Die esoterische Grundsteinlegung der kollegialen Selbstverwaltung

Hartwig Schiller: Schulverwaltung im Zeitalter der Bewusstseinsseele. In: Hartwig Schiller (Hg.): Innere Aspekte der Konferenzgestaltung. VFG, 2001.


Bevor Rudolf Steiner mit dem Kurs für die werdenden Lehrer begann, vollzog er am 21.8.1919 mit jenen Lehrern eine „esoterische Grundsteinlegung der kollegialen Selbstverwaltung“, wie Hartwig Schiller es nennt. 

Ihr Inhalt geht in Kurzform aus einem undatierten Notizbuch Herbert Hahns hervor:

„Stellen Sie sich vor, wie hinter jedem Einzelnen von Ihnen sein Engel steht: Der Engel will Kraft geben.
Über Ihnen allen kreist, die Arbeitsfrüchte und Erfahrungen jedes Einzelnen zu jedem anderen tragend, ein Reigen von Erzengeln. Aus ihrem Kreisen und Tragen bilden die Erzengel eine Schale des Mutes.
Aus der Höhe senkt der gute Geist der Zeit, der einer der Archai ist, einen Tropfen Lichtes in die Schale: So schenken die Archai einen Tropfen Licht.
(GA 293, S. 218)

Aus diesen Aufzeichnungen wird deutlich, dass Rudolf Steiner von einer konkreten Verbindung der Lehrkräfte der Freien Waldorfschule mit den Wesenheiten der dritten Hierarchie sprach. Diese Verbindung wird als eine dreifache geschildert:
‑ Der einzelne Lehrer steht in einer individuellen Beziehung zu seinem Engel.
‑ Die einzelnen Kollegen in ihrer sich gegenseitig befruchtenden Anregung sind in ihrem Miteinander verbunden mit einem Reigen von Erzengeln.
‑ Die Gesamtheit oder Einheit des Kollegiums schließlich wird berührt von einer der erhabenen Wesenheiten aus der Region der Archai.
Schiller, S. 31


Nach jahrzehntelangem meditativem Umgang mit dem Erlebten schrieb Herbert Hahn 1967 folgende Darstellung nieder:

„Wir dürfen, indem wir uns aktiv der Pädagogik dieser fünften Kulturepoche zuwenden und als Lehrkräfte in ihr tätig sein wollen, im Bewusstsein tragen, dass die Wesen der dritten Hierarchie sich mit unserer Arbeit zu verbinden anschicken.
Hinter jedem einzelnen Mitglied des werdenden Lehrerkollegiums sehen wir den Engel stehen. Er legt beide Hände auf das Haupt des seiner Hut vertrauten Erdenmenschen. Und in dieser Haltung und mit dieser Gebärde lässt er Kraft hinüberströmen. Es ist die Kraft, welche das zu vollbringende Werk mit den nötigen Imaginationen begabt. Schöpferisch imaginierend, Imaginationen kraftvoll weckend, steht so hinter dem Einzelnen der Engel.
Erhebt sich der Blick, dann sieht er über den Häuptern der werdenden Lehrerschaft schwebend eine Schar von Erzengeln. Kreisend und im Kreise wiederkehrend tragen sie das, was als Ergebnis der Geistbegegnung des Einzelnen mit seinem Engel erwachsen will, zu jedem anderen hin. Und sie tragen es, durch die Kraft aller anderen bereichert, zum Einzelnen wieder zurück. – In diesem Kreisen, das wie eine geistige Bildnertätigkeit wirkt, bildet sich über den Häuptern der im gemeinsamen Streben Verbundenen – eine Schale. Und diese Schale hat eine ganz bestimmte Substanz: sie ist gebildet aus Mut. – Zugleich lassen die kreisend verbindenden Erzengel in ihre Bewegung, in ihr Bilden schöpferisch inspirative Kräfte einströmen. Sie eröffnen die Quelle für jene Inspirationen, die wir für unser Werk nötig haben.
Indem der Blick des Schauenden sich noch weiter erhebt, reicht er hinauf bis zu der Region der Archai. Sie stellen sich nicht als Gesamtheit dar. Aber aus ihrer Sphäre, der Sphäre des Lichtes, lassen sie einen Tropfen herunterfallen in die Schale des Mutes. Wir dürfen empfinden, dass dieser Lichtestropfen uns geschenkt wird von dem guten Geiste unserer Zeit, der hinter dem Gründer und hinter der Gründung dieser neuen Schule steht. Es sind schöpferische Intuitionskräfte, die in dieser Lichtesgabe wirken. Sie wollen in den jetzt an das junge pädagogische Werk Gehenden die notwendigen Intuitionen erwecken.
So nimmt – Kraft, Mut und Licht schenkend – die dritte Hierarchie an der sich jetzt vollziehenden Gründung teil. Imaginierend, inspirierend, intuitierend will sie sich verbinden mit unserem irdischen Tun.“
(GA 293, S. 218)

Realisierung der esoterischen Grundlagen

Schiller weist nun auf den Zusammenhang dieses dreifachen Geschehens mit dem „meditativen Erarbeiten der Menschenkunde“ hin:

Rudolf Steiner zeigt [...] einen dreifachen Schritt im Umgang mit der Menschenkunde, welcher dem Lehrer die notwendige Hilfe bringen kann. Er bezeichnet den ganzen Vorgang als geistiges Ernährungsproblem. Denn Einfälle entstehen nicht ohne bestimmte Voraussetzungen. Ihnen müssen Anstrengungen, Weltbegegnungen und verarbeitendes Bemühen vorausgehen. Und so, wie der Leib nicht ohne gesunde Originalnahrung gedeihen kann, so kann auch im Geistigen nichts durch pures Wiederkäuen von Nahrung aus zweiter oder dritter Hand gewonnen werden. Die Kernfrage besteht darin, wovon sich ein Lehrer geistig ernährt. Womit beschäftigt er sich? Wie bereitet er sich vor? [...]

Der Lehrer muss in eine Region menschlicher Wesenhaftigkeit hineinfinden, in der er schöpferische Erkenntniskräfte auf der Suche nach dem Rätsel Mensch entfaltet. Dabei hilft nicht das Verdauen von Vorgekautem, sondern nur das selbsttätige Kauen an Nährkraft bergenden Inhalten. Solche Inhalte sind die spirituelle Wirklichkeit enthaltenden Gegenstände einer „Allgemeinen Menschenkunde“ [...]
An der Oberfläche des Bewusstseins entsteht durch diese Tätigkeit ein Kennen und Zurechtfinden. Unter der Oberfläche geschieht in den Untergründen der Seele jedoch noch weitaus mehr. Die durch den Überblick geschaffene Sicherheit lebt in der Seele als Kraft. [...] Das Studium der Menschenkunde ist jedenfalls der erste von drei Schritten auf dem Weg, die für das Unterrichten notwendigen Quellen der Fantasie und Einfallsfähigkeit zu erschließen. [...]

Im zweiten Schritt möchte das durch Studium Erworbene im inneren Seelenraum erwärmt werden. Menschenkunde wird meditiert. Sie wird dabei nicht nur produktiv erarbeitet, sondern im beschaulichen Gedankenleben bewegt, besonnen und gewendet. Das Denken der Menschenkunde vertieft sich im erlebenden Durchfühlen ihrer Inhalte. Sie steigen in höhere Schichten des Bewusstseins auf und wirken dort fort. Rudolf Steiner stellt dazu einen Realvergleich mit der übrigen Verdauungstätigkeit an: Der aufgenommene Stoff wird seiner ursprünglichen Form entkleidet und verwandelt. Die Dinge bleiben nicht, wie sie sind. Ihre genaue Form und ihr erster gedanklicher Umriss lösen sich auf, werden fließend. Dadurch wird der Seele ein erlebendes Durchdringen des geistig Wesenhaften möglich. [...] Es bedarf des Mutes, sich dieser Welt des fließenden geistigen Lebens anzuvertrauen. [...]

Studium der Menschenkunde und Meditation ihrer Inhalte gehen also voraus und wirken durch die Nacht. Das nun Fällige nennt er „Menschenkunde erinnern“. Ihm haftet allerdings keinerlei Passivität an. Vielmehr ist „das schaffende, das schöpferische Sich‑Erinnern“ gemeint, „das zugleich ein Aufnehmen aus der geistigen Welt ist“. Durch Studium und Meditation hat sich die Seele vorbereitet, sie hat sich geweitet, beweglich und empfänglich gemacht. Daher kann sich der Lehrer jetzt im Erleben konkreter Situationen mit ihren Problemen offen machen für die Anregungen, die ihm aus der geistigen Welt zugänglich werden. Das Wesen des Menschen, mit dem er sich in seiner vorbereitenden Arbeit verbunden hat, antwortet ihm auf die konkreten Bedingungen seines Seins in den Inkarnationsbedingungen des irdischen Lebens in Raum und Zeit. Allgemeine Menschenkunde wird individuell. [...] Der dritte Schritt spielt sich in der Gliedmaßensphäre lichtvollen Tuns ab.

Schiller, S. 34-37.

Die dritte Hierarchie und die Konferenzarbeit

Das Denken der Engel umfasst jene Fähigkeit, die der Mensch sich erst durch einen mühsamen „Schulweg“, das Studium, erwerben muss. Erfolgreiches Studium führt zum Überblick über ein Sachgebiet, es vermittelt Sicherheit und Stärke. Es stehen dann nicht mehr die isolierten, unverbundenen Einzelheiten eines Zusammenhanges vor dem Bewusstsein. Die Einzelheiten verbinden sich vielmehr zu einem Gesamtbild, in dem alles miteinander verwoben ist. Ein solches Gesamtbild, das sich dem Betrachter als Panorama oder Tableau darbietet, wird in der qualitativen Überschau zur Imagination von der Sache.
Diese Stufe bezeichnet eigentlich den Zustand, bis zu dem in einem gewissen Umfang die Unterrichtsvorbereitung des Lehrers mit seinem Unterrichtsstoff stets gedeihen sollte. Sie bezeichnet zugleich die innere Anschauung von den Schülern, die im Lehrer Leben gewinnen kann. Mit ihr verbindet sich die Kraft‑Begabung durch den Engel.
Eigentümlicherweise fällt mit diesem Impuls alles vom Lehrer ab, was mit Schwere zusammenhängt. Der Stoff mit seiner unüberschaubaren Fülle lastet nicht mehr auf ihm. Er kann sich frei darin bewegen, in der Einzelheit das Ganze im Auge behalten, Etappen und Zugänge realistisch einschätzen. Die Begegnung mit den Schülern bleibt nicht länger furchteinflößende Überwältigung durch eine unüberschaubare Menge von verschiedenen Kindern. [...]

Nach absolviertem Studium treten die Beteiligten anders zusammen als ohne. Sie bringen etwas mit. Sie sind vorbereitet. [...] Auf diese Weise trägt der Einzelne Kraft in die Versammlungen hinein. [...] Dadurch werden echte Anstöße für ein Konferenzgespräch gegeben. Es wird real substantiiert. [...] Auf dieser Grundlage kann sich erst die nächsthöhere Wirklichkeit spiritualisierter Zusammenarbeit ergeben. Diese Ebene wird als kreisendes Tragen dessen bezeichnet, was als Ergebnis der Geistbegegnung des Einzelnen mit seinem Engel erwachsen will. Es ist die Tätigkeit einer Schar von Erzengeln. Sie tragen von einem zum anderen, was er zu geben hat. Sie tragen es aber auch durch die Kraft aller anderen bereichert zum Einzelnen wieder zurück. [...]
In Rudolf Steiners Darstellung verbinden sie die Kraftwirkung der Einzelnen zu einem Gemeinsamen, einer Schale aus Mut. Damit wird deutlich, dass es sich um ein ideales Wirken hin zum Positiven handelt. Warum aber ist die Substanz dieser Schale Mut? Manches andere schiene da vielleicht auch möglich zu sein. Warum Mut? [...]
Ein Gespräch, in dem die Iche der Menschen gegenseitig wahrnehmbar werden, ist für die geistige Beobachtung ein wirkliches Kampfgeschehen. Und das erfordert Mut, im sprechenden Sich-Äußern ebenso wie im sich hingebenden Zuhören. Die esoterische Handlung Rudolf Steiners schildert diesen Vorgang als ein gewolltes und ins Ideale gesteigertes Geschehen. Die Iche der beteiligten Menschen wollen zusammenarbeiten, und sie tun das beitragend ‑ aufnehmend, aufnehmend ‑ beitragend. Durch diese Haltung erst bildet sich ein Kollegium, das sich inspirierend und Inspirationen empfan­gend zusammenschließt. [...]
Die ausgeatmete Idee des Beitragenden wird vom Zuhörenden eingeatmet und, bereichert durch die eigene Kraft, wiederum in den Kreis hineingeströmt. Erzengel stiften dabei die geistige Bildnertätigkeit, die aus den Einzelheiten ein tragendes Ganzes macht. In diesem geistigen Atmungsprozess vollzieht sich das gemeinsame Inspirationsgeschehen, ohne das eine Zusammenarbeit von Menschen unbefriedigend und unfruchtbar bleiben muss. [...]

Entscheidend für die Bildung einer Gemeinschaft ist, ob sie sich als Selbstzweck genügt oder zum Instrument einer höheren Aufgabe macht. [...] Das Menschenkundestudium ist die Grundlage, in die Welt der Ideale einer Waldorfschule einzudringen. Da liegt bereits das zur Gemeinschaftsbildung hinführende Selbstlose vor. Aus dieser Quelle bezieht es seine Kraft. Denn ein solcher pädagogischer Ansatz will nichts für die Ausübenden selber. [...]
Die entscheidende Ausrichtung der Zusammenarbeit geschieht in der Waldorfschule also von Anfang an. Sie orientiert sich am Wesen des Menschen und reicht sich die Arbeitsfrüchte gegenseitig zu. Dadurch geschieht eine Schalenbildung. Diese Schale ist als Gefäß eine Art selbstlos gebildetes Werkzeug. Mehr kann eine Gemeinschaft nicht tun. Was ihr dann im weiteren zukommt, ereignet sich gnadenhaft, auch wenn sich Vertrauen und Gewissheit im Verhältnis zum Archai einstellt. In eine geeignete Schale wird der gute Geist der Zeit einen Tropfen seiner Lichtsubstanz hineinströmen lassen.
Diese Substanz gibt Auskunft über seine Wirksamkeit. Es ist Licht. Mit dem Erhalt dieser Gabe wird den Beteiligten der Umkreis ihrer Tätigkeit klar. Sie werden sehend, das heißt, sie können Richtungen ihres Tuns erkennen und Folgen abschätzen. Ohne die Gabe des Archai bliebe eine Gemeinschaft blind. [...] Die in alten Zeiten immer vorhandenen Konsensbildungen darüber, wie Erziehung zu geschehen habe und auf welchen Sinn des Lebens sie vorbereite, gelten heute nicht mehr. Falsche Zwänge oder eine zu lässiger Willkür verkommene Pluralität drohen ihren Platz einzunehmen. Wir brauchen die Gabe des Archai unserer Epoche, weil wir sonst die uns gestellten pädagogischen Aufgaben nicht erfüllen könnten. [...] So wie der Einzelne auf dieser Stufe zu den nötigen Unterrichtseinfällen als ein souveränes Menschenkunde‑Erinnern kommt, so findet ein Kollegium zu den notwendigen Perspektiven und Entscheidungen der Schulgeschicke. Es findet die Aufgaben der Schule. Am Abend der Vorbereitung des Kurses sprach Rudolf Steiner zuletzt aus: „Nur aus dem können wir schöpfen, was heute gewonnen werden kann, wenn Interesse zugewendet wird: erstens der großen Not der Zeit, zweitens den großen Aufgaben der Zeit, die man sich beide nicht groß genug vorstellen kann.“ [...] Der regierende Zeitgeist wartet auf die Initiative des Menschen. Aus dem Ernst der Zeit müssen die rechten Intuitionen geboren werden.

Schiller, S. 39-47