09.05.2009

Vom Verlust der Anthroposophie in der Waldorfschule

veröffentlicht unter dem Titel "Wer ist Anthroposophia?" in der "Mittenmang", Schulzeitung der Waldorfschule Berlin-Mitte, Johanni 2009. | PDF


Inhalt

Einleitung
Anthroposophie und das Wesen des Menschen
Die Realität – ohne Anthroposophie
Symptome
Moralische Forderungen?
Und die Eltern?


Einleitung

Im Gespräch mit einem anderen Vater unterhielt ich mich über die Frage, welche Bedeutung eigentlich die Anthroposophie in der Waldorfschule hat.

Diese Frage kann man in ihrem objektiven Aspekt betrachten: "Welche Bedeutung müsste sie haben, wenn man von Waldorfschule sprechen will? Welche Bedeutung hätte sie, wenn es eine wirkliche Waldorfschule wäre?" – oder von ihrem jeweils konkreten Aspekt: "Welche Bedeutung hat sie heute in der, in unserer Waldorfschule?"

Ich weiß, dass heutzutage schon das Wort "objektiv" die Gemüter erhitzt, denn es ist doch eigentlich klar, dass es den objektiven Aspekt gar nicht gibt? Objektivität gibt es vielleicht in der Wissenschaft, aber sonst doch nicht? Doch, sonst auch. – Das sage ich einerseits, um die Leser zu provozieren (zu konzentrierter Aufmerksamkeit, und sei sie eben hervorgerufen durch inneren Widerspruch), andererseits aber, weil es meine feste Überzeugung ist.

Das Interesse an den Grundlagen der Waldorfschule scheint nicht sehr groß. Wenn ich mich in diesem Eindruck irre, würde mich dies sehr freuen, aber es scheint, als seien die weitaus meisten Eltern völlig zufrieden damit, dass "die Lehrer es schon machen". Wenn es in der Schule gut läuft, dann ist alles in Ordnung. Wenn nicht, nun, dann wird man eben unzufrieden, vielleicht geht man sogar auf die Barrikaden... Aber kümmert man sich selbst um das, was Waldorfschule ist oder sein soll?

Inwieweit ist die Anthroposophie überhaupt in der Wahrnehmung der Eltern? Ist das so ein merkwürdiges Etwas, eine seltsame Lehre, eine Art Theorie und Weltanschauung, irgend so ein Überbau, den "die Waldorflehrer" da mit sich herumtragen? Das könnte das allgemeine, weit verbreitete "Bild" in Bezug auf die Anthroposophie sein. Wie sie mit der Waldorfpädagogik zusammenhängt, weiß man auch nicht genau. Allerdings kriegt man bei den Elternabenden mit, dass es viel mit der Methodik und dem Lehrplan zusammenhängen muss. Rhythmischer Teil, Erzählstoff, Formenzeichnen, Epochen, Eurythmie...

Wenn man während eines Elternabends einmal einen Text von Rudolf Steiner gelesen hat, hat man sogar einen ersten unmittelbaren Eindruck gewonnen – und vielleicht hat einen die Sprache abgeschreckt: kompliziert, verschachtelt, seltsam, umständlich, unverständlich. Diese ersten Eindrücke kann es geben. Aber es ist selbstverständlich, dass man auf diese Weise nicht über die Subjektivität hinauskommt. Wie könnte man ein Lebenswerk, das sich in über 360 Bänden niedergeschlagen hat, nach einem ersten Eindruck beurteilen?

Wenn man aber nur "von außen" von diesem Werk erfährt, bleibt es natürlich äußerlich – es bleibt etwas, was irgendjemand mal irgendwann gesagt hat, auch wenn es irgendwo mit der Waldorfschule zu tun hat.

Anthroposophie und das Wesen des Menschen

Es ist klar, dass man sich frei entscheiden können muss und auch soll, womit man sich tiefer auseinandersetzt. Hier will ich nur darauf aufmerksam machen, dass es nicht die Lehrer sind, die "die Anthroposophie" vermitteln wollen, um die Eltern zumindest ansatzweise zu "gewinnen" – sondern dass es letztlich Anthroposophie selbst ist, die verstanden werden will. Noch eine provokante Aussage!

Rudolf Steiner hat immer wieder, zu verschiedensten Gelegenheiten, betont, dass die Anthroposophie etwas ist, was zutiefst mit dem Wesen des Menschen zu tun hat – auch wenn sie tiefe Weltgeheimnisse beschreibt, auch wenn sie geistige Grundlagen einer neuen Landwirtschaft, Medizin usw. schildert. Wie sehr diese Anthroposophie mit dem Menschen zu tun hat, kann man gerade an der Waldorfpädagogik erleben.

Rudolf Steiner hat die Entwicklung des Kindes, des werdenden Menschen von verschiedensten Gesichtspunkten aus geschildert und aus dieser Erkenntnis heraus die vielfältigen Anregungen gegeben, die heute zunächst ganz äußerlich die "Methodik" und den "Lehrplan" ausmachen. Wie sehr diese Anregungen (selbst da, wo sie zunächst nur sehr äußerlich aufgegriffen werden) dem Wesen der Kinder in ihrer jeweiligen Altersstufe entgegenkommen, wird man in der pädagogischen Praxis immer wieder erfahren.

Und dennoch geht es natürlich nicht nur um die Anwendung einer einmal festgehaltenen Methodik, eines gewordenen "Lehrplans". Sondern worum es geht, ist, dass Anthroposophie im Lehrer nach und nach die lebendige Erziehungskunst weckt. Es geht darum, dass Anthroposophie im Lehrer selbst zum Leben wird. Dieses Ideal kommt in vielen wunderbaren Worten Rudolf Steiners zum Ausdruck:

Der ist nicht wirklicher Lehrer und Erzieher, der Pädagogik sich angeeignet hat als Wissenschaft von der Kindesbehandlung, sondern derjenige, in dem der Pädagoge erwacht ist durch Menschenerkenntnis.
Oktober 1919, GA 24, S. 90.

Die Betrachtungen, die eine geisteswissenschaftliche Pädagogik so anstellt, wie wir sie angestellt haben, gehen alle darauf aus, den Menschen intimer kennenzulernen. Aber wenn Sie dann über diese Dinge meditierend nachdenken, so können Sie gar nicht anders als bewirken, daß diese Dinge in Ihnen weiterwirken. ... [Der Erzieher] muß Menschenkunde aufnehmen, Menschenkunde verstehen durch Meditieren, an Menschenkunde sich erinnern: da wird das Erinnern reales Leben. ... Da kommt die Erinnerung quellend aus dem geistigen Leben, ... das schaffende, das schöpferische Sich-Erinnern, das zugleich ein Aufnehmen aus der geistigen Welt ist. ... Das heißt: aus dem Geiste heraus pädagogisch schaffen, pädagogische Kunst werden. Gesinnung muß das werden, Seelenverfassung muß das werden.
GA 302a, S. 51-53

[Der heute oft proklamierte Grundsatz, die Individualität des Kindes zu beachten,] erfordert, um in wahrer Praxis zur Geltung zu kommen, eine Seelen-Erkenntnis, die wirklich das Wesen des Menschen aufschließt. ... [Die heutige] Weltanschauung glaubt nur dann einen sicheren Boden unter den Füßen zu haben, wenn sie allgemeingültige Gesetze aufstellen kann. ... Aber die menschliche Seelenwesenheit widerstrebt der Erkenntnis, wenn man sie durch solche Gesetze fassen will. Nur die Natur ergibt sich diesen Gesetzen. Will man das Wesen der Seele durchschauen, so muß man das Gesetzmäßige mit künstlerischer Gestaltungskraft in der Erkenntnis durchdringen. Der Erkennende muß zum künstlerisch Schauenden werden, wenn er das Seelische erfassen will. ... [Erst wahrer Geist-Erkenntnis] kommt es zu, das Wesen des Seelischen aufzuschließen. Sie muß eine wirkliche Erziehungs- und Unterrichtskunst tragen. Denn sie führt zu einer Menschen-Erkenntnis, die so in sich bewegliche, lebendige Ideen hat, daß der Erzieher sie in die praktische Anschauung der einzelnen kindlichen Individualität umsetzen kann. Und erst wer dieses vermag, für den gewinnt die Forderung, nach der Kindes-Individualität zu erziehen und zu unterrichten, eine praktische Bedeutung. ...
Wer aber auf die für dieses Gebiet sachgemäße Beobachtungsart eingeht, der schärft sein Seelenauge für das Individuelle der Kindeswesenheit. Ihm wird das Kind nicht zum "einzelnen Fall", den er nach einem Allgemeinen beurteilt, sondern zum ganz individuellen Rätsel, das er zu lösen sucht. ... Eine Pädagogik, die praktisch anwenden will, was theoretisch von vielen als gute Grundsätze verfochten wird, muß gebaut sein auf eine wahre Geisteswissenschaft.
Februar 1920, GA 300c, S. 9f. Die pädagogische Zielsetzung der Waldorfschule


Die Beschäftigung mit der Geisteswissenschaft führt also dazu, dass sich das "Seelenauge" des Erziehers öffnet, dass der wahre Pädagoge im Menschen erwacht, dass man immer mehr in die Lage kommt, aus einem unmittelbaren Mitleben mit den Kindern, aus einer unmittelbaren Erkenntnis heraus das jeweils Richtige zu tun.

Ein wunderbares Ideal. Wenn man sich ohne Vorbehalte, ganz unbefangen auf das einlassen kann, was Rudolf Steiner hier ausspricht – und wenn man wirklich erkennt, was hier eigentlich ausgesprochen ist –, kann man nur begeistert sein.

Die Realität – ohne Anthroposophie

Aber wie sieht es in der Realität aus? Haben die Lehrer einer Waldorfschule dieses Ideal ansatzweise verwirklicht? Streben sie ihm überhaupt nach? Streben sie nach einer vertiefenden Beschäftigung mit der Anthroposophie?

Soweit ich es bisher an unserer Schule wahrnehme, muss ich leider sagen: Nein. Es gibt einzelne Kollegen, bei denen man erlebt, dass die Anthroposophie ihnen ein echtes inneres Anliegen ist. Aber als Stimmung im Kollegium ist es nicht zu erleben, ist vielmehr zu erleben: Es interessiert uns nicht wirklich. Eine Arbeit mit der Geisteswissenschaft findet also nicht statt – und die Frage ist, ob mehr als eine Handvoll von Kollegen aus innerstem Streben heraus zumindest für sich in dieser Weise arbeitet.

Ich bestreite nicht, dass das Kollegium durchaus mit gutem Willen versucht, die jeweils akuten pädagogischen und organisatorischen Fragen und Probleme des Schullebens zu bewältigen. Worum es mir hier geht, ist meine feste Überzeugung, dass man diese Fragen und Probleme niemals wirklich lösen können wird, wenn man das eigentliche Streben völlig vernachlässigt. Es bleibt dann immer beim Stückwerk, bei Überforderung, bei Konflikten, bei Folgeproblemen...

Dies beginnt schon bei der Frage, ob man eigentlich ein Kollegium ist. Es beginnt bei der Frage, wie man zur Pädagogischen Konferenz kommt, mit welchem inneren Interesse man sich daran beteiligt, ob man die wirklichen Fragen überhaupt wahrnimmt und wie entschlossen man sich um diese kümmert. Es beginnt auch bei einem Symptom wie dem, dass von knapp 30 Kollegen am Tag vor dem 1. Mai (langes Wochenende) nur 11 Kollegen zur Konferenz erschienen – die dann natürlich ebenfalls entsprechend frustriert waren.

Ein weiteres Phänomen, wie es um die Grundlage der Waldorfpädagogik bestellt ist, geht über unsere Schule hinaus. Derzeit wird ein "Leitbild der deutschen Waldorfschulen" formuliert, das im Herbst verabschiedet werden soll. Dort ist von der Anthroposophie und der damit verbundenen Erkenntnis des werdenden Menschen nur in einem kleinen Absatz die Rede. Einem Lehrer unseres Kollegiums fiel dies auf, und er sprach es an. Daraufhin berichtete Herr X, dass es leider durchaus in der Diskussion gewesen war, diesen Hinweis noch kürzer ausfallen zu lassen, denn die Vorwürfe der "Öffentlichkeit" richten sich ja immer wieder auf die Anthroposophie, der man Weltanschauungs-Charakter und Schlimmeres vorwirft.

Ein hochstehender Vertreter der deutschen Waldorfbewegung soll einmal gesagt haben, dass es eigentlich ein doppelter Widerspruch ist: Man müsste nach außen hin etwas verteidigen (die Anthroposophie), was im Inneren längst nicht mehr die Grundlage bildet...! Dieses Paradox ist leider weitgehende Wirklichkeit, und das ist die eigentliche Tragik.

Symptome

Mitte November 2008 war ich selbst auf einer Delegierten-Tagung des Bundes der Waldorfschulen gewesen. Das Thema dort war "Meditation und innere Arbeit des Lehrers". Von zwei Mitgliedern des Bundesvorstandes gab es engagierte, berührende Vorträge. Die übrige Tagung war für mich größtenteils sehr ernüchternd, denn es waren hier allenfalls Fragen und Ratlosigkeit zu spüren, nirgendwo konnte ich erleben, dass dieses Thema an den Waldorfschulen wirklich lebt. Und dabei muss man berücksichtigen, dass die Delegierten in der Regel ohnehin zu den engagierteren Kollegen einer Schule gehören...

Wenn an unserer Schule anthroposophische Texte im Kollegium behandelt werden (was zuletzt vor einem halben Jahr der Fall war, siehe Mittenmang 22, "Vom Urvertrauen in die Wahrheit"), beginnt das Problem schon bei der Frage, wer den Text vorbereitet und referiert. Die anderen Kollegen haben "keine Zeit", ihn zu lesen... Aber selbst wenn ein solcher Text gemeinsam während der Konferenz gelesen wird, ergibt sich danach das nächste Phänomen: Wenn das Gespräch darüber beginnen soll, breitet sich zunächst ein bleiernes Schweigen aus...

Irgendwann kommen aus diesem Schweigen heraus zwei, drei Beiträge, und vielleicht entspinnt sich schließlich sogar ein anregendes Gespräch, aber es geht dann meist um eigene Alltagserfahrungen, die oft nur noch sehr oberflächlich mit dem gelesenen Text zu tun haben, allenfalls mit dem spontanen ersten "Verständnis". Dies zeigt, wie wenig man von dieser Anthroposophie wirklich in sein Wesen aufgenommen hat und wie viel man daran eigentlich fortwährend arbeiten könnte, müsste... Und die Mehrzahl der Kollegen äußert sich bei solchen Gesprächen fast nie...

Schlimm ist eigentlich die ganze Stimmung: Die Aufgabe liegt in dem Verständnis des Textes, aber man empfindet sie als etwas Äußeres. Man hat nicht wirklich Lust, man entwickelt keine Begeisterung gegenüber dem, was da steht; in vielen Fällen fühlt man sich wahrscheinlich auch überfordert. Das alles aber sind Bedingungen, die Gift für jegliche Arbeit an und mit der Anthroposophie sind. Man kann sich mit Geisteswissenschaft nicht ohne Begeisterung beschäftigen. Alles andere wäre Dogma – und zwar weil man die Anthroposophie dann selbst zum Dogma macht, indem man sie "außen vor" lässt, sie nicht wirklich an sich heranlässt, sich nicht wirklich dem öffnet, was da steht.

Moralische Forderungen?

Nun können solche Feststellungen natürlich auch nicht dazu beitragen, dass diese Situation besser wird. Sie können höchstens entweder zu einem schlechten Gewissen oder zu einer völligen Abwehr dieser Feststellungen führen. Beides ändert zunächst nichts, macht die Dinge vielleicht sogar scheinbar schlimmer. Schlimmer wird es dadurch aber auch nicht, denn ein schlechtes Gewissen ist nicht immer das Schlechteste – und auch heftiger Widerspruch kann klärend sein.

Aber es gibt ja auch noch ein Drittes: Sinn dieser Ausführungen ist es, die Frage nach den Grundlagen der Waldorfpädagogik aufzuwerfen. Wenn sie dazu beitragen, diese Frage als eine berechtigte und wichtige zu erleben (vielleicht wieder einmal), ist schon etwas erreicht.

Das Tragische ist, dass ja die Eltern durchaus mehr oder weniger bewusst bzw. unbewusst erwarten, dass die Anthroposophie Grundlage der Waldorfschule ist – konkret gesagt: dass die Lehrer wirklich aus einem tiefen Verständnis des werdenden Menschen das Richtige tun und jeden einzelnen Schüler auf seinem Weg der Entfaltung seiner Fähigkeiten und Potentiale begleiten und unterstützen...

Es sind ja nicht irgendwelche Eltern, die sich mit der Waldorfschule verbinden – nur teilweise solche, die einfach nur "nicht Staatsschule" wollen. Viele wissen genau, was sie wollen, haben auch schon den Waldorfkindergarten gewählt und sich dort ebenfalls mit der Waldorfpädagogik beschäftigt... Und tatsächlich sagte Anfang Mai anlässlich der Besprechung des "Leitbildes" in der Konferenz ein Kollege: "Ich wundere mich überhaupt, dass Eltern uns nicht noch mehr an dem prüfen, was wir proklamieren."

Das Gemeinte zeigt sich z.B. schlagartig in einer Situation wie der folgenden: Zwei Vertreter des Ernährungskreises sind zu Gast in der Pädagogischen Konferenz, um zu erfahren, wie das Kollegium zu ihren ausgearbeiteten Vorschlägen zur Zukunft des Schülercafés steht. Diese zwei engagierten Eltern erwarteten (verständlicherweise), dass ein Kollegium von "Waldorflehrern" recht geschlossen hinter einer gesunden Ernährung auf der Basis von biodynamischer oder zumindest ökologischer Landwirtschaft steht. Was aber war die Realität? Die meisten Kollegen interessierten sich nicht nur nicht für die Fragen bezüglich des Schülercafés (das meilenweit von ihrem gefühlten pädagogischen Alltag entfernt liegt), sie hatten noch nicht einmal die Vorschläge zur Kenntnis genommen!

Es ist dabei recht unwichtig, ob "organisatorisches" Versagen der Konferenzleitung o.ä. dazu führte, dass die Kollegen vielleicht tatsächlich die Vorschläge nicht erhalten hatten – was dann eigentlich ein Affront gegenüber Kollegium und Ernährungskreis wäre –, entscheidend ist die ganze Stimmung, mit der diese Fragen aufgenommen oder eben nicht aufgenommen, sondern innerlich abgelehnt und mit Desinteresse bestraft werden. Noch vor irgendeiner inneren Einstellung in Bezug auf "Ernährung" oder was auch immer geht es um ein ganz grundlegendes Interesse und Begeisterung an sich.

In ähnlicher Weise tat es mir geradezu in der Seele weh zu erleben, wie die sehr engagierte "Leiterin" des Gartenkreises, Frau X., in die Konferenz kam, um ihre Ideen und Konzepte vorzustellen und vom Kollegium erbat, ihr mögliche Wünsche in Bezug auf die Gartengestaltung zuzutragen – und wie auch hier allenfalls ein kleinerer Teil des Kollegiums wirklich mit innerer Beteiligung zuhörte. Man fühlte es geradezu handgreiflich, wie hier freudiges Engagement auf eher müdes Desinteresse vieler Kollegen traf. Das darf doch einfach nicht sein! Wie ist so etwas möglich? Frau Y. rettete die Situation dann ein wenig, indem sie versprach, mit ihren Schülern im Kunstunterricht einige Vorschläge zu erarbeiten.

Um es nochmals zu betonen: Es geht mir nicht darum, moralisierend irgendwelche Forderungen zu erheben. Alle geschilderten Situationen sprechen für sich – mir geht es darum, sie auszusprechen und sie bewusst zu machen.

Man kann Anthroposophie nicht fordern – aber man kann versuchen, darauf hinzudeuten, worauf es ankäme, und betonen, dass andere "Lösungen" keine Lösungen bringen...

Die Begeisterung und zunächst überhaupt das Verständnis für die Anthroposophie und das, was mit dieser gegeben ist, das muss jeder in sich selbst entwickeln. Es geht dabei gar nicht um ein umfassendes Verständnis im Einzelnen oder gar um hoch entwickelte Fähigkeiten. Allein das Streben, das immer weiter tragende, lebendig bleibende Streben ist es, was zählt.

Die Anthroposophie aber wartet auf den Menschen – denn alles, was sie umfasst, geht unmittelbar den Menschen an, ist Menschenerkenntnis. Wer den Weg der Anthroposophie betritt, wird diese Erfahrung immer bestätigen können – wenn er ihn wirklich betritt, wenn die Anthroposophie nichts Äußerliches bleibt, sondern mehr und mehr etwas wird, was so innerlich zu einem gehört wie das eigene wahre Wesen. Anthroposophia ist, wörtlich übersetzt, die Weisheit des Menschen. Sie ist die Fortsetzung der Philosophie, der Liebe zur Weisheit...

Und die Eltern?

Aber schauen wir auch einmal auf uns, die Eltern. Es war im Vorhergehenden viel von Lehrern die Rede. Doch wenn Rudolf Steiner von dem "Erzieher" spricht, kann man sich als Vater oder als Mutter ebenso angesprochen fühlen. Wenn man ahnt, was für ein Schatz in der Waldorfpädagogik gegeben ist, um das Wunder des werdenden Menschen tiefer zu verstehen, dann kann es auch für einen selbst ein Ideal werden, das Wesen dieser Waldorfpädagogik zu erfassen.

Ich möchte am Ende auch folgenden Gedanken noch einmal aussprechen: Eine Waldorfschule braucht gerade heute Eltern, die sich mit der Waldorfpädagogik und ihrer Grundlage wirklich verbinden – nicht nur als Eltern mit der Schule, sondern als Eltern mit der Waldorfpädagogik und Anthroposophie selbst. Es geht darum, dass die Lehrer hier nicht allein stehen. Viele Lehrer verbinden sich mit der Anthroposophie gar nicht. Waldorfpädagogik ist aber ohne Anthroposophie nicht wirklich zu haben – es ist dann keine, nur der äußere Schein, nur die "gute Methodik", ein recht guter "Lehrplan".

Gäbe es mehr Eltern, die sich mit den Grundlagen der Waldorfpädagogik verbinden, wäre die Substanz einer Schule eine ganz andere – dann würde eine Schule viel mehr "strahlen", eine wirkliche Schulgemeinschaft werden.

Es ist durchaus wichtig, sich um Detailfragen zu kümmern – um den Mittagstisch, um "Stolzenhagen", um den Garten, um den Schallschutz und vieles andere. All das sind bewundernswerte Bemühungen, aber sie bilden nur den Untergrund für etwas, dessen wirkliche Grundlage vernachlässigt wird – sie kreisen um einen Kern, der hohl ist, wenn man nicht an der Substanz arbeitet...

Auf diese Weise entstehen Reibungsverluste. Probleme treten auf, für die man sich dann die Schuld hin- und herschiebt. Abgesehen von den Unzufriedenheiten und Vorwürfen, die auf diese Weise entstehen, begibt man sich auf "Lösungssuche", intensiviert viel Zeit in neue Strukturen, in Gespräche. Probleme werden durchlitten, "lösen" sich irgendwie, verlieren sich dann im Zeitenverlauf irgendwann in die weniger wichtige Vergangenheit, aber schon treten neue Probleme auf...

Man durchschaut bei alledem nicht die Ursache der Probleme. Und die Ursache besteht darin, dass man nicht an den Grundlagen arbeitet. Würde man dies wirklich ernsthaft und begeistert tun, würden die heute auftretenden Probleme überhaupt nicht auftreten – oder sie würden einen völlig anderen Verlauf nehmen und sich viel leichter lösen als heute. Manche Detailfrage würde sich selbstverständlich auch dann ergeben, aber man hätte mehr Phantasie, mehr innere und äußere Kraft und vor allem auch eine ganz andere Art, mit Fragen und Problemen umzugehen...

Das alles mag jetzt wie reine Behauptungen erscheinen, es kann auch nicht weiter bewiesen werden, und trotzdem ist es wahr. Man muss sich auf diese Wahrheit nur einlassen und wird es selbst finden können.

Anthroposophia wartet auf den Menschen – aber sie lässt frei...