Qualität in der Waldorfpädagogik

Andreas Worel: Qualitätsfragen in gemeinnützigen Einrichtungen. Unpopuläre Betrachtungen zu einem „modernen“ Begriff. VFG, 2002 (212 S., 17€). O o, S. 47-76.

Was sind die besonderen Qualitäten von Waldorfschule

Neben den Besonderheiten einer bestimmten Schule ist es von zentraler Bedeutung für die Arbeit am Thema „Qualität an der Waldorfschule“, auf Motiv und Triebfeder sowie auf die Erziehungskunst der sich in einer Schulgemeinschaft zusammenfindenden Menschen zu blicken.

Jenseits aller individuellen Motive gibt es ein den Waldorfschul­impuls prägendes Grundmotiv: die Erziehung zur Freiheit. (...) Dieses Motiv bildet die erste Grundqualität von Waldorfschule und lebt im Hinblick auf die Einzigartigkeit jedes Menschen; ihr Ziel ist es, diese Einzigartigkeit zu entwickeln und ihn zu befähigen, sich in förderlichen Zusammenhang mit den anderen Men­schen und der Welt und ihrer Zukunftsentwicklung zu stellen.

Die Triebfeder jeder Waldorf‑Schulgemeinschaft ist der gemeinsame Erziehungsauftrag von Eltern und Lehrern. (...) Es ist ein spirituell‑sozialer Auftrag, dessen Wirksamkeit in der Intimität des Klassenzimmers ebenso lebt wie in der Kreativität und Lebendigkeit einer Schule und im sozialen Klima einer Schulgemeinschaft, die in gemeinsamem Ringen ihr Verhältnis zu ihrem Auftraggeber entwickelt und pflegt.

Wer aber ist der Auftraggeber einer konkreten Waldorfschule? Die Besinnung darauf führt zur Frage nach dem Wesen dieser Schule. Diese Frage methodisch‑grundsätzlich zu bearbeiten, erfordert eine eigene Untersuchung, die den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde. Ein Besinnen dieser Frage aber sei jedem Leser wärmstens empfohlen, denn die Antwort könnte von erheblicher Bedeutung für die Frage nach der Qualität einer Schule sein. (...)

Wie kommen diese Qualitäten zustande?

„Was fruchtbar ist, allein ist wahr“. Dieser Satz aus dem kostbaren „Vermächtnis“ Goethes bietet einen Prüfstein, an welchem eine Schulgemeinschaft die Qualität ihrer Arbeit und ihres Zusammenlebens hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit Motiv und Triebfeder „evaluieren“ kann.

Die Art, wie der gemeinsame Erziehungsauftrag von Eltern und Leh­rern ergriffen und Erziehung zur Freiheit gestaltet wird, prägt jede individuelle Schulgestalt. Motiv und Triebfeder sowie die Erziehungskunst der Schulgemeinschaft (mit ihrer antizipierenden Vorbereitung des Werdenden) sind die Säulen, an welchen sich nach Qualität suchende Blicke orientieren und aus welchen Beurteilungsgrundlagen für Qualitätsfragen abgeleitet werden können. Daneben gibt es ein je nach Schule variierendes Spektrum von Qualitäten, sichtbaren äußeren und weniger sichtbaren inneren Eigenschaften einer Schulgemeinschaft.

Die „technischen“ Aspekte unserer Frage sind mannigfaltig und von Schule zu Schule unterschiedlich. Wir wollen uns deshalb hier auf die inneren, also spirituellen oder geistigen Aspekte beschränken. Diese haben stets eine mehr intime, verborgene, „esoterische“, sich im Wahr­heitsringen der einzelnen Individualität entwickelnde Gewissens‑ und Gewissheitsseite sowie eine mehr „öffentliche“, offenbare, „exoterische“ Seite, die sich vor allem in der sozialen Kultur, also im alltäglichen Leben einer Schulgemeinschaft, zeigt. Soziale Kultur aber ist der Ausdruck von Liebe und Hingabe an eine Handlung um der Sache willen, ohne die Berechnung von Nutzen oder Zweck: „Für denjenigen Menschen, der sozial wirkt, kommen zwei Dinge in Betracht: Liebevolle Hingabe an die eigenen Handlungen und verständnisvolles Ein­gehen auf die Handlungen des anderen.“ (GA 306, S. 132).

Die esoterische Seite von Qualität in diesem Kontext findet in der Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen Menschen statt, in dem stufenweise bewusst ergriffenen Ringen von der Selbsterkenntnis über die Selbstentwicklung und Selbstüberwindung hin zur Selbstverwandlung. Sie findet ihre Umsetzung und Prüfung in dem Grade, in dem es gelingt, ein „Nicht ich, sondern der Andere mit mir“ kraftvoll zu gestalten. Jeder Angehörige der Schulgemeinschaft ist völlig frei, diese Persönlichkeitsentwicklung in Angriff zu nehmen ‑ die Qualität einer Schulgemeinschaft wird aber als eine dritte Grundqualität geprägt von der Realität dieser Selbstverwandlung der die Schule gestaltenden Verantwortungsträger. Aufgrund der besonderen Aufgabe der Lehrerschaft kommt allerdings die Qualität der Persönlichkeitsentwicklung der Lehrer unmittelbar in der exoterischen Seite der Qualität einer Schulgemeinschaft zum Ausdruck. Diese exoterische Seite findet sich im Umgang der Lehrer mit Schülern und Eltern, vor allem aber miteinander. Sie hat ihren esoterischen Ursprung und ihr Übungsfeld in Zusammensetzung, Stil und Inhalt der Lehrerkonferenzen, als dem zentralen Ort gemeinsamen Erkenntnisringens ‑ in welchem durch die stetige gemeinsame Arbeit an den Quellen der Erziehungskunst ‑ der „Allgemeinen Menschenkunde“, dem Methodisch‑Didaktischen und dem Lehrplan ‑ die einheitliche Gesinnung erarbeitet werden muss, welche die zur Selbstverwaltung erforderliche Fähigkeit erst ausbildet (...) Es geht (...) um die aus der stetigen Arbeit an der anthroposophischen Menschenkunde zu entwickelnde (Führungs‑)Kultur, welche diese vierte Grundqualität einer Schule hervorbringt.

Andererseits ist die Konferenz auch der Ort lebendiger und fruchtbarer Auseinandersetzung. Bei der Mannigfaltigkeit der Persönlichkeiten, die ein Kollegium bilden, birgt die Vielfalt und Verschiedenheit ihrer Ansichten zu vielen Fragen und Aufgaben häufig ein beachtliches Konfliktpotenzial. In der Fähigkeit eines Kollegiums, mit diesem Konfliktpotenzial schöpferisch zu arbeiten, es umzuwandeln in Kraft zur Zusammenarbeit sowie im Umgang der Lehrer miteinander und mit Schülern und Eltern zeigt sich die „soziale Kompetenz“ und damit eine fünfte wesentliche Grundqualität: die Konfliktfähigkeit.

Eine weitere Grundqualität einer Schulgemeinschaft ist die gestaltungsfähige künstlerische Begeisterung ihrer tragenden Mitglieder für die gemeinsame Aufgabe. Begeisterung ist die Urkraft sozialen Handelns. Sie wirkt Schule‑bildend, indem ihre Angehörigen ihre individuelle Begeisterung und die Verschiedenheit ihrer Ansichten miteinander in Einklang bringen zu gemeinsamem Handeln. Sie hat in der Waldorfschule ihre Quelle und ihr Korrektiv in der künstlerischen Durchdrin­gung und Gestaltung aller Bereiche. (...)

Hier wird unser Blick gelenkt auf eine weitere Grundqualität, die soziale Qualität der Waldorfschule: Es ist die therapeutisch‑heilende Wirksamkeit, die sich nicht nur auf pathologische Eventualitäten einzelner Schüler bezieht, sondern Schule in jedem Augenblick als Hygiene, als Prophylaxe und Therapie für die menschliche Gesellschaft versteht, im Zusammenwirken von Erziehungs‑ und Heilkunst. (...) Hier liegt auch der Quell stetiger Entwicklung und Erneuerung einer Schulgemeinschaft: die individualisierende menschenkundliche Forschung, die das Erkenntnisringen stets praktisch und konkret im Hinblick auf ihre heilsame Wirksamkeit im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang prägen muss und eine weitere Grund­qualität einer Schule bildet.

An vielen Waldorfschulen können Qualitätsdefizite beobachtet werden, die auf das Fehlen oder die unzureichende Einbindung eines Schularztes und der mit ihm zusammenarbeitenden Therapie‑Künstler sowie auf ein fehlendes oder schwaches Bewusstsein von der Bedeutung des gesellschaftlichen Heiler‑Auftrages der Schule zurückzuführen sind. Es äußert sich nicht nur in Symptomen wie Haltungsschäden, Bewegungs‑ und Verhaltensstörungen oder Drogenproblemen der Schüler, sondern auch in emotionalen Verwerfungen und sozialpathologischen Phänomenen wie Mobbing, Machtkämpfen und chronischen Erschöpfungszuständen der Lehrer sowie in fehlender Nüchternheit im Umgang mit Krisen, aber auch in Marginalisierung bis hin zur sozialen Isolation der Schule im gesellschaftlichen Umfeld. (...)

Qualitätsherstellung (Wer bringt wie welche Qualitäten einer Waldorfschule hervor?)

(...) Nachdem wir einige eher innere Aspekte von Qualitätsentstehung be­trachtet haben, blicken wir auf mehr äußere Aspekte. Qualität einer Schule im pädagogisch‑didaktischen Sinne kann entwickelt werden durch die systematische Förderung der Lehrer mit gegenseitigen Hospitationen. Sie ermöglichen die Reflexion und Nachbereitung des eige­nen Handelns und können die Entwicklung von Kreativität und Geistesgegenwart fördern, wenn sie nicht in hämische Kritik am „lieben“ Kollegen münden, sondern auf kontemplative Weise ein fruchtbares Gespräch eröffnen. Die Qualität einer Schulgemeinschaft im sozialen und kulturellen Sinne entwickelt sich in der Zusammenarbeit der Lehrer mit den Eltern. Sie beginnt im Bereich des gemeinsamen pädagogischen Arbeitsfeldes mit den Elternbesuchen und ‑gesprächen, erstreckt sich über die Elternabende und die gemeinsame Betreuung von Veranstaltungen, Aufführungen und Praktika bis zur künstlerischen Gestaltung der Jahresfeste und der gesamten Schulgestalt, vom Lebensrhythmus bis zum Gebäude. Ob dies eine Einbahnstraße ist oder sich als gegenseitig beflügelnder Austausch entwickelt, hängt vor allem von der menschenkundlich fundierten Weltoffenheit und der künstleri­schen Begeisterung der Lehrerschaft ab.

Im Bereich der Schulführung sowohl in erzieherischen als auch in administrativen und in ökonomisch‑finanziellen Belangen ist eine partnerschaftliche Zusammenarbeit von Lehrern und Eltern heute mehr denn je notwendig, ja existenziell. Das mancherorts heute noch wie eine Art Gralsersatz gehütete Dogma einer immer währenden Autonomie der Lehrerschaft lässt sich kaum durch einschlägige Zitate untermauern noch sachlich begründen. (...)

Jede Waldorfschule ist heute in ihrem kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Umfeld in vielfältige und komplexe Beziehungsgeflechte eingebunden, die erhebliche Anforderungen an die Führungs‑, Handlungs‑ und Sachkompetenz der die Schulführung verantwortenden Menschen stellen. Für viele dieser Anforderungen wie Personalführung, binnenrechtliche wie öffentlich‑rechtliche Fragen, Budget- und Finanzaufgaben, Umgang mit Konflikten, Problemen und Risiken (Drogen, HIV, Mobbing u.a.) sowie mit den Massenmedien sind Wal­dorflehrer durch ihre berufliche Ausbildung gar nicht oder kaum gerüstet, und auch das Studium der Werke Rudolf Steiners ersetzt diese Kompetenz nicht immer. (...)

Das partnerschaftliche Zusammenwirken von Eltern‑ und Lehrerschaft findet seine Fortsetzung in der gemeinsamen Arbeit an der Weiterentwicklung der Schule in spiritueller, konzeptioneller, politischer und räumlicher Hinsicht. Permanente Schulentwicklung aus innerem Ringen ist eine besondere Qualität von Waldorfschule, wenn sie ebenso wie der pädagogische Ansatz im Klassenzimmer mit Vergangenheits‑, Gegenwarts‑ und Zukunftsfähigkeiten rechnet ‑ jetzt aber nicht nur mit jenen der einzelnen Klasse oder des einzelnen Schülers, sondern jenen des gesamten Schulorganismus, der als einem lebendigen Wesen zugehörig erfahren werden kann.

Qualitätssicherung (Wie können Qualitäten beschrieben und gewährleistet werden?)

(...) Der Begründer der Waldorfschule schuf bereits im Laufe der ersten Jahre ein ganzes Spektrum von Einrichtungen, die nach heutigem Kenntnisstand als Elemente einer menschengemäßen Methode zur Qualitätsentwicklung, ‑prüfung und ‑sicherung im Sinne einer sich selbst entwickelnden, erkennenden und verwandelnden Menschengemeinschaft ‑ oder anders. eines sozialen Organismus ‑ aufgefasst werden können:

Die Epochenhefte: (...) Unbestechlich berichten die Epochenhefte ihrem Leser nicht nur über den Schüler, sondern vor allem über die Glaubwürdigkeit, Lebendigkeit und künstlerische Gestaltung des jeweiligen Epochenunterrichtes. (...)

Die Zeugnisse: Die von Anfang an für die Waldorfschule typischen, individuell beschreibenden Zeugnisse sollen den Schüler charakterisieren sowie Entwicklungschancen und ‑wege eröffnen. Zugleich sind diese Zeugnisse aber auch Qualitätsausweise für die Fähigkeit des jeweiligen Lehrers, seine Schüler mit liebevoller Objektivität zu sehen und zu schildern: Kann ich meine Schüler zutreffend beschreiben, dass sie sich verstanden fühlen, sich besser kennen lernen und sagen können: „Ja, das ist wahr!“ und so allmählich vorbereitet werden für die spezifisch menschliche Fähigkeit der Selbsterkenntnis? (...)

Die Eurythmie: (...) Man denke sich einmal die Eurythmie aus der Waldorfschule weg ‑ und man wird sehr bald gewahr, dass sie so etwas wie das Rückgrat der Waldorfschule ist. Die Waldorfschule bildet sich um die Eurythmie herum und muss ohne sie weitgehend unwirksam bleiben, gemessen am Grundmotiv der Waldorfschule, der Erziehung zur Freiheit: Waldorfschule will den Menschen zur Erdenreife geleiten, und das bedeutet: ihm im Spannungsfeld von Notwendigkeit und Freiheit die vom Ich geführte Orientierung und Bewegung in den Dimensionen der Raumeswelt zu ermöglichen. Von allen Künsten ist die Eurythmie die einzige, die den Menschen als individuelles geistiges Wesen über die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit in Denken, Fühlen und Wollen zum Entfalten seiner Bewegungsgestalt im Raum führt; sie schafft in der Seele des Schülers die Kraft, das in Haupt‑ und Fachunterricht Erfahrene in die Gestaltung der eigenen Persönlichkeit zu führen. (...)

Das aktive Verhältnis der Lehrerschaft zur Eurythmie ist dabei von zentraler Bedeutung (...) Genauso wie die Schüler in den Monatsfeiern aus ihrer Arbeit im Eurythmie-Unterricht berichten, gibt es wohl kaum etwas Anregenderes, Vorbildlicheres und Eindrucksvolleres für Schüler, als das Erlebnis von durch ihre Lehrerschaft gemeinsam erarbeiteten Eurythmiedarbietungen.  Der Einwand, dies sei weltfremde Utopie, muß allerdings von jedem kommen, der selbst noch nicht den Schwellencharakter der Eurythmie erfahren hat und glaubt, die Autorität der Lehrerschaft müsse sich eher auf gravitätische Bewegung gründen denn auf Selbst-Überwindung und Selbst-Verwandlung, durch innere und äußere Widerstände hindurch. Gerade dies aber sind die menschlichen Kern-Fähigkeiten, zu denen Waldorfschule hinführen will und die in der Eurythmie erübt werden können: Die Qualität einer Waldorfschule läßt sich an der Stellung der Eurythmie in ihr unmittelbar ablesen.

Kunst: (...) Als anregende Orientierungshilfe können folgende Sätze Rudolf Steiners hilfreich sein, die sich auf einem Notizblatt fanden:
„1. Die praktischen Fächer müssen unbedingt in den Schulunterricht nach der Geschlechtsreife eintreten. Der Mensch muss den Sinn des modernen technischen Zeitalters kennen lernen. In der Schule, nicht in der Fabrik. -
2. Dazu aber muss in der ästhetischen Erziehung der Gegenpol geschaffen werden. Die Eindrücke der Schönheit verbinden allein den Menschen mit seiner Kindheit und über diese mit der Ewigkeit. (...)
3. Es reißt der Zusammenhang mit dem Geiste, wenn er nicht durch die Schönheit erhalten wird. Die Schönheit verbindet das ICH“ mit dem Leibe.“ (...)

Die Kinderbesprechung: Im Zentrum der Waldorfpädagogik steht der sich entwickelnde individuelle Mensch. Mit der Kinderbesprechung als Kern der Konferenzarbeit gestaltete Rudolf Steiner das Herz der pädagogischen Arbeit. Alle Lehrer tragen gemeinsam mit dem Schularzt ihre Erfahrungen, Eindrücke und Charakteristiken eines bestimmten Schülers zusammen und gestalten miteinander ein Bild dieses werdenden Menschen, das umso zutreffender wird, je mehr es den Beteiligten gelingt, ihre eigene persönliche Färbung zurückzunehmen und fähig zu werden, in diesem Prozess ihre eigenen Bilder von diesem Schüler zu verwandeln. Eine in diesem Sinne fruchtbare Kinderbesprechung ist eine deutlich erlebbare Wirksamkeit im Entwicklungsgang des betreffenden Schülers, nicht nur durch die veränderte Art, in der die einzelnen Lehrer ihn wahrnehmen. So kann in der Kinderbesprechung die Qualität der spirituellen Durchdringung der pädagogischen Arbeit zum Ausdruck kommen. (...)

Hospitationen: Die gegenseitige Hospitation im Klassenzimmer ist ein zentrales Element der Erfassung, Entwicklung und Sicherung von pädagogischer und didaktischer Qualität. Sie wurde von Rudolf Steiner systematisch durchgeführt, indem er selber bei jeder Anwesenheit in Stuttgart viele Vormittage in den Klassen verbrachte und aus dem Wahrgenommenen die Lehrer direkt oder in der Konferenz beriet. (...) Auch hier ist liebevolle Objektivität Grundvoraussetzung für den fruchtbaren Einsatz dieses Qualitätsinstrumentes der gegenseitigen Förderung und Entwicklung.

Elternbesuche: Bereits in den ersten Jahren legte Rudolf Steiner dem Klassenlehrer ans Herz, einmal im Jahr (!) sämtliche Elternhäuser der ihm anvertrauten Schüler zu besuchen, um eine menschliche Beziehung zu den Eltern zu entwickeln und das jeweilige Umfeld des Schülers kennen zu lernen. (...)

Die Lehrerbildung: Mit dem ersten Lehrerkurs, „Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik“, vor Beginn der Waldorfschule 1919 tat Rudolf Steiner einen ersten Schritt zu einer neuartigen, am konkreten Menschen statt an theoretischen Konzepten orientierten, fortwährenden Lehrerbildung, zugleich Perspektiven aufzeigend für eine an Qualitäten orientierte Selbstverwandlung als zentralem Ele­ment permanenter Weiterbildung. Der gesamte Kanon der nachfolgenden Lehrerkurse und die zahlreichen Beiträge in den Konferenzen sind in dieser Hinsicht beispielhaft, werden aber noch immer zu wenig als eigentliche Qualitätsentwicklung und ‑sicherung wahrgenommen und gewürdigt. (...)

Der Entwurf zur plastisch‑musikalisch‑sprachlichen Menschenkunde entstand 1924 als Grundstruktur eines Curriculums für die von Rudolf Steiner als er­forderlich angesehene künstlerisch‑ästhetische Lehrerbildung. Zu dem vorgesehenen einführenden Kurs im Rahmen der Jugendsektion (und nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, in der von ihm selbst geleiteten Pädagogischen Sektion) ist es durch seine Erkrankung nicht mehr gekommen. Noch auf dem Krankenlager soll Rudolf Steiner bezüglich der Entwicklung der Waldorfschule und der Lehrerbildung davon gesprochen haben, man müsse das Ruder ganz nach dem Künstlerischen herumreißen. (...)

Für unser Thema ist dies (...) von erheblicher Brisanz, da die Fähigkeit der Lehrer, die Heranwachsenden als Ich‑Wesen ernst zu nehmen, zu fördern und über ihren eigenen Schatten hinauswachsen zu lassen, eng zusammenhängt mit der künstlerischen Qualität der Lehrerbildung ‑ dies gilt auch für Mathematik‑ und Physiklehrer! Damit erhält die ästhetische Lehrerbildung einen herausragenden Stellenwert in der Qualitätsbildung und ‑sicherung im Waldorfschulbereich ‑ auch wenn sie diese Stelle noch längst nicht eingenommen hat.