03.08.2009

Destruktive Kritik?

Eine Erwiderung auf immer wieder zu erwartende Vorwürfe (siehe auch: Entgegnung auf die haltlosen Einwände gegen "Eine Klasse voller Engel"). | PDF


Man könnte die Empfindung oder den Standpunkt haben, das auf diesen Seiten Ausgeführte sei doch destruktive Kritik; das in der Waldorfbewegung Geleistete sei doch großartig und nach wie vor zukunftsweisend. Scharfe Kritik daran sei dagegen destruktiv, mache das Geleistete grundlos schlecht, erzeuge ungute Emotionen usw.

Diesen Standpunkt kann man haben. Es kommt ganz auf die Sichtweise an - auf das, was man sieht und was man nicht sieht, was man empfindet und was man nicht empfindet - und wie man schaut und empfindet.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal begründen, wie man zu dem ganz anderen Standpunkt dieser Seiten kommen kann und warum es keine destruktive Kritik ist.

Wer die Waldorfpädagogik wahrhaft liebt und sie als tief notwendige Pädagogik unserer Zeit erkannt hat, wird immer tiefer erleben (oder zu erleben suchen), was das Wesen dieser Pädagogik ist. Gerade die zentralen Worte Rudolf Steiners zu den ersten Waldorflehrern werden auf ihn einen tiefen Eindruck machen, und er wird in diesen die Lebensgrundlage der Waldorfpädagogik empfinden.

Rudolf Steiner hat viele einzelne Anregungen für den Lehrplan und die Methodik gegeben, er hat bisweilen auch gesagt, das Einzelne werde sich finden (bzw. sollte der einzelne Lehrer selbst finden). Was er den ersten Lehrern aber ganz innig ans Herz legte, das waren einige wenige „goldene Regeln“ - grundlegende Bedingungen (nicht nur Empfehlungen), die sich nicht auf den Lehrplan usw. bezogen, sondern auf den Lehrer selbst.

Furchtbare Veräußerlichung...

Was man in der Waldorfbewegung erleben kann, ist eine furchtbare Veräußerlichung. Die Waldorfbewegung hat heute einen detaillierten "Lehrplan" und seit neuestem auch eine sehr detaillierte Beschreibung der in der Waldorfpädagogik zu erwerbenden "Kompetenzen" (> Buchkritik hier), aber die "goldenen Regeln" für die Lehrer werden völlig missachtet. Während der "Waldorfliteratur-Berg" in die Höhe wächst, legt sich auf die wesentlichen Grundlagen der Waldorfpädagogik eine immer dickere Staubschicht...

Oder welcher Lehrer hat diese wesentlichen Grundlagen täglich vor dem inneren Auge, welcher Lehrer trägt sie im Herzen und bemüht sich täglich um ihre Verwirklichung und immer weitere Vertiefung?

Wer nimmt die Grundbedingungen der Waldorfpädagogik ernst? Wo dies nicht geschieht, wo man sich also um alles andere, nicht aber um dies kümmert, kann man nur von Veräußerlichung sprechen. Und wenn man Rudolf Steiners Worte wirklich erlebt, dann erlebt man diese Veräußerlichung auch. Wenn man also die Waldorfpädagogik wirklich liebt, muss man bei dem Erleben einer solchen Veräußerlichung aufschreien - innerlich und auch öffentlich.

Denn was sich dann (heute) noch als "Waldorfpädagogik" entfaltet, ist dann keine mehr. Es ist noch der Lehrplan, es sind noch die Methoden, es ist aber nicht mehr ihr Wesen. Äußerlich scheint alles zu "stimmen", es ist aber nur leere, trügerische Form.

Das Wesen der Waldorfpädagogik liegt in gewisser, sehr weitgehender Weise im Lehrer - aber in einem Lehrer, der die wenigen "goldenen Regeln", die essentielle Bedingung der Waldorfpädagogik sind, durch und durch beherzigt und auf diesem Wege durch und durch ein anderer Mensch wird - erst wahrhaft (Waldorf-)Pädagoge wird.

Erst an einem solchen Lehrer würden die Kinder und Jugendlichen wahrhaft erleben, was es heißt, Mensch zu sein - und erst ein solcher Lehrer würde mehr und mehr das wirkliche werdende Wesen seiner Schüler erleben und für dieses wahrhaft Wegbereiter sein können.

... und die Konsequenzen

Das will man heute nicht hören; der Anspruch ist einem zu groß, so weit will man nicht gehen. Dann aber soll man ehrlich und deutlich sagen, dass man eine andere "Waldorfpädagogik" will und treibt, nicht die Waldorfpädagogik Rudolf Steiners.

Die wenigen "goldenen Regeln" sind einem heute zu viel, man hat sie vielleicht noch im Hinterkopf, aber man lebt nicht nach ihnen, lebt nicht mit ihnen. Dann ist man aber auch kein Waldorflehrer und wirkt nicht in einer Waldorfschule. Der Name ist noch da, aber er ist nicht mehr wahr, ist eine Lüge.

Eine Waldorfbewegung, die nicht ihre wesentliche Grundlage pflegt - die innere Entwicklung des Lehrers -, ist keine Waldorfbewegung mehr.

Aus dem Erleben dieser Tatsache sind diese Seiten entstanden. Sie sind keine destruktive Kritik, sondern ein Aufruf, das Wesen der Waldorfpädagogik ernst zu nehmen. Diese Seiten sind eine Apologie dieser wahren Waldorfpädagogik - destruktiv ist dagegen die heutige "Waldorf"bewegung, denn sie missachtet täglich die Lebensgrundlage jener Pädagogik, deren Namen sie noch trägt.