Eltern und Lehrer - ihr Zusammenwirken in der Waldorfschule

Manfred Leist: Eltern und Lehrer. Ihr Zusammenwirken in den sozialen Prozessen der Waldorfschule. VFG, 1986/1988/2 (137 S., vg.). o

Auch nach über 20 Jahren bietet dieses Buch von Manfred Leist viele wichtige Anregungen für die Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern. Im Folgenden sind einige wichtige Zitate zusammengestellt.


Wird erzieherischer Prozeß als typischer Vorgang eines freien Geisteslebens (im Sinne der sozialen Dreigliederung) verstanden, so ist deutlich, daß es dabei auf die Betätigung der schöpferischen Fähigkeiten des Erziehenden wesentlich ankommt, da nur so das „Gegenstück“ ‑ die Entfaltung der Begabungen des Kindes ‑ sich einstellen kann. Mit Recht bezeichnet sich die Waldorfpädagogik als „Erziehungskunst“, sie bemüht sich jedenfalls darum, wirklich originär künstlerischer Prozeß zu sein. Bejahen nun die Eltern den Lehrer in dieser freien Entfaltung seiner indivi­duell‑schaffenden Kräfte, so ist unmittelbar deutlich, daß es einen Eingriff in die pädagogische Betätigung in der Schulstube von außen nicht geben kann. Ein Künstler, dem man einen Auftrag erteilt, kann sein Bestes auch nur dann geben, wenn er ihn ‑ gewiß im Rahmen des erteilten Auftrags ‑ nach seinen eigenen Intentio­nen ausführt; d.h. er bedarf wesentlich des Vertrauens.

So einleuchtend und von der Sache her überzeugend die entscheidende Bedeutung des Vertrauens für das Geschehen Schule auch ist, es kann niemals befriedigen, wollte man diese gewiß ganz unerläßliche Basis als erschöpfende Beschreibung der Beziehung zwischen Eltern und Lehrern verstehen. (...) (S. 32f)

Es braucht nicht befürchtet zu werden, daß ein Kollegium für seine ernsthaft begründeten Wünsche und Vorschläge keine volle Resonanz in der Elternschaft finden würde, wenn nur das anste­hende Problem rechtzeitig in eine offene Beratung hineingenommen wird. Es ist ohnehin eine allgemeine soziale Erfahrung, daß der weit überwiegende Teil aller im Gemeinschaftsleben auftreten­den Schwierigkeiten darauf beruht, daß nicht rechtzeitig und nicht offen genug informiert wurde und daß man den Mitbetroffenen nicht genug Gelegenheit gegeben hat, sich mit dem betreffenden Fragenkomplex  auseinanderzusetzen. Hieraus ergeben sich nun in der Tat für eine Schulgemeinschaft ernste Forderungen nach lang­fristiger und gemeinsamer Planung. (...) (S. 39) 

Aber auch darüber hinaus wäre es ein gravierendes Mißverstehen, wollte man die Eltern allein auf die Themenkreise Finanzordnung, Organisation und Durchführung der Sommerfeste und Basare, vielleicht noch rechtliche Verhandlungen mit dem Staat usw. verweisen. (...)

Die Waldorfschule wird geistig aus zwei Quellen gespeist; man kann auch sagen, sie hat zwei Motive für ihre Entstehung. Sie ist einmal der Ansatz zu einer Erneuerung der Pädagogik aus einem spiri­tuellen Menschenbild heraus (Berufsaufgabe des Lehrers und ent­sprechender „Auftrag“ der Eltern). Sie ist aber zugleich auch ein Sozial‑Modell, eine Institution des (anzustrebenden) freien Gei­steslebens. Die Waldorfschule entstand ja 1919 innerhalb der Drei­gliederungsbewegung nach dem ersten Weltkrieg. Nach dem Scheitern dieses von Rudolf Steiner impulsierten, groß angelegten Versuchs einer allgemeinen sozialen Erneuerung blieb die Wal­dorfschule bestehen als (...) ein Keim, aus dem heraus soziale Erneuerungskräfte wieder her­vorgehen können. Die Schule mit ihren Formen der Zusammenar­beit verschiedener Menschengruppen, mit ihrer Selbstverwaltung ist seit 1919 eine voll funktionsfähige Organisationsform im Gei­stesleben, aus der der Impuls zur Realisierung der sozialen Drei­gliederung immer neu entstehen will.

Wenn dieser Zusammenhang als Auftrag voll erkannt wird, so ist es Sache der Elternschaft, ihre Rolle in diesem Spiel der Kräfte zu ergreifen. Ihre besondere geistige Aufgabe ist nicht die, in der pädagogischen Praxis der Schule über Gebühr mitzuwirken; es geht vielmehr darum, ein Verständnis für die Ideen und die Wirk­lichkeit der Dreigliederung des sozialen Organismus zu gewinnen. Es wird dann deutlich werden, daß die Waldorfschule letzten Endes für ihre fruchtbare Entwicklung einer ständig fortschreiten­den Umwandlung der gegenwärtigen sozialen Verhältnisse bedarf. Die Freiheit im geistigen Raum muß ausgeweitet werden, von hier aus müssen formende Impulse in die politischen Zusammenhänge und in das Wirtschaftsleben übergehen. Wollen die Eltern also ihrer Rolle im Rahmen der Waldorfschule, der sie doch für ihre Kinder Entscheidendes zu verdanken haben, wirklich gerecht wer­den, so müssen sie diesen bildungspolitischen Aspekt als ihre spezielle Aufgabe erkennen und ergreifen. (S. 43f) 

Der Elternbeirat

Was ist in allgemeinster Beschreibung der äußere Vorgang, der dem Elternbeirat zugrunde liegt? Je ein, zwei oder drei Vertreter aus jeder Klasse kommen in möglichst regelmäßigem Turnus mit dem Kollegium oder einigen Lehrern zusammen, um sich zu be­sprechen und zu beraten: Elternbeirat. Worüber wird beraten? Von der Idee eines Gesprächs zwischen freien Individuen ausge­hend, kann gesagt werden, daß über alles miteinander gesprochen werden kann (...)

Im Folgenden seien nur Beispiele aus der großen Fülle möglicher Themen genannt: Art und Aufbau des Lehrplanes; schulorganisa­torische Fragen, wie z.B. der morgendliche Schulbeginn und der Nachmittagsunterricht; Klassenfahrten etwa in bezug auf Alter der Kinder und Entfernung vom Heimatort; die Planung für den Aufbau der Oberstufe, das Abitur und andere Abschlüsse; ferner gehört auch dazu die Entgegennahme und Erörterung von Klagen und Sorgen von Eltern im Hinblick auf den Unterricht und ein­zelne Lehrer; desgleichen die Sorgen und Enttäuschungen der Lehrer über die Haltung einzelner Eltern; wobei zu diesen Sorge­punkten zu sagen ist, daß die zahlenmäßige Größe des Kreises eine offene Erörterung hierüber schwermacht. Dafür wäre besser ein kleinerer Ausschuß vom Elternrat zu bilden, in dem man ‑ glei­chermaßen schützend wie geschützt ‑ vorbringen kann, was die Gemüter bewegt. Und natürlich gehört wesentlich in den Kreis des zu Erörternden die Grundlage der Schule: die Menschenkunde Rudolf Steiners und die sich aus ihr ergebende pädagogische Me­thodik. (...)

Wichtig als Tagesordnungspunkte des Elternbeirats sind regel­mäßige und möglichst farbige Berichte aus der Arbeit des Kolle­giums und des Schulvereinsvorstandes. Nur bei einer breiten In­formation über die bewegenden Fragen der Schule kann der El­ternbeirat sich durch konkrete Gedankenäußerungen und bera­tend konstruktiv beteiligen. (S. 48f) 

Wenn aber ein wirkliches „Miteinander‑leben“ entsteht, so werden die Lehrer dankbar sein, durch die Elternvertreter im Beirat eine Antwort auf ihre Bemühungen zu erfahren; hierzu gehört die volle Bereitschaft, auch Kritik positiv entgegenzunehmen. Das gilt selbstverständlich genauso für die erforderliche Bereitschaft der Eltern, kritische Gesichtspunkte durch die Lehrer zu empfangen. Wenn gelegentlich von Lehrerseite ‑ und oft mit vollem Recht! ‑ darüber geklagt wird, daß Eltern ihre Auffassungen oder ihre vorhandene Kritik (etwa auf einem Klassenelternabend) nicht of­fen ausgesprochen, sondern erst beim Fortgehen sozusagen „auf der Treppe“ zu anderen Eltern geäußert hätten, so darf dem die Frage entgegengehalten werden, und in nicht ganz seltenen Fällen mit dem gleichen Recht: haben der oder die betreffenden Lehrer ein Begegnungsklima, eine offene Gesprächssituation wirklich überzeugend hergestellt? Konnten die Eltern darauf vertrauen, mit etwaiger Kritik und mit ihren Sorgen offen und ganz sachlich aufgenommen zu werden?

Das alles gilt in gesteigertem Maße für die gegenseitige Bemühung, die den Elternbeirat trägt. Dann wird in ihm vieles ausge­sprochen werden können, was seiner Natur nach einen engeren, vertrauensvollen Rahmen sucht. So kann der Elternbeirat, seinem Namen entsprechend, dazu da sein, daß Eltern ihren Rat der Schule helfend zur Verfügung stellen; er kann zu einem idealen Feld der Begegnung von Lehrern und Eltern werden; er kann sich den seine Bedeutung noch tiefer charakterisierenden Namen eines Elternvertrauenskreises verdienen. Oder noch besser: er kann zur Eltern‑Lehrer‑Konferenz werden, an der vielleicht nicht das ganze Kollegium, aber doch im Vier‑ oder Sechs‑Wochen‑Rhythmus eine größere Anzahl von Lehrern regelmäßig teilnimmt. Sehr viele Schulen praktizieren das so und haben ja auch eine Öffnung dieses Gremiums derart, daß alle interessierten Eltern, wenn sie sich zur regelmäßigen Teilnahme verpflichten, mitarbeiten können. (...) (S. 51f) 

Von Zeit zu Zeit taucht auch einmal der Wunsch bei Eltern auf, ihre Sorgen allein unter sich, ohne die Anwesenheit von Lehrern, zu erörtern. Grundsätzlich kann man dazu vom Standpunkt der Freiheit nur sagen, daß dem nichts im Wege steht. Unter dem Aspekt dessen, was die Schule als sozialer Organismus seiner Aufgabe nach ist, muß aber Erläuterndes hinzugefügt werden. (...)

Die Tätigkeit der El­tern im Rahmen des Schulzusammenhanges bedingt gerade weit­gehend ein unmittelbares Zusammenwirken mit den Lehrern, um ein sinnvolles Miteinander entstehen zu lassen. Kommen aber die Eltern gezielt zusammen, um (wie auch immer) über die Schule zu sprechen, so entsteht zu leicht das Moment einer quasi gewerk­schaftlichen Verfaßtheit: Interessengruppe steht gegen Interessen­gruppe.

Es ist gewiß zuzugeben, daß eine entsprechende Neigung von Eltern, sich ohne Lehrer treffen zu wollen, zumeist dann sich einstellt, wenn das Lehrerkollegium es nicht ausreichend verstan­den hat, eine wirkliche Transparenz seines Handelns und eine herzlich‑offene Zusammenarbeit mit der Elternschaft herzustel­len; wenn also das Kollegium seinerseits sich zu sehr als eine in sich geschlossene Gruppe darstellt mit einer oft zwar schwer nach­weisbaren, aber doch leise vorhandenen sich distanzierenden Ge­ste gegenüber der Elternschaft. (...)

Man wird also immer ein entsprechendes Freiheitsrecht der Eltern prinzipiell zu bejahen haben. Andererseits aber wird man von allen in der Schule verantwortlich Mitarbeitenden die intensive Bemühung erwarten und erhoffen, daß im Zusammenle­ben zwischen Lehrerkollegium und Elternschaft Verhältnisse sich entwickeln, die den Wunsch von Eltern, im hier gekennzeichneten Sinne ohne Lehrer zusammenzukommen, nicht als prinzipielle Forderung entstehen lassen. (S. 53f) 

Zusammenfassend kann man sagen: Von einem gewissen Gesichts­punkt aus betrachtet, kann der Elternbeirat zu einem Mittler­-Organ für das ganze Schulleben werden. Als ein Bindeglied, ein Ort des Austausches zwischen Eltern und Lehrern steht er neben Kollegium und Vorstand; nicht so sehr Handlungsorgan wie diese, mehr ein Bereich des fühlenden Wahrnehmens, des abwägenden Begleitens: ein Stück „Schulgewissen“. Lehrer wie Eltern können durch diese Zusammenarbeit zu einem vertieften Verstehen und einem entschiedeneren Handeln im Sinne des Erziehungsauftrages der Freien Waldorfschule impulsiert werden. (S. 55) 

Schule und Schulverein

Aber es wäre doch ein gröbli­ches Mißverständnis, wenn man nun weiter folgern wollte: also Lehrer = Geistesleben der Schule, Eltern = Rechtsleben usw. ... jeder Versuch einer solchen Einteilung, der einem vielleicht in einer denkschwachen Stunde im Ansatz unterlaufen mag, würde ganz aus der Lebenswirklichkeit herausführen. Denn selbstver­ständlich gehört zum Geistesleben der Schule nicht nur das Wir­ken der Lehrer, sondern ebenso die Beratungen des Elternbeirates und des Schulvereinsvorstandes. Jedes Eltern‑Lehrer‑Gespräch über pädagogische Fragen ist Geistesleben, vor allem auch die gemeinsamen ideellen Bemühungen um die sozialen Grundfragen (Ideen zur Dreigliederung des sozialen Organismus) und über die Stellung der Waldorfschule in der heutigen Zeit. So ist es klar, daß auch die Eltern entschiedene Teilhaber am Geistesleben der Schule sind. (...) (S. 62) 

Auch am Wirtschaftsleben der Schule haben selbstverständlich alle Beteiligten intensivsten Anteil. Die „Dienstleistung“ als solche und alles, was mit ihrer Ermöglichung in finanzieller Hinsicht zusammenhängt, ist Wirtschaftsleben. Wo etwa Lehrer mehr oder minder gedankenlos eine monatliche Vergütung entgegennehmen würden (vielleicht mit dem Gefühl, einen klaren Arbeitnehmeranspruch auf ein bestimmtes Gehalt mit regelmäßig zu erfolgenden Erhöhungsraten zu haben) und sich also um die wirtschaftlichen Bedingungen der Schule wenig kümmern und dieses Metier hierfür zuständigen Elternvertretern oder einem tüchtigen Geschäftsfüh­rer überlassen würden, da wäre das Wesen einer solchen Schule gespalten; es wäre ein sozialer Krankheitsprozeß zu verzeichnen. Mit einer solchen konjunktivischen Bemerkung soll nicht unterstellt werden, daß es irgendwo tatsächlich so sei; eine leise Ge­neigtheit, aus dem Trägheitsprinzip heraus so zu leben, steckt aber doch wohl in fast jedem Menschen. Das muß im stets erneuerten gemeinsamen Bemühen überwunden werden. (...) (S. 63) 

Das offenbare Geheimnis ist eben dieses, daß ein sozialer Organismus nur dann richtig funktionieren kann, wenn die verantwortlichen Handlungen in den verschiedenen Bereichen sinnvoll auf­einander bezogen werden. Das ist in der Waldorfschulgemein­schaft eigentlich immer auch der Fall, wenn nur eben gründliche und vertrauensvolle Beratung und vor allem rechtzeitige Informa­tion als Vorbereitung entsprechender Entschlüsse erfolgt. Lehrer, die ihre eigene Aufgabe und das Gesamtwesen Schule richtig ver­stehen, wollen letztlich niemals Eltern bevormunden. (...) So haben Eltern auch nur in seltenen Ausnahmefällen (also nicht häufiger als Lehrer oder alle anderen Menschen) ein sachfremdes Machtstreben, sie wollen die Lehrer nicht majorisie­ren. Aber sie haben ein feines Gespür dafür, ob sie sich wirklich voll als Gesprächspartner in eine Gemeinschaft einbezogen sehen können. (S. 67f) 

Es sei aber betont, daß es als ein lohnendes Ziel aufgefaßt werden kann ‑ ganz im Sinne der Realisierung von Gedanken und Impulsen zur sozialen Dreigliederung ‑, das bisher formell noch bestehende Anstellungsverhältnis des Lehrers an einer Waldorfschule in den Status eines in Selbständigkeit Tätigen umzuwan­deln. (...) Unter den Vorgaben der üblichen Verträge werden weder die pädagogische Freiheit noch der Selbstverwaltungsgedanke abgebildet. Ein Übereinstimmen von Leben und Rechtsform wäre aber für die pädagogische und soziale Glaubwürdigkeit der Waldorfschulen von Bedeutung. Da­durch würde auch in der politischen Diskussion die Eigenständig­keit dieser Schulen dokumentiert, und nach innen würden Sinn und Verbindlichkeit von Rechtsregeln bewußt gemacht. (S. 70) 

Die Verfassung der Schule und die Kunst, rechtens miteinander umzugehen

Es wird immer schwer, ja im Grunde unmöglich bleiben, eine Verfassung für eine Schulgemeinschaft soweit auszuformen, daß sie allen auftretenden Problemen wirklich gerecht werden kann. Die gewiß zutreffende Erfahrung aber, daß auch die vollkommen­ste Verfassung nicht vor Machtmißbrauch ‑ der etwa im Gewande einer falschen oder „halb‑echten“ Autorität sich verbirgt ‑ schüt­zen kann, darf niemals dazu führen, daß man als Ausweg Struk­turlosigkeit wählt; womöglich noch unter dem Motto, alles müsse der freien Initiative anheimgegeben bleiben, wenn man wahrhaft schöpferisch sein wolle. Denn das wäre auf Dauer gesehen der sicherste Weg, gerade das Gegenteil des Angestrebten zu errei­chen: Schwer identifizierbare Einzel‑ oder Gruppentendenzen würden das Feld autoritär beherrschen.

Die rechtliche Ordnung mit demokratisch bestimmten Formen muß angesichts der Unvollkommenheit der Menschen vorhanden sein, um dem einzelnen seine Handlungsfähigkeit, seine Freiheit und Würde zu gewährleisten. Wenn innerhalb der gewählten Ord­nung Macht durch einzelne oder durch eine Gruppe sich durchge­setzt hat, weil die weiteren Beteiligten sich ihr aus Schwäche oder Angst, aus Bequemlichkeit oder mangelndem Denk‑ und Wahr­nehmungsvermögen, aus bewundernder Abhängigkeit oder aus was für Neigungen immer unterworfen haben, so bietet doch die rechtlich geregelte Struktur immer noch die Chance, daß neuer­wachtes soziales Leben evolutionär (d.h. innerhalb der Ordnun­gen) sich ‑ den Organismus regenerierend ‑ durchsetzen kann. (...)

Das ent­scheidende rechtliche (und zugleich geistige: hierin kommen Rechts‑ und Geistesleben gleichsam zur Deckung) Mittel, auf das niemals, selbst bei besten sonstigen Rechtsformen nicht, verzichtet werden kann, ist das mutige Aussprechen dessen, was man selbst für wahr hält. Die möglichst emotionsfreie Bekundung der eige­nen Überzeugung, des Ergebnisses der eigenen Erkenntnisbemühung, ohne falsche Rücksichtnahme auf die Folgen auch für einen selbst ‑ das ist ein Hebel, der vielleicht nicht kurzfristig, aber doch auf längere Zeit gesehen, entscheidende soziale Kräfte in Bewe­gung setzt. Man darf der wirkenden Kraft von ichgeprägten Ge­danken und Worten getrost vertrauen. (S. 88-90)

Mögliche Schwierigkeiten und ihre Gründe

Es kann sich insgesamt ein Bild ergeben, welches zeigt, daß die Realität zwar keinesfalls primär von Konflikten im eigentlichen Sinne, also von wirklich aufs Äußerste zugespitzten Situationen bestimmt wird. Weit überwiegend handelt es sich bei den Schwie­rigkeiten im Zusammenwirken von Menschen in der Schulgemein­schaft eher um „ein wenig Sand im Getriebe“ des Umganges miteinander, was aber schon belastend genug für beide jeweils betroffenen Seiten sein kann. Und das ist dann nicht förderlich für das Eigentliche, was mit Hilfe aller Beteiligten zu geschehen hat, nämlich ein umhüllendes und tragendes Klima für das pädagogi­sche Geschehen (zu Hause ebenso wie im Klassenzimmer) zugun­sten des Schülers herzustellen.

Um was geht es denn konkret? Das ist „ein weites Feld“ ‑ aber es lassen sich doch typische Beispiele anführen. Bei an das Lehrer­kollegium gerichteten Fragen, auch bei Anliegen, die etwas von dem Moment einer Beschwerde oder dergl. an sich haben, fehlt es häufig am klar erkennbaren Ansprechpartner; eine Antwort bleibt oft aus und wird auch nach erneuter Anfrage nicht eindeutig und vor allem nicht durch bestimmte autorisierte Vertreter gegeben. Oder es fehlt an einer ausreichenden Begründung, gegebenenfalls auch an der Bereitschaft, ein ganz offenes und sachlich vertiefen­des Gespräch darüber zu führen. Vieles „verschwebt“ auf diese Weise „im Allgemeinen“, es entsteht wohl auch der Eindruck, daß „gemauert“ wird.

So etwas ist ‑ hier gewiß in etwas abrupter und daher teilweise ungerechter Verkürzung gesagt ‑ häufig die Realität des Alltags, für die es im Einzelfall verständliche Erklärungen und Gründe geben mag; vieles beruht auch einfach auf Mißverständnissen. Wie aber auch immer: die reale Situation ist oft von beachtlicher Un­klarheit gekennzeichnet.

Und was die unmittelbaren Gespräche von Mensch zu Mensch ‑ dieses notwendige Lebenselement der Waldorfschule ‑ angeht, so muß man erfahren, daß in vielen Fällen dieser Weg (etwa zwischen Klassenlehrer und einzelnen Eltern) eben nicht ohne weiteres be­gehbar ist, zumindest wird er tatsächlich nicht beschritten. Es steht uns nicht zu, die Gründe dafür zu generalisieren und mit einseitigen Schuldzuweisungen zu versehen. Die unterschiedlichsten Faktoren können mitwirken, auf seiten der Eltern ebenso wie auf der der Lehrer. Ein Lehrer empfindet etwa, daß ihm ohne Sachkompetenz in seine Berufstätigkeit „hereinregiert“ werden soll; oder Eltern fühlen sich belehrt wie Schüler und als Gesprächspartner nicht ernst genommen. Neben beiderseitigem oder einseitigem Ungeschick, Einfaches oder Kompliziertes im Gespräch taktvoll anzugehen, können kurzschlüssige und sachfremde Erwartungen oder Forderungen von seiten der Eltern sehr ungünstig wirken. Ebenso kann auf Lehrerseite eine Empfindlichkeit gegenüber (berechtigter oder unberechtiger) Kritik gesprächs­hemmend sein. Oder ein junger Lehrer, der noch unsicher ist, kann unter Umständen vor intensiveren Gesprächen mit ‑ eventu­ell sehr lebenserfahrenen ‑ Eltern ausweichen; oder er kompen­siert seine Unsicherheit im Klassenelternabend durch überwiegen­den Vortragsstil, was dann auch leicht bis auf die Ebene des persönlichen Gesprächs durchschlägt. So könnte man noch man­che Situationen schildern, in denen ein direktes Gespräch abge­lähmt wird, ja in denen die Beteiligten oft in Sprachlosigkeit nebeneinander herleben. Gibt es dann einen konkreten Anlaß, wo (im Interesse des Kindes) eigentlich ein Gespräch geführt werden müßte, so ist die Brücke nicht da oder sie bricht nach einem ersten (vielleicht ungeschickten) Versuch, sie zu beschreiten. (...) (S. 96f)

Transparenz und Austausch

Für das Bewußtsein des heutigen Menschen, hier bezogen besonders auf die Elternschaft, ist es unerläßlich, daß im Leben der Schule klar erkennbar ist, welche Wege man im einzelnen mit seinen Anliegen beschreiten kann. Aus dem Schulvertrag (oder einer ihm beigegebenen Schulordnung) sollte eine exakte Wegbeschreibung über die Möglichkeiten, sich Auskünfte zu holen, sich Fragen beantworten zu lassen und dergleichen, hervorgehen. Man darf sich hier nicht scheuen, gewisse Dinge auch in einer nüchternen Direktheit auszusprechen. Mit einem Wort, es muß ein transpa­renter Weg erkennbar sein im Sinne einer Verfahrensordnung. Aus ihr muß sich ergeben, an wen bzw. an welche Stelle man sich mit bestimmten Fragen wenden kann; es muß auch klar erkennbar sein, innerhalb welcher Frist man mit einer verbindlichen Antwort rechnen kann und was man tun kann, wenn das nicht geschieht usf. (...)

Man sollte an dieser Stelle nicht einwenden, daß damit (mit einer solchen Ordnung) von vornherein ein Schwächeeingeständnis ge­geben sei. ja, daß man dadurch vielleicht Schwierigkeiten erst herbeirede, während in Wirklichkeit das direkte Gespräch zwi­schen den Menschen ganz klar das einzige Sinnvolle und für jeder­mann ohne weiteres Zugängliche sei. Dieser Einwand aber, so treffend er gewiß auf das anzustrebende Ideal deutet, ließe die heute in positiver Weise bestehenden Rechtsempfindungen ebenso unberücksichtigt wie den faktisch immer wieder auftretenden Wi­derspruch zwischen Ideal und sozialer Realität, was die Möglich­keiten eines guten unmittelbaren Kontaktes in beiden Richtungen betrifft. Und man darf auch sagen: „läuft es“ im Alltag des Schul­lebens von selber überall richtig, so kann man die gesetzte Ord­nung schlicht vergessen, niemand wird sich daran festklammern. Sie ist eben nur eine in Freiheit vereinbarte Hilfe für die Fälle, wo es „holpert“.

Als ein möglicher Weg zur Vermeidung von sozialen Engpässen kann auch folgendes in Erwägung gezogen werden. Wie bereits mehrfach betont, beruht ja ein wesentlicher Teil der Mißverständ­nisse und auftretenden Konflikte in einer Schulgemeinschaft ‑ zwischen Lehrern, zwischen Lehrern und Eltern, zwischen Lehrerkollegium und Schulvereinsvorstand usw. ‑ darauf, daß, wer zu informieren war, nicht rechtzeitig informiert wurde, oder, wer vor einer Entscheidung hätte gehört werden sollen, nicht rechtzeitig gehört wurde. So kann es ratsam erscheinen, in den einzelnen Konferenzen des Lehrerkollegiums, in den Sitzungen des Schul­vereinsvorstandes, auch in den Zusammenkünften des Elternver­trauenskreises neben dem jeweiligen Konferenz‑ oder Gesprächs­leiter eine Persönlichkeit (auf Zeit) mit dem Amt zu betrauen, eine besondere Aufmerksamkeit darauf zu lenken, ob der jeweils zur Beratung oder zur Entscheidung anstehende Punkt nicht noch zuvor mit einem anderen Gremium beraten werden müßte. So etwas wird sehr oft nicht bedacht, oder man neigt dazu zu denken: „Ja, was soll das viele Gerede schon vorher mit den Eltern oder dem Vorstand usw., die dem betreffenden Fragenzusammenhang doch noch sehr fern stehen. Bevor wir nicht selbst unsere Intentio­nen deutlicher abgeklärt haben, führt es zu nichts Ersprießlichem, wenn wir etwas Unausgereiftes schon in weiteren Gremien zerreden lassen.“ Solche Erwägungen sind aber nicht immer zutreffend, häufig scheut man einfach bestimmte soziale Anstrengungen.

Manches Mal unterliegt man hierbei auch einem folgenschweren Irrtum, denn man weckt (vermeidbare) Gegenkräfte. Man darf eben (als einzelner oder als Gruppe) vielleicht sogar gut begründet Gewolltes nicht zu eilig zum Beschluß oder gar in die Handlung bringen. Selbst mühevolle Gesprächsabläufe sind nur scheinbarer Zeitverlust, sie erweisen sich als nützliche Vorstufen, als angemes­sener Acker für die Keimkraft von Entschlüssen. Denn was so in eine abschließende Beratung und in die Entscheidung selbst ein­fließen kann, das ist wirklich durch einen allseitigen sozialen Pro­zeß hindurchgegangen und wird von einem größeren Zusammen­hang innerlich getragen. Als besonders fruchtbar kann sich auch erweisen, wenn etwa ein Lehrerkollegium andernorts etwas zum offenen Gespräch teilt, in dem es selbst noch in sich uneins ist. Der Partner fühlt sich dann ganz ernst genommen - so etwas begründet Vertrauen. (S. 98-100)

Der Vertrauens-Ausschuss

Einige Schulen haben in den vergangenen Jahren bereits Erfahrungen mit Gre­mien gemacht, die man als Vermittlungs‑ oder Vertrauensaus­schüsse bezeichnen kann. Es handelt sich dabei nicht um Gremien, die über etwas zu entscheiden hätten, was andere an sich zustän­dige Einzelpersonen oder Gremien nicht zu einer befriedigenden Lösung führen konnten. Gedacht ist vielmehr an Folgendes: Bei Schwierigkeiten, die zwischen Eltern und Lehrern entstehen, kann eine kleine Gruppe von Menschen eingesetzt werden, beste­hend etwa.(als Beispiel) aus zwei Elternvertretern und zwei Leh­rern, an die man sich wenden kann, wenn man mit seinen Anliegen und Sorgen bei dem unmittelbaren Adressaten (etwa dem Klassen­lehrer, einem Fachlehrer, der Lehrerkonferenz oder dem Vorstand des Schulvereins) nicht angehört worden ist oder glaubt, eine unangemessene Behandlung seines Anliegens erfahren zu haben. Auch kann es vorkommen, daß sich etwa ein Elternteil ‑ aus was für Gründen immer ‑ scheut, sein Anliegen unmittelbar vorzutra­gen. Die Aufgabe des betreffenden Gremiums, das entweder als Ganzes oder durch einzelne Mitglieder den Betreffenden anhört, ist es dann, vermittelnd tätig zu werden; entweder kommt nun doch ein direktes Gespräch zustande, gegebenenfalls unter Mit­wirkung des Ausschusses oder einzelner dieses Ausschusses; oder es ergeht die Bitte um vertiefte Begründung einer getroffenen Entscheidung, die noch nicht transparent genug war; oder man erbittet die Überprüfung einer Entscheidung etwa aufgrund neu vorgetragener Tatsachen (oder was sonst immer als Vermittlung denkbar ist). Selbstverständlich kann die Sache auch andersherum wirksam werden: ein Lehrer wendet sich mit der Bitte um Ver­mittlung an den Ausschuß, weil etwa ein Elternteil sich einem direkten Gespräch entzieht oder sich am Lehrer vorbei mit einem Anliegen an andere Eltern wendet. (...)

Entschei­dend ist ausschließlich, daß es nun jedenfalls zu einem direkten Gespräch kommt oder kommen kann, was so geführt werden sollte, daß eben in Zukunft der direkte Weg sich von selber ein­stellt. Wechselseitiges Vertrauen kann zwar erhofft, bis zu einem gewissen Grad auch erwartet werden, niemals aber kann Ver­trauen verlangt werden, wenn es noch nicht ausreichend da oder durch Vorfälle erschüttert worden ist. Wechselseitiges Vertrauen, das die Waldorfschule letztlich allerdings so sehr braucht wie die Pflanze das Sonnenlicht, ist etwas, das nicht statisch gegeben sein kann, sondern das im Prozeß immer erneut zu bilden ist. Und dieser Weg kann unter Umständen über die Vermittlung des ge­nannten Gremiums gehen; er muß dann nicht als ein bedauerlicher Umweg verstanden werden, sondern einfach als der erste tastende, vielleicht noch etwas ungeschickte Schritt auf dem Weg zu einem zu gewinnenden oder wieder zu gewinnenden vollen Vertrauen.

In manchen Fällen kann schon allein durch die Möglichkeit, sich einmal mit einem positiv zuhörenden kleinen Menschenkreis gründlich auszusprechen, vielleicht dabei Klagen, Vorwürfe oder eventuell sogar Momente einer Verzweiflung „loszuwerden“, eine deutliche Entspannung bei dem Betreffenden entstehen; und damit auch die Möglichkeit, an den Adressaten und an die betreffende Problematik ganz neu heranzutreten. Es bedarf keiner näheren Begründung, daß der glücklichste Weg bei allen Schwierigkeiten immer der ist, wenn sich die Beteiligten unmittelbar offen ausspre­chen können. (...)

Zum Aufgabenfeld eines vermittelnden Ausschusses kann es auch durchaus gehören, in einer bestimmten Situation von sich aus auf die betroffenen Persönlichkeiten oder Organe der Schulge­meinschaft zuzutreten. Man muß nicht unbedingt nur darauf war­ten, daß die betreffenden Menschen den Weg zu einem finden. Wenn man spürt, daß sich im Schulzusammenhang immer stärker eine Reibungsfläche bildet, die schließlich zu einem „Feueraus­bruch“ mit ernsten Folgen führen kann, so wäre es gewiß auch Aufgabe eines entsprechenden Kreises, hier eine Vermittlung anzubieten bzw. das Lehrerkollegium oder den Schulvereinsvor­stand darauf aufmerksam zu machen, daß es unerläßlich sei, in der betreffenden Frage eine Initiative zu ergreifen. (S. 103-105)