03.06.2006

"Mit dem PC McDonald´s spielen"

Zur gegenwärtigen Diskussion um "Medienkompetenz" im Kindergarten

Veröffentlicht in der "Erziehungskunst", 9/2006.

Ab welchem Alter und in welchem Maße sollten Kinder Umgang mit dem Computer haben? Die Frage ist noch völlig unbeantwortet, da schaffen IBM und Politiker Tatsachen: Nicht Grundschulen, nein Kindergärten werden mit Compu­tern ausgerüstet. Der folgende Aufsatz wirft einen Blick auf Motive und Folgen. | PDF


IBM ist mit seinem "KidSmart"-Programm Vorreiter bei der Computerisierung des Kindergartens. Es begann 1998 in den USA und wurde seitdem auf rund 50 Länder ausgedehnt. In Deutschland ist Berlin seit kurzer Zeit Modellprojekt, allein hier haben jetzt rund 200 Kindergärten (10 Prozent) eine "KidSmart"-Computerstation.[1]

Auf der Webseite über "KidSmart" findet man Comics (!), die den Eltern "hilfreiche Ideen und Vorschläge" geben sollen. Da heißt es unter anderem: "Zu Hause sollte der Computer an einem zentralen Platz aufgestellt werden, an dem sich die Familie versammelt und die Eltern ein Auge auf ihre Kinder haben können."[2] – der Computer als Dreh- und Angelpunkt des Familiengeschehens! Die Signatur ahrimanischer Gedanken wird hier direkt erlebbar.

Eine weitere IBM-Webseite wirbt: "Pädagogisch wertvolle Edutainment Programme" helfen, "zentrale Kompetenzen wie Kommunikation und Kooperation, flexibles und problemlösungsorientiertes Denken, Entscheidungsfähigkeit und Kreativität fördern".[3] Der Computer als bessere Erzieherin? Geht es wirklich um das Kind?

Kaum. Im Abschlußbericht zur ersten europaweiten Evaluation von "KidSmart" (2001-2003)[4] verwies die damalige EU-Kommissarin für Bildung, Viviane Reding, in ihrem Vorwort auf den sogenannten "Beschluß von Lissabon". Im Jahr 2000 vereinbarten die EU-Regierungschefs das Ziel, die EU bis 2010 zur "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaft der Welt" zu machen.

Der IBM-Vorsitzende für die Region Europa/Nahost/Afrika, Hans Ulrich Maerki, fügte gewichtig hinzu:

"Die Regierungen in ganz Europa erkennen, dass "Wissen" und "wissensbasierte Fähigkeiten" ausschlaggebend für Wettbewerbsvorteile sind ... und haben nun auch begonnen, sich mit dem enormen Potenzial der Frühpädagogik zu befassen. ... Das KidSmart-Förderprogramm für Vorschulkinder wurde von IBM entwickelt, um einen Beitrag in zwei wichtigen Bereichen zu leisten: der Überwindung der "digitalen Kluft" beim Zugang zur Informationstechnologie ... und der Erhöhung der allgemeinen Leistungsfähigkeit von Kindern. ... KidSmart wurde entwickelt, um dem Bedarf nach besseren Lehr- und Lernmethoden ... gerecht zu werden und die Möglichkeit zu nutzen, bereits Vorschulkindern neue Formen der Kreativität, Kommunikation und Zusammenarbeit näher zu bringen. ...
Diese Studie des KidSmart-Programms zeigt, wie wichtig die Einführung der Informations- und Kommunikationstechnologie als  Instrument der Frühpädagogik ist, und empfiehlt ihren großflächigen Einsatz in Vorschuleinrichtungen. IBM engagiert sich sehr für den künftigen Erfolg von KidSmart und möchte damit einen Beitrag zum nachhaltigen wirtschaftlichen Wohlstand in Europa leisten."

Widersprüchliche Motive und suggerierter Nutzen

Schon diese Worte zeigen, daß das Thema "Früherziehung" wie kaum ein anderes von widersprüchlichen, ja konträren Motiven durchsetzt ist.

Geht es um "Frühförderung" aus volkswirtschaftlichem Interesse? Wie kommt es, daß ein multinationaler Konzern wie IBM sich um Wettbewerbsvorteile der EU kümmert, wenn nicht in der Früherziehung ein riesiger Markt zur Steigerung der eigenen Gewinne winken würde? Wie kommt es, daß Regierungen gerade nach PISA eine Multimedia-Früherziehung fordern, wenn nicht aus blindem Aktionismus?

Geht es um das Feigenblatt der "gleichen Chancen" in einer Welt, in der Wettbewerb bedeutet: "Wer setzt am meisten Arbeitslose frei"? Warum schon Kindergartenkindern Computer zumuten, wenn jedes zweite als Erwachsener gar keine oder nur eine prekäre oder unzumutbare Beschäftigung haben wird?[5]

Oder geht es gar wirklich um die Förderung der Kinder selbst, ihrer Selbständigkeit und Kreativität?

Nochmals: Kaum. Denn die Computerisierung der Kindergärten und Grundschulen wird vorangetrieben, ohne wirklich die Folgen zu kennen. Stattdessen werden nach ersten Studien geradezu unverschämt sogar die selbstverständlichsten Resultate gefeiert und zur Begründung der nächsten Schritte angeführt. IBM stellt in der o.g. Evaluation fest, daß die Kinder mit den "KidSmart"-Programmen schnell zurechtzukommen und die "Lernziele" erreichen. Unter den "Empfehlungen für die nationalen Entscheidungsträger" folgt dann, die flächendeckende Ausrüstung von Kindergärten zu fördern, "um die bekannten [!] Nutzen für die frühkindliche Entwicklung zu erzielen". – Daß die Folgen bekannt seien, ja sogar der "Nutzen" feststehe, wird also nur suggeriert!

Die "KidSmart"-Evaluation gab einige Zitate wieder, was die Kinder tun konnten oder taten: "Ostern am PC einen Osterhasen zeichnen oder auf der Tastatur Wörter zu Ostern schreiben." "Mit dem PC McDonald´s spielen" (wohl als Rollenspiel 'Kassierer-Kunde')...

Wie abgestumpft muß man seelisch sein, um diese armseligen Erlebnisse als "sinnvoll" einzustufen? Aber selbst "pädagogisch wertvolle Lernprogramme", mit denen die Kinder etwas über die Lebensweise von Tieren usw. lernen, verbinden die Kinder nicht wirklich mit dem Weltgeschehen. Die Sinneseindrücke bleiben zweidimensional und theoretisch, das Gelernte ist nicht erlebt. Gestärkt wird nur der analytische Blick, das manipulierende Tun.

In einer eigenen Evaluation für Liechtenstein[6] werden Gefahren und Chancen gegenübergestellt. Die Gefahren liegen auf der Hand: Verdrängung anderer Aktivitäten, Reizüberflutung, Vernachlässigung gewisser Sinne, negative Beeinflussung des ästhetischen Empfindens, Verlust der normalen Spiellust. Als Chancen werden genannt: natürlicher Umgang mit dem Computer, Sprachförderung, selbständiges Üben und Lernen auf individuellem Niveau, Lernmotivation, Experimentierfreude.

Dazu ist zu sagen: Den natürlichen Umgang mit dem Computer erobern sich Kinder in jeder Altersstufe. Wenn Erzieherinnen das Übrige ohne Computer nicht besser erreichen, ist es um den Kindergarten traurig bestellt...

Was können Kinder am Computer lernen, was eine Erzieherin und die wirkliche Umwelt nicht lebensnäher an die Kinder heranbringen könnte? Wenn man die Evaluation wirklich liest, sagen die Erzieherinnen dies am Ende auch jeweils: Der Computer ist nicht nötig. Und selbst die "Experten" haben entdeckt, daß ihre behaupteten "positiven Wirkungen" nur gesichert sind, wenn die Erzieherin jedes Kind am Computer jeweils begleitet!

Medienkompetenz durch Medienpädagogik?

Nach der PISA-Studie sah die OECD Anzeichen dafür, daß Computerverfügbarkeit und gute PISA-Ergebnisse miteinander zusammenhängen würden. Sicher hat auch dies die Tendenz zur "Frühförderung" verstärkt.

Später machten zwei Bildungsexperten aus München darauf aufmerksam, daß Computerverfügbarkeit im allgemeinen nur ein Symptom für insgesamt bessere Bedingungen ist, daß aber Schüler mit mehr als einem Computer im Haus sogar ein halbes Jahr hinter den Leistungen computerloser Mitschüler zurücklagen![7] Studien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (DE) zeigten, daß extensives Computerspielen und schlechte Schulleistungen eindeutig korrelieren.[8]

Die einzig sinnvolle Zielvorstellung von Medienpädagogik im Kindergarten könnte sein, daß "kompetente" Kinder diese Medien später vernünftiger benutzen. Diverse Wissenschaftler verweisen mit Recht darauf, daß Computer und Fernseher nun einmal zu unserer Lebenswelt gehören und viele Kinder zuhause schon in frühesten Jahren diesen Medien ausgesetzt sind. Möglicherweise hilft pädagogische Medienarbeit im Kindergarten diesen Kindern, sich besser distanzieren zu können.

Wer aber von solchen Überlegung ausgeht, müsste sich klar dazu bekennen, daß es nicht um Frühförderung geht, sondern um – Heil-Pädagogik!

In der erwähnten Evaluation aus Liechtenstein betonte eine Erzieherin, wie wenig die Kinder das "virtuell Gelernte" mit der Wirklichkeit in Verbindung bringen können, und fügte hinzu: "Die Kinder brauchen mehr denn je sinnliche Erfahrungen aller Art ..., die existentiellen, körperlichen, sinnlichen Eindrücke, die meiner Meinung nach unbedingt zuerst da sein sollten, bevor wir die Kinder zu sehr in die virtuelle Welt schicken."

Und genau dies ist einer der wesentlichsten Grundsätze der Waldorfpädagogik.

Unsere Welt leidet nicht an mangelnden Computer-Fähigkeiten, sondern daran, daß immer mehr Menschen ihren Bezug zur realen Welt verlieren. Daß Menschen an entschei­denden Stellen gar nicht mehr erkennen können oder wollen, was ihre Entscheidungen vom "grünen Tisch" in der Realität anrichten.

Kinder, die voll in der Realität stehen, mit Freude echte Ostereier bemalen, echte Hühner auf dem Bauernhof besuchen und die kühle Technik zunächst links liegen lassen dürfen, werden später nicht zu solchen Erwachsenen. Nur kommen leider in den meisten Kindergärten diese primären Sinneserfahrungen schon heute zu kurz. Allein schon weil der Personalschlüssel sich immer mehr verschlechtert hat – nun auch, weil den Erzieherinnen immer mehr vorgeschrieben wird, quasi schon Lehrerinnen zu sein und intellektuelle Inhalte an die Kinder heranzutragen.

Medienkompetenz ist erst dann möglich, wenn die Kinder mit allen Sinnen in der wirklichen Welt angekommen sind und das dauert Jahre. Pädagogen haben Kinder vor allem in dieser Aufgabe zu unterstützen. Der Rest der Aufgabe besteht noch bis ins Schulalter hinein in ... fundierter Elternarbeit und (auch gesellschaftlicher) Aufklärung.

Fußnoten


[1] Microsoft Deutschland startete im Herbst 2003 ein Projekt "Schlaumäuse - Kinder entdecken Sprache", an dem inzwischen rund 1.000 Kindergärten teilnehmen (www.schlaumaeuse.de).

[5] Der "Zugang für alle" entpuppt sich als Totschlagargument: Mit welchen Gründen auch immer man Computer im Kindergarten ablehnt – man kann als Bewahrer sozialer Ungleichheit hingestellt werden.

[8] www.game-face.de/article.php3?id_article=192. Ein allgemeineres Beispiel: Jungen spielen im Mittel täglich 90 Minuten mehr Computer als Mädchen und der Anteil der Jungen unter den Schulabbrechern stieg von 50 Prozent auf zwei Drittel. 2005 begann das Institut eine dreijährige Studie in Berlin, die zeigen soll, welche Art von Computernutzung welche Folgen für die schulischen Leistungen hat (www.kfn.de/medienundschule.shtml).