waldorfschule erwerben, und sucht damit Anschluss an die gegenwärtige Bildungsdiskussion. Was dabei völlig ausgeblendet wird, sind die "Kompetenzen" der Lehrer – und die essentiellen Grundlagen der Waldorfpädagogik...


Inhalt
Eine tote Sprache – und ein eklatanter Widerspruch
Der blinde Fleck: Die Kompetenzen der Lehrer
Von der Illusion zur Realität
Urteilsvermögen und Willen entwickeln – erst einmal selbst!
Anhang (Betrachtung beispielhafter Textstellen)
Abstrakte Einleitung... | ... und Kompetenzbeschreibungen | Rudolf Steiner: distanziert und trivialisiert | Weitere fragwürdige Stellen
Abschluss


Eine tote Sprache – und ein eklatanter Widerspruch

Vor wenigen Wochen erschien eine über 400-seitige Ergänzung zum "Lehrplan" der Waldorfschule: "Entwicklungsaufgaben und Kompetenzen. Zum Bildungsplan der Waldorfschule".

Verfasst von W. Götte, K.-M. Maurer und P. Loebell unter Mitwirkung von rund 70 weiteren Waldorflehrern will das Werk einen umfassenden Blick auf die Frage ermöglichen, welche Kompetenzen Waldorfschüler entwickeln (sollten), um den Entwicklungsaufgaben der verschiedenen Altersstufen gerecht zu werden.

Der Leser wird von dem Werk jedoch schnell enttäuscht. Dies beginnt schon mit dem völlig abstrakten einleitenden Teil über den Kompetenzbegriff und seine Grundlagen – und es setzt sich fort in der ebenfalls abstrakten, lieblosen, verstandesmäßig-distanzierten Abhandlung der Kompetenzen. Nur zwei Beispiele der ersten Seiten (im Anhang werde ich dann eine Fülle problematischer Stellen zitieren):

S. 22: Andererseits sind die Sechsjährigen noch nicht in der Lage, gezielt auf Anweisung hin zu lernen. Sie können zwar beim Erreichen des Schulalters unter Einfluss einer Instruktion ihre Aufmerksamkeit mobilisieren. [...]

S. 24: So stehen die erworbenen Kenntnisse den jungen Menschen als Fachkompetenzen zur Verfügung: Auf ihrem Hintergrund bilden sie die assoziativen Verknüpfungen für das persönliche Weltverständnis aus.


Im Hauptteil ist dann zwar immer wieder von "Entwicklungsaufgaben" der Kinder und Jugendlichen die Rede, aber man erlebt keinerlei Interesse an den jungen Menschen, sondern vielmehr eine selbstbezogene Darstellung: Seht her, was die Waldorfschule leistet, welche Kompetenzen sie "produziert"!

Man hat das Empfinden, dass der detaillierte Waldorflehrplan einfach auf Kompetenzwortschatz "umgeschaltet" wurde und das Ganze dann völlig abstrakt formuliert wurde, um reibungsfrei und passgenau an den erziehungswissenschaftlichen und psychologischen Mainstream-Diskurs anschließen zu können.

Mit diesem Buch strebt man nach Anerkennung durch die herrschende Wissenschaft – um den Preis, dass Sprache, Denken und Empfindung ebenso absolut tot sein müssen und sind. Man will der Waldorfpädagogik Anerkennung verschaffen – und tötet sie dafür.

Als einen unendlichen Gegensatz dazu muss man folgende Worte Rudolf Steiners erleben, die er während einer Konferenz mit den Lehrern im Sommer 1920 aussprach:

Sie selbst als Lehrer der Waldorfschule werden sich immer mehr in die Durchschlagskraft des Geistes hineinfinden und die Möglichkeit finden, alle Kompromisse beiseite zu lassen. [...] Wenn solche Leute, die im heutigen pädagogischen Leben drinnenstehen, uns loben, da müssen wir denken, da muß etwas bei uns nicht stimmen. Wir brauchen nicht jeden gleich hinauszuwerfen, der uns lobt, aber wir müssen uns klar sein, daß wir sorgfältig untersuchen, was wir nicht richtig machen, wenn wir gelobt werden von denjenigen, die im heutigen Erziehungswesen drinnenstehen. Das muß unsere gründliche Überzeugung werden. [...] Wir müssen auch innerlich, dem Gemüte nach, tatsächlich Anthroposophen sein im tiefsten Sinne des Wortes als Waldorflehrer [...]
24.7.1920, GA 300a, S. 166f.


Für Waldorflehrer kann dieses Buch nicht geschrieben sein. Es ist ein einziges seelentötendes Werk. Wendet man den Kompetenzbegriff einmal auf die Autoren selbst an, so muss man sagen: Eine Kompetenz haben sie auf keinen Fall – ein wirkliches Erleben der Anthroposophie.

Würde man wirklich die Anthroposophie erleben, wäre es unmöglich, dass die Sprache abstrakt bleibt.

Doch abstrakt wird von "Entwicklungsaufgaben" der Kinder und Jugendlichen gesprochen, abstrakt wird aufgezählt, welche Lehrplaninhalte ihnen dabei helfen sollen - fast nirgendwo ist auch nur ansatzweise eine reale Liebe zu realen Menschen zu empfinden.

Das ist das Furchtbare: Es geht um das wunderbare Ideal der Waldorfpädagogik, aber es ist in Sprache und Darstellung völlig getötet worden - und so auch jede Grundlage, um das Ideal verwirklichen zu können.

Die Frage ist: Wird es genügend Waldorflehrer geben, die ein solches unmögliches Unternehmen erkennen und empfinden, was hier geschieht? Wird es genügend Menschen geben, die sich nicht von dem Äußerlichen blenden lassen - von der scheinbaren Tatsache, dass es um die "Weiterentwicklung" und die äußere Anerkennung der Waldorfpädagogik geht - sondern erleben, was real der Fall ist?

Der blinde Fleck: Die Kompetenzen der Lehrer

Die Beschreibung der einzelnen Fachkompetenzen in der Oberstufe liest sich, als würde jeder einzelne Schüler umfassend enzyklopädisch ausgebildet. Viele der genannten Themen können in jedem Fall nur angerissen oder in Auswahl exemplarisch behandelt werden.

Und auch dann wird mit den langen Listen von Lehrplaninhalten und zu erwerbenden Kompetenzen ein Idealfall beschrieben, der in dieser Form so gut wie nie eintreten wird.

Aber gerade an dieser grandiosen Auflistung von Erreichnissen des "idealen Waldorfschülers" stellt sich eklatant die Frage, welche Lehrer es bräuchte, um dem Anspruch dieses Buches auch nur halbwegs gerecht zu werden. Der Alltag auch an Waldorfschulen ist allzuoft, dass Jugendliche die Stofffülle über sich ergehen lassen, dass sie nicht erleben, wozu Eurythmie, Buchbinden oder höhere Geometrie gut sein sollen usw.

Das lebendige Weltinteresse, das Rudolf Steiner so intensiv betonte, wird also oft überhaupt nicht geweckt - oft nicht einmal das Interesse an den eigentlichen Unterrichtsinhalten.

Und mit voller Wucht steht hier vor einem die Frage nach den Kompetenzen der Lehrer! Dies ist eine Frage, die das Buch nahezu völlig ausblendet. Wie es die ideale Fülle zahlloser Kompetenzen der Schüler schildert, so sehr - und mehr noch - setzt es den idealen Lehrer einfach voraus.

Die meisten Fach-, Methoden- und auch viele Sozialkompetenzen wird jeder gute Fachlehrer mehr oder weniger gut vermitteln können. Aber gerade das, worauf die gesamte Waldorfpädagogik abzielt - das volle Hineinstellen von Menschen in diese Welt, von Menschen, die ein tiefes Weltinteresse entwickelt haben und zu ihren eigenen Impulsen erwachen -, das ist etwas, was mit abstrakten "Sozial- und Selbstkompetenzen" überhaupt nicht erfasst werden kann - und was Fähigkeiten der Pädagogen braucht, die unbedingt immer wieder genannt werden müssten, wenn es um mehr als ein theoretisch-abstraktes Werk ginge.

Ein Kompendium über "Kompetenzen in der Waldorfschule" ist absolut unvollständig - ja völlig abstrakt und phrasenhaft -, wenn nicht davon gesprochen wird, welche Kompetenzen sich die Waldorflehrer erwerben müssten. Jede Waldorfschule versagt in der Verwirklichung ihrer eigentlichen Ziele, wenn ihre Lehrer nicht einen energischen Weg der Selbsterziehung und Selbstschulung gehen.

Diese eigentlichen Ziele werden in dem Buch kaum genannt. Die Beschreibung der "Selbstkompetenzen" bleibt auch im Abschnitt über die Oberstufe abstrakt und phrasenhaft.

Ein Lehrer, der so formuliert, wird die Schüler niemals begeistern können! Warum werden dann ganze Bücher so verfasst? Ein Buch, das die in der Waldorfschule sich entwickelnden Kompetenzen beschreibt, müsste vor innerer Begeisterung leuchten! Ist der völlig abstrakte, tote Stil ein Tribut an die Leser der akademischen Welt oder können die Autoren nicht anders?

Wenn die Waldorfbewegung sich dem toten Denken und (Nicht-)Empfinden der übrigen Welt derart anbiedert, ist sie völlig verloren. Es ist völlig unmöglich, dass ein Lehrer, der solche abstrakten Kompetenz-Zusammenstellungen verfasst, jene "erweckende Erziehung" realisieren kann, die Rudolf Steiner für die letzten vier, fünf Schuljahre als absolut notwendig schilderte.

Von der Illusion zur Realität

Die "Kompetenzen", die sich der Waldorflehrer erwerben müsste, sind schnell "genannt", Rudolf Steiner selbst hat sie formuliert:

Denken Sie daran, daß der Lehrer ein Mann der Initiative sei, daß er niemals lässig werde, das heißt, nicht voll bei dem dabei sei, was er in der Schule tut, wie er sich den Kindern gegenüber benimmt. Das ist das erste: Der Lehrer sei ein Mensch der Initiative im großen und kleinen Ganzen.
Das zweite, meine lieben Freunde, ist, daß wir als Lehrer Interesse haben müssen für alles dasjenige, was in der Welt ist und was den Menschen angeht. [...] Wir sollen uns für die großen und für die kleinsten Angelegenheiten der Menschheit interessieren. Wir sollen uns für die großen und für die kleinsten Angelegenheiten des einzelnen Kindes interessieren können. [...]
Und das dritte ist: Der Lehrer soll ein Mensch sein, der in seinem Inneren nie ein Kompromiß schließt mit dem Unwahren. Der Lehrer muß ein tief innerlich wahrhaftiger Mensch sein, er darf nie Kompromisse schließen mit dem Unwahren [...]
6.9.1919, GA 294, S. 193f.

[...] Sie werden nicht gute Erzieher und Unterrichter werden, wenn Sie bloß auf dasjenige sehen werden, was Sie tun, wenn Sie nicht auf dasjenige sehen werden, was Sie sind. [...] der Mensch in der Welt wirkt nicht nur durch dasjenige, was er tut, sondern vor allem durch dasjenige, was er ist.
21.8.1919, GA 293, S. 26f.

Mit dem Kinde müssen wir innerlich zusammenleben können! Wir müssen so das Menschliche lebendig in uns aufgenommen haben, daß wir mit dem Kinde lebendig zusammenleben können. Bloßes Verstehen des Kindes nützt gar nichts.
1.7.1923, GA 304a, S. 89.


Es zeigt sich hier, dass der Waldorflehrer vor einer ungeheuren Aufgabe steht, wenn er das eigentliche Ziel der Waldorfpädagogik erreichen will. Seine Aufgabe ist es, zunächst (und fortwährend) selbst ganz Mensch zu werden.

Nur dann kann er jene Vollmenschen erziehen (d.h. ein Wegbereiter für solche werden), von denen Rudolf Steiner sagt:

Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden? Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zuzuführen. Dann wird in dieser Ordnung immer das leben, was die in sie eintretenden Vollmenschen aus ihr machen; nicht aber wird aus der heranwachsenden Generation das gemacht werden, was die bestehende soziale Organisation aus ihr machen will.
1919, GA 24, S. 37, "Freie Schule und Dreigliederung".

Urteilsvermögen und Willen entwickeln – erst einmal selbst!

Die Waldorfbewegung sollte aufhören, sich abstrakt um die Kompetenzen des idealen Waldorfschülers zu kümmern, und anfangen, um die notwendige innere Entwicklung ihrer realen Lehrer zu ringen.

In zahllosen Wiederholungen wird immer wieder das "Urteilsvermögen" als zu erwerbende Kompetenz der älteren Waldorfschüler genannt. Die Waldorfbewegung sollte selbst endlich wenigstens so viel Urteilsvermögen entwickeln, dass sie erkennt, wie wenig an den entscheidenden Grundbedingungen für die Verwirklichung wahrer Waldorfpädagogik gearbeitet wird.

Und die Erkenntnis allein reicht nicht - der Wille zur Tat müsste hinzukommen! Die "Willenserziehung" ist ebenfalls eine oft wiederkehrende Phrase - in bezug auf die Schüler! Wie steht es mit der Willenserziehung der Lehrer - in bezug auf den Willen zur Selbsterziehung?

Wie steht es mit dem Willen der Lehrer, die grundlegenden "Kompetenzen", die Rudolf Steiner nannte, wirklich immer mehr zu entwickeln?

Dieser Wille ist größtenteils nicht da, und wer meint, dies seien unwahre "Vorwürfe", möge sich klar machen, dass es im Grunde keine lähmenden Konferenzen, keine sozialen Probleme im Kollegium, keine Schwierigkeiten bei der Frage "Wer macht..." usw. geben könnte, wenn die Selbsterziehung der Waldorflehrer eine Realität wäre. Stattdessen sind aber die angedeuteten Probleme (und viele andere) die reale Wirklichkeit in den Waldorfschulen.

Das Buch von Götte et al. trägt den Titel "Entwicklungsaufgaben und Kompetenzen. Zum Bildungsplan der Waldorfschule". Man möchte diesen Titel ganz und gar auf die Pädagogen übertragen - dann würde eine Realität daraus. Ein Kompendium über den Kompetenzerwerb von Waldorfschülern, ohne dass die Entwicklungsaufgaben der Lehrer erfüllt sind ist, ist entweder eine Lüge oder lässt die wesentlichsten Ziele der Waldorfpädagogik stillschweigend von vornherein weg (und ist damit ebenfalls eine Lüge).

So ist das Buch eine "schöne", "elaborierte" Ausarbeitung eines Ideals, aber es bräuchte vielmehr ein klares Erkennen der überhaupt nicht schönen, sondern erschreckenden Realität der Waldorfschulen - nämlich der absoluten Idealferne in bezug auf die essentiellen Grundlagen, die Rudolf Steiner den ersten Waldorflehrern gleichsam mit flammenden Worten ins Herz schrieb.

Bleibt man für diese Realität blind, wird man sich weiter einreden können, was man doch seit 90 Jahren Großartiges leistet. Gemessen an verwahrlosten Hauptschulen oder Mainstream-Gymnasien mag man sich auf die Schulter klopfen - in bezug auf den eigenen allerhöchsten Impuls, mit dem die Waldorfschule ins Leben trat, scheitert man heute fortwährend in erschreckender Weise.

Dies nicht zu sehen, hieße, einem Jugendlichen zu gleichen, der sich in maßloser Überschätzung seiner noch ganz unentwickelten Fähigkeiten für den großartigen Mittelpunkt der Welt hält...

Anhang: Betrachtung beispielhafter Textstellen

Abstrakte Einleitung

Extrem abstrakt ist der erste Teil über den Kompetenzbegriff:

S. 22: Andererseits sind die Sechsjährigen noch nicht in der Lage, gezielt auf Anweisung hin zu lernen. Sie können zwar beim Erreichen des Schulalters unter Einfluss einer Instruktion ihre Aufmerksamkeit mobilisieren. [...]

S. 24: So stehen die erworbenen Kenntnisse den jungen Menschen als Fachkompetenzen zur Verfügung: Auf ihrem Hintergrund bilden sie die assoziativen Verknüpfungen für das persönliche Weltverständnis aus.

S. 44: Im Hinblick auf den Kompetenzerwerb sollten die Schüler erleben, dass sie diejenigen Handlungsdispositionen ausbilden, die sie aktuell für die Lösung ihrer Entwicklungsaufgaben benötigen [...]

S. 87: In einem zweiten Ansatz können wir also die Frage nach der Persönlichkeitsentwicklung, in einer Art Momentaufnahme als Charakteristik des Schülers stellen, die letztlich in eine Beurteilung führen kann. (Wie ist der Schüler zu Beginn oder vor Beginn des Prozesses, was kann seine Persönlichkeitsentwicklung vorantreiben?)

S. 104: Das neu erwachte Bewusstsein für die eigenen Fähigkeiten oder deren Mangel erfordert ein Selbstvertrauen, das auf der kompetenten Teilhabe an gemeinschaftlichen Lebensvollzügen beruht.

... und Kompetenzbeschreibungen

Diese Abstraktheit setzt sich fort, wenn im folgenden dann verschiedene Altersstufen behandelt werden:

S. 114 (Turnen): Die Kinder schulen dabei ihre Körperkoordination, ihre Raumorientierung und ihr Zeitgefühl, sie beugen Organ- und Haltungsschäden vor und steigern allgemein ihre physische Leistungsfähigkeit.

S. 152 (Biologie): In der naturkundlichen Beschäftigung mit Pflanzen und Tieren geht es vor allem um den Aufbau einer von moralischer Verantwortungsfähigkeit getragenen Beziehung zur Natur und zur Umwelt schlechthin.

S. 168 (Sexualkunde): Wenn, wie es oft sinnvoll erscheint, in der 6. Klasse Sexualität explizit im Unterricht thematisiert wird, ist im Sinne der Ausbildung sowohl von Sozialkompetenz als auch von Individualkompetenz der Zusammenhang von Respekt vor dem anderen Geschlecht, Selbstverantwortung, Verantwortung gegenüber dem Partner, Verantwortung gegenüber künftigem Leben, von Kommunikation und Beziehungspflege unter Einbeziehung des Geheimnisses von Liebe und Begegnung mit der eigenen Sexualität im Heranwachsenden herzustellen.

S. 208 (dito): Wenn die Heranwachsenden lebens- und entwicklungsbedingt ab dem zwölften Lebensjahr beginnen, sich aus Liebe oder Entdeckungsfreude in Beziehungen unter Einschluss der Option sexueller Erfahrungen zu erproben, setzt dies den Aufbau von Kommunikationsfähigkeit [...] voraus.

S. 317 (Schreinern): In der 9. Klasse stehen die Schüler vor der Aufgabe, ihren (während der Pubertät umgebildeten) physischen Leib von der Ebene des Seelischen neu zu ergreifen. Hier bietet das Schreinern eine klare Raum- und Maßorientierung.

Rudolf Steiner: distanziert und trivialisiert

Sobald eines der recht wenigen Zitate Rudolf Steiners auftaucht, erlebt man immer wieder den radikalen Unterschied zwischen der sonstigen toten Abstraktion und einer kurz hereinleuchtenden Sphäre echter Wirklichkeit. Auf diese Weise sind diese Zitate regelrechte Fremdkörper im Text. Umgekehrt haben die Autoren ein distanziertes Verhältnis zu Rudolf Steiner und bemühen sich vor allem um den Anschluss an den etablierten Diskurs.

Entscheidende Aussagen Rudolf Steiners werden zwar wiedergegeben, aber an sie kann in den folgenden Ausführungen nicht im geringsten angeschlossen werden. Sie bleiben entweder isoliert stehen oder werden in trivialer oder problematischer Weise interpretiert.

S. 34: "Im Grunde genommen muss es auch bei den seelischsten Dingen vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife auf das Können hinauskommen. Das Können wird aber nur erreicht in diesem Alter, wenn man alles bis zum Bilde bringt." (R. Steiner 1920-23/1983, S. 94). An diesen Äußerungen ist zu erkennen, dass R. Steiner selbst den Kompetenzerwerb als ein wichtiges Ziel seines Schulkonzepts ansah.

Welch ein armseliger, furchtbarer Kommentar! Die Waldorfpädagogik ist jene Pädagogik, die Vollmenschen ins Leben stellen sollte! Alles geht bei ihr auf das Können aus - der Kommentator aber fühlt sich bemüßigt, darauf hinzuweisen, dass "R. Steiner selbst" den Kompetenzerwerb als wichtig ansah!


S. 38: "In der Schule muss das Kind lernen, vom Leben zu lernen, sodass es nicht aufhört – wegen seiner toten Begriffe und dergleichen –, im späteren Dasein vom Leben zu lernen, und nicht starr wird." (R. Steiner 1919-1920/1998, S. 62). "Lernen, vom Leben zu lernen" entspricht einem Erziehungskonzept, das die Bildung von persönlichen Ressourcen für eine erfolgreiche Bewältigung individueller Entwicklungsaufgaben anstrebt.

Auch hier wird der viel tiefer gehende Begriff des "vom Leben lernen" heruntergebrochen auf die Bewältigung individueller "Entwicklungsaufgaben". Die Verbindung zwischen Mensch und Welt geht dadurch fast völlig verloren, der Aspekt des tiefen Weltinteresses und eines Lernens, um in der Welt zu wirken, ist überhaupt nicht mehr erlebbar.


S. 51: Indem die Schülerinnen und Schüler elementare Begriffe wichtiger Lebensverrichtungen bilden – etwa über den Betrieb der elektrischen Bahn, über Seifenfabrikation, Zigarettenfabrikation, Spinnereien, Webereien etc. –, entsteht in ihnen nach Steiners Auffassung die Sehnsucht, wissbegierig zu sein auf alles, was in ihrer Umgebung vorgeht.

Hier gibt der Autor Steiners "Auffassung" distanziert-objektiviert wieder, als ob es um ein abstraktes Referat ginge und nicht um die Beschreibung wesentlicher Erkenntnisse, die der Waldorfpädagogik zugrunde liegen (müssten)!


Auf S. 216 ist zum ersten Mal (!) wirklich von dem wesentlichen Aspekt der anthroposophischen Menschenkunde die Rede - davon, dass der Mensch ein geistiges Wesen ist und Leib, Seele und Geist unterschieden werden müssen. Dann heißt es u.a.:

S. 216: Zu den Grundlagen der Waldorfpädagogik gehören daher elaborierte Auffassungen über die leibliche und die innere Wesenheit des Menschen ("Wesensglieder"), welchen der Leib als ihr Instrument zugeordnet ist. Die zugrunde liegende Methodologie begreift den Menschen als ein Ganzes, in ihm wirken physiologische Prozesse mit mentalen wechselseitig zusammen.

Allein in diesen zwei Sätzen häufen sich wieder die Kniefälle vor der herrschenden Wissenschaft und sonstige Abstraktionen. Das Wort "elaboriert" soll dem Satz offenbar eine Substanz verleihen, die er sonst nicht hat. "Auffassungen" können jederzeit bestritten werden, sind sie doch stets subjektiv – im Gegensatz zu Erkenntnissen und Ergebnissen der Geistesforschung. – "...welchen der Leib ... zugeordnet ist" ist eine dieser furchtbar abstrakten Formulierungen, wie sie das ganze Buch durchziehen. Und die "mentalen Prozesse" sind wieder einmal ein "vorauseilender Gehorsam" gegenüber der "üblichen Terminologie", in Wirklichkeit aber eine Unwahrhaftigkeit.


S. 220: Rudolf Steiner hat für diese seelischen Phänomene das Einfließen einer Seelenkraft beschrieben, die er "Astralleib" nennt.

Der Astralleib ist etwas ganz anderes als eine Seelenkraft, nämlich der Träger der drei Seelenkräfte Denken, Fühlen und Wollen, und es geht auch nicht um ein "Einfließen", sondern um die "Geburt des Astralleibes". Beides wird wenige Sätze später richtig wiedergegeben. Solche Formulierungen wie das "Einfließen einer Seelenkraft" jedoch stellen die gesamte Anthroposophie in ein völlig falsches Licht - sie suggerieren einen phantastisch-materialistischen Okkultismus, also das genaue Gegenteil der klaren Geisteswissenschaft Rudolf Steiners! Ist dies wirklich die Verständnistiefe der Autoren?


Wenige Seiten später, auf S. 228, wird ein längeres Zitat Rudolf Steiners wiedergegeben, wo er schildert, wie das Kind mit dem 12. Lebensjahr durch das veränderte Verhältnis zum Knochensystem ganz in das Erleben von Mechanik und Kausalität hineinwächst. Direkt anschließend heißt es weiter:

S. 228: Mit Antonio Damasio gehen wir davon aus, dass die Seele den Leib bewohnt oder, wie er formuliert: "die Seele atmet durch den Leib". Die sich ergebende Entwicklungsaufgabe ist daher: die Wiedereroberung und Durchdringung des Leibes als Instrument der Seele, das neue, fremde Haus bewohnen lernen, das neue Instrument stimmen und spielen lernen.

Das sehr wesentliche Zitat Rudolf Steiners wird also nicht weitergeführt, sondern unvermittelt wird stattdessen auf irgendeinen Wissenschaftler Bezug genommen und die Formulierung der zentralen Entwicklungsaufgabe des Jugendalters an dessen trivial-romantische Aussage zum Verhältnis von Seele und Leib angeknüpft!

Weitere fragwürdige Stellen

Im folgenden seien noch zahlreiche weitere Stellen betrachtet:

S. 37: Wer seinen Aufgaben als Partner, Vater, Freund, Vorgesetzter, Kollege etc. nachkommen und dabei gleichzeitig seinen eigenen Ansprüchen gerecht werden will, muss seine Identität immer wieder neu definieren. Unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen könnte Sozialkompetenz also darin bestehen, dass der einzelne Mensch in der Lage ist, unterschiedlichen Erwartungen und Ansprüchen gerecht zu werden; gleichzeitig käme es im Sinne der Selbstkompetenz darauf an, die Individualität zunehmend zum Zentrum und Maßstab des Handelns zu machen.

Hier zeigt sich, wie problematisch der Begriff der "Kompetenz" ist. Sozialkompetenz bedeutet tendenziell immer, sich anzupassen, eine Rolle zu spielen, "seine Identität neu zu definieren". Von hier aus ist es nur noch ein gradueller Unterschied zum "flexiblen" Arbeitnehmer und "braven" Staatsbürger.

Sozial- und Selbstkompetenz werden durch die ganze Formulierung de facto auseinandergerissen, statt eine Einheit zu bilden. Die Identität muss nicht immer "neu definiert" werden - die wahre Individualität wird sich immer so verhalten (können), wie es die Umstände erfordern.


S. 51: Die Arbeit der Schülerinnen und Schüler sollte grundsätzlich aus künstlerischen Gesichtspunkten hervorgehen. Zum Beispiel kommt es beim Zeichnen einfacher geometrischer Formen darauf an, dass die Qualität jeder einzelnen Linie gefühlsmäßig erlebt wird. "Indem man nach und nach alles bloß Intellektuelle aus dem Künstlerischen, aus dem ganzen Menschen herausarbeitet, wir dman auch ganze Menschen heranziehen, Menschen mit wirklicher Initiative, die wiederum Lebenskraft im Leibe haben." (R. Steiner 1920/1977, S. 103).

Ganz abstrakt wird hier ein ganz wesentlicher Grundsatz der Waldorfpädagogik in zwei Sätzen abgehandelt und dann durch ein Zitat Rudolf Steiners gestützt, so dass die Armseligkeit der vorangegangenen Formulierung nicht mehr sofort auffällt. Denn was heißt es, die Qualität jeder einzelnen Linie gefühlsmäßig zu erleben!? Liegt darin nicht eine allergrößte Aufgabe? Welcher Lehrer vermag dies wirklich? Es wäre aber Aufgabe des Lehrers, dies erleben zu können. Nur dann kann er es den Kindern überhaupt ansatzweise nahebringen. Stattdessen wird – wie durch das ganze Buch hindurch – der Lehrer völlig verschwiegen und die Kompetenz kurzerhand von den Kindern erwartet – wie "von unsichtbarer Hand" erworben!


S. 65: Das Zusammenbleiben über mehrere Jahre hinweg unterstützt nach Auffassung von Oswald und Krappmann den Aufbau dauerhafter Gruppen und Zweierbeziehungen: [...]

Muss man für solche Trivialitäten sogar noch Drittautoren zitieren, um sie wissenschaftlich zu "belegen"?


S. 67: Schulische Erfahrungen können erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung des Selbstkonzepts haben (G. Opp 2007). Dabei ist die Rolle der Lehrerpersönlichkeit nicht zu unterschätzen, denn "unter den am häufigsten angetroffenen positiven Rollenmodellen [...]" [...] Vor diesem Hintergrund erscheint die bedeutende Verantwortung des Klassenlehrers in der Waldorfschule auch empirisch gerechtfertigt [...]

Auch hier wird es für nötig gehalten, ein Grundelement der Waldorfpädagogik und eine offensichtliche, selbstverständliche Tatsache durch Verweis auf "Forschungen" zu untermauern. Wieviel Vertrauen hat man eigentlich noch in die innere Begründetheit und Selbstevidenz der Waldorfpädagogik?


S. 151: Im Geografieunterricht der 5. und 6. Klasse werden diese Intentionen weiter verfolgt.43
In der Fußnote 43 auf S. 404 heißt es dazu: C. Göpfert nennt als Ziele des Geografieunterrichts, Weltinteresse und Lebensmut beim Schüler zu wecken. [...]

Diese Stelle ist symptomatisch für das ganze Buch: Letztlich behalten die Lehrplaninhalte die Oberhand. Die eigentlichen, übergeordneten Ziele der Waldorfpädagogik, insbesondere die, die dem Willen des Menschen entsprechen, also etwas das echte, lebendige Weltinteresse, werden entweder überhaupt nicht genannt oder in den Fußnotenanhang verbannt!


Auf S. 157 wird für die Handarbeit der 6. Klasse geschildert, dass die Schüler eine Puppe oder ein Tier aus Stoff nähen. Dann heißt es:

S. 157: Auf das Ausstopfen der entstandenen Hülle folgt schließlich das Applizieren von Haaren, Mähne, Schweif oder Ähnlichem. [...] Die innere Frage nach dem Verhältnis von Leib, Seele und Geist, die in den zwölfjährigen Kindern erwacht, wird auf diese Weise versachlicht und handwerklich bearbeitet.

Hier werden größte Fragen in abstraktester Weise und mit einem Satz abgehandelt! Was soll überhaupt damit gesagt sein, "die innere Frage ... wird versachlicht"!? Und hat es irgendetwas mit der inneren Frage nach dem Verhältnis von Leib, Seele und Geist zu tun, wenn man aus totem Material eine Stoffpuppe fertigt? Soll man aus einer so ausgedachten Formulierung schließen, dass die inneren Fragen der Kinder für den Lehrer mit der "Stoffpuppe" erledigt oder auch nur irgendwie bearbeitet sind? Der Lehrplan als automatischer Pädagoge? Die Stoffpuppe als Antwort auf tiefe Lebensfragen??

Eine solche Stelle ist symptomatisch für die Blindheit und den Größenwahn eines solchen Buches bzw. innerhalb der Waldorfbewegung.


S. 169: Wie erwähnt (vgl. 2.2) sollen die Unterrichtsinhalte in einer Beziehung zu den Entwicklungsaufgaben der jungen Menschen stehen. Das gilt beispielsweise auch für den Grammatikunterricht.48

Wesentliche Angaben von Rudolf Steiner gehen im ganzen Buch völlig unter. Der "Rubikon" als tiefgreifender Entwicklungssprung im 9. Lebensjahr wird nicht wirklich behandelt und taucht in dem kurzen Abschnitt "Selbstkompetenz" dieser Altersstufe nicht auf. Ein sehr wesentliches Zitat Rudolf Steiners darüber, wie u.a. der Grammatikunterricht diese "Entwicklungsaufgabe" unterstützen kann, findet sich im Fußnotenanhang als Fußnote 48 im o.g. Abschnitt über Selbstkompetenzen im 12. Lebensjahr!


S. 170: Bedeutende Persönlichkeiten als Vorbilder, eine differenzierte, ästhetische Sprache, ergreifende Erlebnisse in der musischen und bildenden Kunst können im Übergang zum Jugendalter zu biografisch bedeutenden Höhepunkten werden, sofern sie den Schülerinnen und Schülern freilassend, ohne Pathos angeboten werden.

Hier haben wir wieder eine abstrakte Beschreibung von höchst lebensentscheidenden Geschehnissen. Die jungen Menschen sollen sich an Vorbildern begeistern, zu eigenen Idealen erwachen, biografische Höhepunkte erleben können! – Der abstrakte Geist glaubt, dies sei ohne Pathos möglich, denn der abstrakte Geist kennt die wirkliche Begeisterung überhaupt nicht! Wirkliche Begeisterung hat immer etwas von Pathos – und kann trotzdem freilassen. Solche "Paradoxien" kann der abstrakte Denker nicht nachvollziehen – der wahre Waldorflehrer aber muss es können. "Ergreifende Erlebnisse ohne Pathos anbieten", das ist dagegen eine wirkliche Unmöglichkeit – und die Schüler werden es dann auch als "allzu gewollt" (bzw. richtiger: allzu ausgedacht, zu wenig gewollt) durchschauen und nicht ernst nehmen.


S. 219ff: Die Übersicht über die Kompetenzen der Klassenstufe 9 und 10 ist subjektiv-beliebig, offenbar wurde die Arbeit der 70 verschiedenen Waldorflehrer nur sehr unzureichend miteinander abgeglichen.

So werden für Klassenstufe 9 und 10 für das Fach Englisch acht verschiedene - überwiegend allgemeingültige - Sozialkompetenzen genannt (wenn man von drei Doppelnennungen absieht!), für Französisch heißt es dagegen nur: "Lernen von und mit Mitschülern". Für andere Fächer wiederholen sich einige für Englisch genannte Punkte wortwörtlich, andere bleiben ungenannt. Für "Sexualkunde" werden gleich 31 "Sozial- und Selbstkompetenzen" genannt, von trivial-abstrakten Aspekten bis hin zu sehr unrealistischen Erwartungen:
"Identifikation mit dem eigenen Körper", "Verbalisieren von Haltungen und Absichten", "Handlungskompetenz in Selbstverantwortung entwickeln", "das Leben mit der eigenen Sexualität verantwortlich, kommunikativ und im Sinne der Wahrung der persönlichen Integrität sowie der Integrität der Beziehungspartner bzw. potenziell neuen Lebens zu gestalten".
Als Selbstkompetenz in Mathematik der 9. Klasse ist nur genannt: "Durchhaltevermögen" und "motivierte Mitarbeit". Als Sozialkompetenz in Physik: "Toleranz beim Zuhören"! Und in Musik: "Sich in musikalische Gruppenprozesse konstruktiv und flexibel eingliedern".

Wem die Problematik solcher abstrakten und viel zu kurz greifenden Formulierungen nicht erlebbar ist, dem ist auch das Ideal der Waldorfpädagogik nicht zugänglich. Die hier teilweise ausschließlich genannten Kompetenzen gelten für jede beliebige Schule!

Wo bleibt das lebendige, tiefe Weltinteresse, das die Jugendlichen ja sogar mitbringen und das nur aufgegriffen, wirklich erweckt und dann auch vertieft werden muss? Warum wird es als "Kompetenz" nirgendwo genannt?

Für das Fach Werken heißt es immerhin: "Herstellen von Gebrauchsgegenständen für andere" - aber ist das bereits eine Kompetenz? Nein, es ist eine armselige Formulierung. Und kein Jugendlicher, der ein paar Mal "für andere" gewerkt hat, wird dadurch ein lebendiges Weltinteresse oder ein soziales Empfinden entwickeln. Dieses muss durch das ganze Sein des Lehrers angeregt und wachgerufen werden.

Da die wesentliche Bedeutung des Lehrers (insb. seines Seins) im ganzen Buch unerwähnt bleibt, erscheint es nur folgerichtig, dass auch die eigentlich wesentlichen Kompetenzen ungenannt bleiben...


S. 236: [Das Denken ragt] in den Erkenntnissen, die durch das Denken erlangt werden, in den geistigen Bereich des Wesens der Dinge. Die Gefühle sind zusammen mit dem Denken und Wollen Grundlage für Sozialität. Der Wille geht in die Zukunft und ist die Kraft, aus der heraus aktive Gestaltung im Leben möglich wird.

Hier werden bei der Behandlung der Entwicklungen im Jugendalter in kürzester Weise die "spezifischen Aspekte" der drei Seelenkräfte abgehandelt. Wie furchtbar ver-kürzt die umfassende anthroposophische Menschenkunde dadurch wird, sollte jeder Leser empfinden können. Auch dies ist wieder ein deutlichstes Symptom dafür, dass die Autoren es nicht wagen, mit der Waldorfpädagogik ernst zu machen, sondern überall auf der seichten Ebene des unmittelbar Verständlichen und Konsensfähigen haltmachen.


S. 246: Die Waldorfpädagogik ist eine Methodenpädagogik [...] Zwei konstitutive Elemente zeigen das Eigene der Waldorfpädagogik: ihre Methodik und deren anthropologische Begründung einerseits und die Inhalte des Unterrichtes andererseits [...]

Hier haben wir es schwarz auf weiß, dass der Lehrer und sein Sein, seine innere Entwicklung völlig verschwiegen werden. Die Methode und sogar die Menschenerkenntnis wird einfach vorausgesetzt – dies ist aber unmöglich, denn wenn sie nicht individuell lebendig erarbeitet wird, kann sie gar nicht da sein!

Wenn man das Sein des Lehrers außer Acht lässt, dann wird die Waldorfpädagogik zu einer reinen Lehrplan- und Methoden-Pädagogik – dann aber ist sie keine Waldorfpädagogik mehr...


S. 206: Auf die Frage, was die Schule zur Sozialerziehung beizutragen habe, verweist S. Leber auf Steiners Aussage: "Sie hat in allem Unterricht Lebenskunde zu geben." (S. Leber 1996, S. 214). Was damit gemeint ist, führt Leber anhand verschiedener Beispiele aus. Neben dem Geschichtsunterricht der 7. bis 9. Klasse und dem Technologieunterricht in der Oberstufe nennt er auch die Kenntnisse der alles beherrschenden Wirtschaft [...].

Dies ist wieder ein Beispiel, wie man Rudolf Steiner interpretieren zu können meint. Wenn aller Unterricht Lebenskunde geben soll, dann sind es eben nicht einzelne Fächer oder Epochen! Wundert man sich denn noch, warum die Schule den Schülern oft so langweilig und fragwürdig wird? Sie wird es immer dann, wenn sie nicht wirkliche Lebenskunde gibt (und selbst da, wo der Lehrer zwar inhaltlich-stofflich, aber nicht durch sein ganzes Sein das Leben der Welt hineinleuchten lassen kann).

Rudolf Steiner selbst sagt in seinem Vortrag vom 11.5.1919: "Zu lehren wird sein auf der Altersstufe vom fünfzehnten bis zwanzigsten Jahre, aber in vernünftiger, ökonomischer Weise, alles dasjenige, was sich auf die Behandlung des Ackerbaues, des Gewerbes, der Industrie, des Handels bezieht." (GA 192, S. 98).


S. 274: Maßgeblich ist dann ab Klasse 9 der dezidierte Hinweis Rudolf Steiners, dass zu gelten habe: "Lebenskunde muss aller Unterricht geben", wobei inhaltlich diese Lebenskunde umfasst, was heute eben "Sozialkunde" heißt, gerade auch in dem Sinne einer einführenden Wirtschaftskunde. [...]
Diese Kompetenzen können nur erworben werden, wenn Sozialkunde als "Lebenskunde" für viele Fächer Unterrichtsprinzip ist. Dies setzt das Bewusstsein des gesamten Kollegiums für Gegenwartsfragen voraus – eine Forderung, die Steiner nicht müde wurde, den Lehrern der Waldorfschulen zu stellen.

Diese letzten beiden Sätze widerlegen nun also selbst die frühere "Interpretation" Steiners durch S. Leber. Diese Stelle ist eine der ganz, ganz wenigen in dem gesamten Kompendium, wo auf die Bedeutung der inneren Haltung und Entwicklung der Lehrer hingewiesen wird. In einem einzigen Satz leuchtet (außerhalb der Zitate Rudolf Steiners) einmal kurz etwas vom realen Wesen der Waldorfpädagogik auf...


S. 279: Jeder Unterrichtsstoff kann bestimmte Fähigkeiten wecken. [...] Welche Fähigkeiten sind das? Welche sollten entwickelt werden? [...] Wie geschieht das? Wie bewusst gehen Lehrer damit um? Das sind Fragen der Methodenkompetenz der Lehrer.

Fünf Seiten später ist dies die zweite Stelle, wo einmal ganz kurz bewusst gemacht wird, wie wesentlich die ganze Kompetenzfrage von den Kompetenzen des Lehrers abhängt – und dass es eine völlig offene Frage ist, ob er diese besitzt oder entwickelt bzw. entwickeln will oder überhaupt die Notwendigkeit dessen sieht (oder nicht)!


S. 341: Als ein Kernergebnis des Erwerbs von Methodenkompetenzen aus dem schulischen Bereich kann das selbstständige, sachgerechte Umgehen mit Arbeitsmaterialien jeder Art bezeichnet werden. Dazu gehört, das Material selbstständig zu recherchieren, zu exzerpieren und zu strukturieren, also das Auswerten wissenschaftlicher Texte oder Fachartikel, das Studium und die Bearbeitung von Fallbeispielen, die kritische Einordnung und Interpretation von Quellen.

Das ist die abstrakte Formulierung von Methodenkompetenzen, die normalerweise am Ende eines Hochschulstudiums real erworben worden sind! Als vereinfachende Vorstufe mag es in der Schule möglich sein, es klingt aber eher so, als wurde hier mal eben aus abstraktem und Denken und Reputationstrieb heraus mehrere Stufen zu hoch gegriffen!


S. 346: Die notwendige Aktivierung des Willens geschieht durch vertiefte exemplarische Beschäftigung und durch künstlerisches Erfassen von Zusammenhängen.

S. 349: Die zu erwerbenden Sozialkompetenzen sollen am Ende der Schulzeit an den Punkt gelangt sein, an dem der junge Erwachsene mindestens im Ansatz über einen Überblick über die eigene Situation in Bezug auf die anderen und die Welt verfügen kann. Dies bringt die Bereitschaft mit sich, Verantwortung gegenüber der Welt, der Gesellschaft und sich selbst zu übernehmen. Im sozialen Sinne bedeutet dies, Zusammenhänge fachübergreifend als Phänomen erkennen zu können. [...] [...] wichtige Erscheinungen [...] werden vor ihrem jeweiligen historischen und kulturellen Hintergrund als Grundlage für das jeweilige Handeln erkannt, Chancen und Probleme sozialen Wandels vor dem Hintergrund der Globalisierung gesehen. So entsteht Verantwortung für das Leben und die Erde [...]

Hier bleibt völlig unklar, woher der Wille zu Verantwortung und zur Mitgestaltung der Welt kommen soll. Erkenntnisse führen eben nicht von selbst zu Willensimpulsen, wie es ja das erste Zitat auch besagt. Aber auch die vertiefte Beschäftigung und ein "künstlerisches Erfassen" von Zusammenhängen bleibt als Quelle von Willensimpulsen fragwürdig.

Selbstverständlich ist dies wichtig als Überwindung reinen Faktenwissens. Das reale Erwachen von Willensimpulsen braucht aber auch hier wieder das lebendige Vorbild des Lehrers! Wird an ihn nicht wirkliches Weltinteresse und wirkliche Weltverantwortung erlebt, hilft auch aller exemplarischer und künstlerischer Unterricht wenig.

Setzt das Buch auch hier wieder das Sein des Lehrers voraus? Der abstrakte Sprachstil zeigt eher, dass es (absichtlich) vergessen wird.

Abschluss

Dieses Buch gibt sich als ein Meilenstein der Waldorfbewegung, doch es zeigt in größter Deutlichkeit, wo die Waldorfbewegung steht und hinsteuert – weg von Rudolf Steiner, weg von der wahren Waldorfpädagogik...

Sie selbst als Lehrer der Waldorfschule werden sich immer mehr in die Durchschlagskraft des Geistes hineinfinden und die Möglichkeit finden, alle Kompromisse beiseite zu lassen. [...] Wir müssen auch innerlich, dem Gemüte nach, tatsächlich Anthroposophen sein im tiefsten Sinne des Wortes als Waldorflehrer [...]
Rudolf Steiner.