Produktivität und Empfänglichkeit

Karl-Martin Dietz: Produktivität und Empfänglichkeit. Das unbeachtete Arbeitsprinzip des Geisteslebens. Menon, 2008 (137 S., 18€). O o

Die sehr wichtige Schrift von Karl-Martin Dietz macht das Wesen des Geisteslebens deutlich und zeigt auf, welches ganz andere Prinzip in ihm wirksam werden muss, als z.B. im Rechtsleben mit seinen Vereinbarungen. Im folgenden sind ausgewählte Zitate zusammengestellt. Siehe auch die Besprechungen durch Heinz Zimmermann in Die Drei 3/2008 und durch Stefan Brotbeck im Goetheanum 41/2008.


1. Der Charakter des Geisteslebens
2. Der freie Geist
3. Geistige Produktivität und freie Empfänglichkeit
4. Grundzüge der Selbstverwaltung des Geisteslebens
5. Produktivität und Empfänglichkeit in der individualisierten Gesellschaft

1. Der Charakter des Geisteslebens

(...) Aufgabe des Geisteslebens ist es, die produktiven geistigen Kräfte jedes einzelnen Menschen zu fördern und ihnen den Weg zu gesellschaftlicher Wirksamkeit zu bahnen ‑ ein Anliegen, das, wenn auch vielfach verdunkelt und vernebelt, wieder die Bildungsdebatte unserer Tage bestimmt. Rudolf Steiner wies nachdrücklich darauf hin, dass dieses Geistesleben seine Funktion nur erfüllen kann, wenn es von den anderen gesellschaftlichen Kräften (Staat und Wirtschaftsleben) unbeeinflusst bleibt. So konzipierte er die Idee eines „freien Geisteslebens“: Aber das ist die erste Forderung für die Dreigliederung des sozialen Organismus: ein Geistesleben, das aus sich selbst heraus sich entwickelt. (26.5.1919, GA 333, S. 16). (...)

Während heute auf der einen Seite erste Stimmen nach einem staatsfreien Schulwesen rufen, scheint gleichzeitig das „freie Geistesleben“ in eine Krise geraten zu sein. Fragen nach Führung, Kommunikation und Zusammenarbeit treten in den Vordergrund und lenken von den eigentlichen Zielsetzungen ab; der Geist ist tot ‑ es lebe die Verwaltung! Oder meint „freies Geistesleben“: jeder kann machen, was er will? Diese „Freiheit“ des Geisteslebens beschränkte sich dann auf Nichteinmischung von außen und Beliebigkeit im Inneren.

Dass Behinderungen von „innen“ mindestens so unfrei machen können wie die äußeren, wird oftmals übersehen. Und die Hauptsache fehlt völlig: Wie wird der beanspruchte Freiraum ausgefüllt? Manchmal wird sogar kurzerhand der Ständestaat ausgerufen: die Lehrer gehören zum Geistesleben, der Vorstand des Trägervereins steht für das Rechtliche, die Eltern gelten vor allem als Wirtschaftsfaktoren. Unter der schrillen Begleitmusik von derartigem Nonsens geht die eigentliche Mission des freien Geisteslebens, die Realisierung geistiger Produktivität, allzu leicht verloren.

Zwei grundlegende Eigenschaften des freien Geisteslebens werden dabei häufig übersehen: dass es frei von jeglichen Vorgaben ist und sich seine Verhältnisse selbst schafft, ähnlich wie ein Fluss, der sich sein Bett im Fließen selbst gräbt und verändert; und dass es dabei sein Handeln vollständig selbst verantwortet. Das zweite übersehene Charakteristikum des freien Geisteslebens ist, wie gesagt, seine innere Disposition, sein Prinzip der Zusammenarbeit, das von dem des Rechtslebens (Rechte und Pflichten) grundlegend verschieden ist. Davon handelt diese Schrift. (...)

2. Der freie Geist

(...) Die „Philosophie der Freiheit“ beschreibt mehrere Stufen des denkenden Erlebens.

Das Denken bedient zunächst die Bedürfnisse des Subjekts. Ich benutze meine Intelligenz, um zu beurteilen, was mir nützt oder gefällt; ich beziehe mit Hilfe dieses Denkens die Welt auf mich und betrachte mich unvermerkt als ihren Mittelpunkt. Die Intelligenz steht unmittelbar im Dienst des egozentrischen Menschen.

Ich kann das Denken aber auch anders einsetzen. Ich kann von meinem Nutzen oder Gefallen absehen und mich fragen: Wie ist die Sache wirklich? Ich kann mich von meinen eigenen Belangen abwenden und nach den Gesetzmäßigkeiten der Sache selbst fragen. Diese Fragerichtung entspricht dem wissenschaftlichen Denken. Denken ist dann Organ zum Erfassen der Wirklichkeit. Dies widerstreitet jedoch im Alltag hart dem Nutzen‑ und Befindlichkeitsdenken, das der subjektiven Geltung den Vorzug gibt und eine darüber hinaus gehende „Wirklichkeit“ ggf. strikt leugnet (die Auseinandersetzung mit dieser heute weit verbreiteten These ist hier nicht zu führen).

Wird eine dritte Stufe des Denkens erreicht, so kommt eine spezifische Leistung der „Philosophie der Freiheit“ in den Blick. Dasjenige Denken, das die Gesetzmäßigkeiten der Welt beschreiben will und nach der „da draußen“ liegenden Wahrheit fragt (zweite Stufe), ist immer noch ein allgemeines Denken. Vor allem im zweiten Teil der „Philosophie der Freiheit“ aber wird ein abermaliges Umschlagen dessen beschrieben, was Denken leisten kann. Es bringt die Ideenwelt in mir zum Aufleuchten. Die Ideenwelt ist nicht mehr nur allgemein und wie von außen zu betrachten, sondern sie ist individuell erlebbar. Nur indem ich die Idee aktiv erzeuge, nehme ich sie als Gegebenheit wahr. Dieses Paradoxon ist in der Philosophiegeschichte nicht unbekannt. In Rudolf Steiners gesamtem Werk spielt das Verhältnis des Menschen zur Ideenwelt eine zentrale Rolle. Das kann hier nicht näher ausgeführt werden. Erinnert sei nur an den unnachahmlichen Ausdruck, es komme darauf an, daß wir in dem Fahrwasser der Idee schwimmen, nicht so sehr auf die einzelnen Urteile und Begriffe. Erinnert sei auch an das ursprüngliche Schlusswort der „Philosophie der Freiheit“: Man muß sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft. (...) Ich bin nicht mehr nur ein aufnehmendes Subjekt (l. Stufe), auch nicht nur ein geistig tätiges Subjekt (2. Stufe), sondern ich erlebe die Ideenwelt in mir. (...) Dieser dritte Schritt, die Wendung von dem Geist „da draußen“ zu dem Geist „in mir“ und seiner Wirklichkeit tritt in neuester Zeit als Bedürfnis vieler Menschen auf Dieses spricht sich z. B. aus in der Sehnsucht nach einer „Ganzheitlichkeit“. (...)

Eine vierte Stufe des Denkens ist in der „Philosophie der Freiheit“ nur angedeutet. Sie wird gegen Ende bezeichnet als ein „Leben in Gott“, als Einswerden mit der Welt. Dabei erlebe ich eine Übereinstimmung mit mir selbst, die mich zugleich im Denken mit dem Kosmos vereinigt. (...)

Damit ist zugleich eine neue Dimension der menschlichen Freiheit beschrieben, deren Stadien etwa so unterschieden werden können:

1. Das Subjekt, das sich die Welt als Objekt gegenüberstellt und sie nach seinen eigenen Maßstäben (des Nutzens oder Gefallens) beurteilt, erreicht eine erste Stufe der Freiheit: Freiheit als Möglichkeit (Freiheit wovon). ‑ Diese Freiheit gilt es zu erhalten, ohne bei ihr stehenzubleiben.

2. Wer sich von den eigenen Maßstäben ab‑ und der Weit in ihrer Eigenheit zuwendet, stößt dabei an seine Grenzen. In dem Maße, in dem er sie überwindet, erlebt er Freiheit als Fähigkeit (Freiheit wodurch). Hier können die in der Ermöglichung zutage tretenden Aufgaben verwirklicht werden.

3. In dem Maße, in dem die Ideenwelt in mir aufscheint, erlebe ich Freiheit als Verantwortung für das Ganze (Freiheit wozu). Aus der ermöglichten und befähigten Freiheit erwächst die Verpflichtung, sie auch im Sinne des Ganzen einzusetzen. Die Distanz zwischen dem „Subjekt“ und der Welt als „Objekt“ weicht einer Verbindlichkeit (Verantwortlichkeit). Dadurch erlebe ich ein neues Verhältnis zu meiner Umgebung und zu den anderen Menschen ‑ und damit zugleich eine neue Qualität von Gemeinschaft, die nicht die Freiheit der Einzelnen zurückdrängt.

4. Darin erlebe ich mich selbst als authentisch (Freiheit als Identität mit mir selbst). Hier lebt und handelt der Einzelne als „er selbst“, ohne von außen durch seelische Strukturen (Triebstruktur) oder durch Manipulation der Eigenorientierung (gesellschaftliche Prägung usw.) bestimmt zu sein. Mein Handeln wartet nicht auf Veranlassung von außen, sondern kommt aus mir selbst heraus. Es erwartet keine Beauftragung durch andere, sondern ist initiativ. (...)

Niemand findet sich als freien Geist einfach vor. Ein freies Wesen kann er [der Mensch ‑ KMD] nur selbst aus sich machen. Dem entspricht im Zusammenleben mit anderen, dass es dabei auf individuelle Beobach­tung ankommt. (...) Mich interessiert nicht, was in Schemata und Statistiken passt oder was Vergleichen unterliegt. (...) „Individuelle Beobachtung“ heißt vielmehr, sich an das Produktive im anderen Menschen zu wenden, an das Werdende und nicht an das Gewordene. (...)

Die gesellschaftlichen Verhältnisse können es also nicht sein, denen man sich als freier Geist verdankt. Umgekehrt können sie aber auch niemanden ernsthaft daran hindern, sich zum freien Geist zu entwickeln. Andererseits sind natürlich die gesellschaftlichen Verhältnisse einer solchen Entwicklung förderlich oder hinderlich. Die Förderung des freien Geistes ist erklärtes Ziel des „freien Geisteslebens“. Dieses hat also ein zwiefaches Verhältnis zum freien Geist: Auf der einen Seite setzt es zumindest die Bemühung voraus, sich zum freien Geist zu entwickeln. Und zum anderen fördert es dessen Ausbildung. Freies Geistesleben ist, so gesehen, das gesellschaftliche Milieu zur Pflege des freien Geistes. (...)

Vom freien Geist zum freien Geistesleben

In einem „freien“, d. h. von staatlicher und wirtschaftlicher Einwirkung unabhängigen Geistesleben ist alles auf die Individualität des Menschen gestellt. Es lebt in der Erwartung, dass sich der freie Geist nicht nur in einzelnen Exemplaren entwickeln wird, daß er vielmehr zu einer allgemeinen Erscheinung im sozialen Leben werden muß. Daher kann ein freies Geistesleben nicht anders als in Selbstverwaltung der darin Tätigen verwirklicht werden. Zu dieser Selbstverwaltung gehört vor allem die innere Selbstbestimmung des Einzelnen als eines „freien Geistes“. (...)

In der Praxis ist es nicht besonders schwer, sich selbst zu prüfen, wie weit man sich zur Verwirklichung des freien Geistes aufzuschwingen vermag. Man kann sich zum Beispiel folgende Fragen stellen:

‑ Sehe ich in jeder konkreten Tat, die ich tue, einen Sinn für das Ganze?
‑ Trage ich die Verantwortung für das Ganze mit? Oder dient meine Tätigkeit letztlich nur meiner persönlichen Selbstverwirklichung?
‑ Verwechsele ich Autonomie mit Eigenwilligkeit (Ich darf jetzt etwas tun, ohne andere zu fragen)? Oder sehe ich Freiheit als Aufgabe und Anforderung, letztlich als Aufforderung an mich selbst zur eigenen Weiterentwicklung?
‑ Mache ich das, was ich mache, ganz? Oder habe ich ein Jobbewusstsein: beschränkte Tätigkeit, beschränkte Zeit, beschränkter Aufgabenbereich, beschränkte Verantwortung? 

Dazu, etwas „ganz“ zu machen, gehört gewiss auch, es gar nicht zu machen, wenn man es ‑ aus welchen Gründen auch immer ‑ nicht leisten kann. Und es gehört dazu, dass ich die Verantwortung für das, was ich tue, vor mir selbst übernehme, nicht nur vor einer Behörde, vor Vorgesetzten oder einem Kollegium. (...)

3. Geistige Produktivität und freie Empfänglichkeit

Der Polarität von Intuition und individueller Beobachtung in der „Phi­losophie der Freiheit“ entspricht im Zusammenhang der Dreigliederung des sozialen Organismus die Polarität von „geistiger Produktivität“ und „freier Empfänglichkeit“. Beide Seiten zusammen ermöglichen die Zusammenarbeit in Organisationen des freien Geisteslebens. Alle anderen Sozialbezüge sind im Verhältnis zu ihnen von dienendem Charakter. Sobald Fragen der Gruppendynamik, der Organisationsentwicklung oder der Mitbestimmung in den Mittelpunkt rücken, tritt das Geistesleben im eigentlichen Sinne in den Hintergrund. (...)

Geistige Produktivität als Individualprinzip

Die Merkmale des freien Geisteslebens kennzeichnen die Wirkkraft des Individuellen in der Gesellschaft. Sie gelten keineswegs nur für Einrichtungen des kulturellen Lebens im engeren Sinne (Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Museen etc.), sondern für alles gesellschaftliche Leben, denn „Geistesleben“ ist funktional zu verstehen. Auch die Tätigkeit des Menschen im Wirtschaftsleben ist auf geistige Leistungen angewiesen (Führung, Fachkenntnis, Arbeitsleistung jeder Art). Man kann z. B. von einem halbfreien Geistesleben sprechen, wenn Ziele und Rahmenbedingungen vorgegeben sind.

Zusammenarbeit im freien Geistesleben ist seiner Idee nach ein Zusam­menwirken von Menschen ..., das ganz auf den freien Verkehr und die freie Vergesellschaftung von Individualität zu Individualität begründet ist. In keine vorbestimmte Einrichtung werden da die Individualitäten hineingezwängt. Wie sie einander stützen und fördern, das soll lediglich daraus sich ergeben, was der eine dem anderen durch seine Fähigkeiten und Leistungen sein kann. (Okt. 1919, GA 24, S. 71). (...)

Nicht durch Institutionen als solche, sondern durch die Leistung des Individuums entsteht der gesellschaftliche Fortschritt. Diese Tüchtigkeit des einzelnen menschlichen Individuums ergibt sich aber nur aus einem wahrhaften, wirklichen Vertrauen in einen unerschöpflichen Born von göttlicher Kraft in der menschlichen Seele. Aber weit, weit entfernt ist die gegenwärtige Menschheit von diesem Glauben an einen unerschöpflichen Quell in der  menschlichen Seele. (22.11.1918, GA 185a, S. 148). (...)

Noch deutlicher wird die geistige Produktivität als das eigentliche Lebenselement des Menschen gegen Ende des Jahres 1907 hervorgehoben. Geistige Produktivität verändert nicht nur die Welt, sondern sie ist zugleich Grundlage für die Gesundheit. Das ist die Vorausnahme eines Gedankens, der Jahrzehnte später als „Salutogenese“ Platz greifen wird. Der Mensch muß von innen heraus produktive Kraft entwickeln. Alles ist gesundend, was den Menschen veranlaßt, sich zum Mittelpunkt von schaffender, von produktiver Kraft zu machen. Er soll von innen heraus schaffen, sonst verödet seine produktive Kraft, und seine ganze Wesenheit wird durch die äußeren Eindrücke zusammengepreßt. Allen Eindrücken von außen muß die Gegenkraft von innen entgegentreten. (3.12.1907, GA 56, S. 200). (...)

Die erste Aufgabe besteht deshalb darin, den Sinn für geistige Produktivität zu wecken: Für die Produktivität des geistigen Lebens haben die Leute gar keinen Sinn. Von dieser Produktivität des geistigen Lebens, von dem schaffenden Geist, von der Kraft des Geistes müssen wir vor allen Dingen den Menschen der Gegenwart einen Begriff geben. Das ist dasjenige, was in allererster Linie notwendig ist. (12.2.1921, GA 338, S. 27). (...)

Freie Empfänglichkeit als Sozialprinzip

Freie Empfänglichkeit als Sozialprinzip ist eine geistesgeschichtliche Innovation. Es wird zum ersten Mal im November 1917 formuliert: Denn dasjenige, was unter Menschen geschehen soll, muß durch Menschen unternommen werden. [...] Auf das Verständnis, das die Gemeinschaften diesen Ideen entgegenbringen, darauf wird es ankommen. (4.11.1917, GA 274, S. 122). (...)

Das Geistige muß darauf beruhen, daß auf der einen Seite die freie Initiative des Menschen steht, so daß der Mensch in der Lage ist, im freien Geistesleben seine Kräfte individuell der Menschheit anzubieten. Auf der anderen Seite muß das freie Verständnis und das freie Entgegennehmen dieser Geisteskräfte liegen. (11.3.1919, GA 329, S. 33).

Hier stehen freie Initiative und freies Verständnis als die beiden polaren Kräfte des Geisteslebens gegenüber. In den kurz darauf erschienenen „Kernpunkten“ wird diese Polarität durch die Worte Impulse und freie Empfänglichkeit ausgedrückt: (...) Für das Geistesleben, mit dem auch die Entwickelung der anderen individuellen Fähigkeiten im Menschenleben durch unübersehbar viele Fäden zusammenhängt, ergibt sich nur eine gesunde Entwickelungsmöglichkeit, wenn es in der Hervorbringung auf seine eigenen Impulse gestellt ist, und wenn es in verständnisvollem Zusammenhange mit den Menschen steht, die seine Leistungen empfangen. (GA 23, S. 80f). (...)

Das doppelte Prinzip

(...) Die Doppelheit von Produktivität und Empfänglichkeit als Sozialprinzip taucht zum ersten Mal 1917 auf. Da ist die Rede von Ideen und ihrem notwendigen Verständnis in Gemeinschaften. (4.11.1917, GA 273, S. 122). Sodann im März 1919: freie Initiative und freies Verständnis (11.3.1919, GA 329, S. 32f) und in den „Kernpunkten“ (April 1919): Impulse, die aus den individuellen Fähigkeiten kommen und freie Empfänglichkeit erfordern (GA 23, S. 80f) oder auch freies Verständnis gegenüber freier Initiative. (ebd., S. 94f). In einem Aufsatz vom August 1919 werden individuelle Geistesleistungen dem fehlenden Sinn für individuelle Geistesleistungen gegenübergestellt, sowie geistige Produktion der notwendigen Aufnahme ins öffentliche Leben. (GA 24, S. 46). (...)

Die freien Geister haben die Eigenschaft, daß sie die Geistigkeit bei den anderen loslösen, daß sie ihr Denken beweglicher machen, und daß dadurch die anderen besser in die materiellen Prozesse einzugreifen vermögen. (29.7.1922, GA 340, S. 94). Auch hier also: der individuelle aktive Geist wird zur Anregung für andere, wenn diese ihn aufnehmen können, und damit zur Grundlage des Sozialen. In dem Maße, in dem geistige Produktivität und freie Empfänglichkeit als Arbeitsprinzipien dem geistigen Zusammenwirken der Menschen zugrunde liegen, hat dies Folgen nicht nur für die Qualität der geistigen „Produkte“, sondern auch für das Soziale als solches. Das befreite Geistesleben wird soziales Verständnis ganz notwendig aus sich selbst entwickeln; und aus diesem Verständnis werden Anreize ganz anderer Art sich ergeben als derjenige ist, der in der Hoffnung auf wirtschaftlichen Vorteil liegt. (GA 23, S. 108). (...)

Möglicherweise kann gerade derjenige, der geistig produktiv ist, eine besonders große Empfänglichkeit für die Ideen anderer entfalten. Und auf der anderen Seite ist die Empfänglichkeit eine gute Voraussetzung dafür, sich selbst zur Ideenbildung aufzuschwingen. Geistige Produktivität und freie Empfänglichkeit kennzeichnen eine unauflösbare Doppelbewegung im freien Geistesleben. (...)

4. Grundzüge der Selbstverwaltung des Geisteslebens

(...) Der Antrieb zur Betätigung der individuellen Fähigkeiten liegt im sozialen Verständnis, das durch das Geistesleben gefördert wird. Das freie Zusammenwirken auf geistigem Gebiet erhält durch seine eigene Wesenheit ein soziales Gepräge, wenn es sich nur wahrhaftfrei entwickeln kann. ... Nur die unfreie Art des Geisteslebens hat bisher dieses soziale Gepräge nicht aufkommen lassen. (GA 23, S. 96). Daraus entspringt eine neue Art der Sozialität und insbesondere der Zusammenarbeit. Sie übernimmt die Vorzüge der gewohnten Sozialformen Hierarchie und Basisdemokratie (individuelle Initiative und Einbezug aller), ohne an ihren Nachteilen zu leiden (Willkür bzw. Ineffizienz). (...)

Zur Verwaltung des Geisteslebens ist an die Bildung von Organen gedacht, die an die Stelle der staatlichen Kulturverwaltung treten und dabei nicht an die Grenzen der politischen Staaten gebunden sind. Über die Staatsgrenzen hinweg [können] sich geistige Organisationen bilden, die das Schulwesen, die andere Zweige des Geisteslebens umfassen. (GA 23, S. 148). (...)

Eine erste Forderung geht deshalb auf die Loslösung des Geisteslebens von der Staatsverwaltung. Der Impuls der Dreigliederung verlangt die vollständige Selbstverwaltung dieser Kultur aus den rein sachlichen und allgemein‑menschlichen Gesichtspunkten heraus. Es wird erst richtig erzogen werden, wenn in die Frage: wie erzieht man alle Menschen zu wahren lebenstüchtigen Menschen, niemand hineinzureden hat als diejenigen, die nur aus den Untergründen der Menschennatur selbst darüber urteilen können. (GA 24, S. 438). (...)

Ein politisch gewährter Freiraum muss mit den Mitteln des Geisteslebens selbständig ausgefüllt werden ‑ sonst gibt es ihn nicht wirklich. Aber noch mehr: Dieser Freiraum selbst ist aus eigener Kraft erst zu schaffen! Man könnte argumentieren, dass es die erwähnten Organisationen des Geisteslebens im makrosozialen Bereich deshalb nicht gebe, weil sie ‑ leider! ‑ in der Verfassung bis heute nicht vorgesehen sind. Dass die Dreigliederung an der Uneinsichtigkeit der politischen Kräfte gescheitert sei, wird immer wieder bedauert. Aber das ist noch nicht die ganze Wahrheit; denn Organisationen des Geisteslebens zu bilden, wird von der Verfassung auch nicht behindert. Dass es solche Organisationen bis heute nicht gibt, liegt nicht am Staatswesen, sondern daran, dass niemand sie bildet. Erst wenn sich solche Organisationen aus dem Geistesleben (z. B. dem Schulwesen) her aus bilden würden, könnten sie auch die geistige „Stoßkraft“ entwickeln um nach und nach das Schulwesen eigenständig zu regeln und dem Einfluss politischer Instanzen zu entziehen. (...) Überall wird das menschliche Individuum auf den Plan gerufen. (GA 79, S. 253). Das gilt auch im Hinblick auf die äußere Autonomie des Geisteslebens gegenüber Staat und Wirtschaft!


Auf den Plan gerufen wird das menschliche Individuum auch innerhalb der Einrichtungen des Geisteslebens selbst. Auch hier gibt es kein „oben“ und kein „unten“. Entscheidend ist dabei nicht das ‑ viel bestaunte oder auch gefürchtete ‑ Fehlen eines „Direktors“, sondern eine völlige Umkehrung des gewohnten Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft. (...) Und in der Tat besteht hierin die hauptsächliche (und oft übersehene) Herausforderung an die kollegiale Zusammenarbeit im freien Geistesleben. Die Herausforderung besteht schon an das Denken: Wie sieht eine Situation aus, in der nichts verboten ist, aber auch nichts erlaubt. Sie sprengt die gewohnten Gedankengänge. Man muss wissen, was man selbst will, und gleichzeitig eine sorgfältige Verständigung suchen mit den anderen, die ja ebenfalls wissen (müssen), was sie wollen. Das Prinzip von „Produktivität und Empfänglichkeit“ ist der entscheidende Schlüssel für diese Art der Zusammenarbeit. (...)

Selbstverwaltung des Schulwesens

(...) Selbstverwaltung und Erziehung haben gemeinsam, dass in ihnen die dem Menschen wesenseigene Freiheit gefördert und dass seine Fähigkeiten ausgebildet werden sollen. (...)

Im Unterrichts‑ und Erziehungswesen soll derjenige, der in lebendiger Tätigkeit drinnensteht, nur so viele Stunden im Unterricht und in der Erziehung zu tun haben, daß ihm noch Zeit übrigbleibt, mit den anderen zusammen, in kleineren oder größeren Korporationen das [makrosoziale, KMD] Unterrichts‑ und Erziehungs­wesen auch zu verwalten. (27.2.1921, GA 304, S. 52). (...)

Beruht die Selbstverwaltung des freien Geisteslebens auf freier Koopera­tion der Einzelnen, so ergeben sich daraus umgekehrt auch Bedingungen: Vertrauen gegenüber den anderen Menschen und Leistung für die anderen Menschen. Wodurch entfernt man die Schäden des wirtschaftlichen Produktionswesens auf geistigem Gebiete? Dadurch, daß das geistige Gebiet sich selbst verwaltet; es muß auf dem Vertrauen zu den Mitmenschen beruhen, und der Untüchtige muß sich vom geistigen Leben verabschieden und Handarbeiter oder dergleichen werden. (...)

Auch die Auswahl der Persönlichkeiten für bestimmte Stellen wird nicht auf Examen, Verordnungen und dergleichen, sondern auf die wirklich pädagogische Erkenntnis der Fähigkeiten und so weiter gebaut sein, so daß es von nichts anderem abhängen wird, an welcher Stelle ich im geistigen Organismus stehe, als - sagen wir auf dem speziellen Gebiet der Schule - von pädagogischen Gesichtspunkten allein, also von inne­ren Gesichtspunkten. (...)

Arbeit in einer freien Schule findet also nicht in einem sozialen Schonraum statt, sondern sie enthält Bedingungen, die strenger sind als diejenigen im staatlich beaufsichtigten Geistesleben. Nicht Zeugnisse und formale Voraussetzungen bestimmen die Eignung, sondern die pädagogische Leistung als solche. Lässt die Leistung nach, muss die Stelle geräumt werden. (...)

Geistesleben beruht auf dem individuellen Fähigkeitswesen der Beteiligten. Das, was sich zum Beispiel auf Erziehung und Unterricht bezieht, das kann weder beruhen auf Verträgen noch auf Gesetzen oder Verordnungen, sondern es muß beruhen auf Ratschlägen, die gegeben werden zur Entwicklung der Fähigkeiten. (24.6.1919, GA 331, S. 168). Auf dieser Grundlage gibt es auch im Geistesleben durchaus „Weisungen“ im Sinne von Hinweisen auf spezifische Sachverhalte. (...)

So muß auf geistigem Gebiete die auf den individuellen Fähigkeiten beruhende Einzelinitiative sich sozial auswirken können; sie darf nicht bestimmt werden durch den Inhalt des Gesamtwillens. Dieser Gesamtwille muß unsozial wirken, denn er entzieht der Gemeinschaft die Früchte der individuellen menschlichen Fähigkeiten. (Juli 1919, GA 24, S. 207). (...)

Selbstverwaltung innerhalb der einzelnen Schule

(...) Wer wird der Direktor sein? ‑ Selbstverständlich niemand; wir haben einfach gleichberechtigte Lehrer durch alle Klassen, und einer aus dieser Lehrerschaft, der etwas weniger Stunden hat als die anderen, der besorgt die Verwaltungsdinge. Dabei sieht man schon jetzt, daß die tüchtigen Lehrer auch eine gewisse Autorität über die anderen haben, eine naturgemäße Autorität, und ein gewisses hierarchisches System bildet sich heraus. (19.3.1920, GA 334, S. 163). (...) Im geistigen Leben kann nicht jeder ein Urteil haben, im geistigen Leben kann jeder nur das Urteil haben, zu dem er befähigt ist. Da muß alles aus der Individualität heraus kommen. (29.8.1922, GA 305, S. 231). In der Selbstverwaltung geht es darum, die unterschiedlichen Befähigungen für das Gelingen des Ganzen zu nutzen. Und so wird hier in aller Deutlichkeit von einem kompetenz‑ und akzeptanzgestützten hierarchischen System gesprochen, ‑ einer Art Fähigkeitenhierarchie, die durch Anerkennung in der Gemeinschaft sozial wirksam wird und die die Leistungsfähigkeit des Ganzen gewährleistet. (...)

Auf die Frage eines Kollegen, ob man Zeitungsberichte in norwegischen und holländischen Zeitungen bringen solle, ob das etwas helfen würde, antwortet Steiner: Wenn es jemand tut, gewiß. Alle diese Dinge sind gut, wenn sie getan werden, sehr gut sogar. Das braucht man nicht zu beschließen, das kann jemand tun. (31.7.1920, GA 300a, S. 203f). Geistesleben beruht auf der Initiative der Einzelnen, nicht auf Mehrheitsbeschlüssen! Kollegiumsbildung soll das Handeln der Einzelnen ermöglichen, nicht kontrollieren oder regulieren.

Rudolf Steiner als Schulleiter

Über die Tatsache, dass im Geistesleben andere Gesetzmäßigkeiten walten als im Rechtsleben, war schon seit Frühjahr 1919 immer wieder gesprochen worden. Ein Jahr nach Gründung der Waldorfschule werden trotzdem Fragen nach Statuten und definierten Funktionen aufgeworfen. (...)

Rudolf Steiner nimmt die aufgeworfene Frage nach dem Statut zum Anlass, um noch einmal über seine eigene Stellung im Kollegium zu sprechen. Er sieht sich als Esoteriker den Freunden gegenüber und ist auf deren Verstehen angewiesen. Es spricht also derjenige, der so spricht, nicht in dem Sinne, daß das, was er sagt, auf Autorität in dem gewöhnlichen Sinne angenommen wird. ... Das Verhältnis muß ein solches sein, daß alles dasjenige, was gesagt wird, angenommen wird von den Hörenden auf völlig freien Willen hin, daß beim Annehmen gar nichts ankommen darf auf den Willen desjenigen, der spricht, sondern alles einzig und allein ankommen muß auf den Willen derjenigen, die zuhören. (...)

So steht der Waldorfschullehrer da: er hat keine Paragraphen, sondern Ratschläge; Ratschläge, die er nach seiner eigenen Individualität gestalten muß. Jeder ist doch ein anderer Mensch. [...] Man kann im Leben nur wirken, wenn man das Leben auf sich wirken läßt. (1.6.1924, GA 298, S. 216f). Die Selbstverwaltung der freien Schule kennt keine Vorschriften im Inneren, sondern gegenseitige Beratung ‑ gemäß dem Arbeitsprinzip von geistiger Produktivität und freier Empfänglichkeit. (...)

Wichtiger als alle Regelungen und Prinzipien ist der Waldorfschul‑Geist. Er geht einher mit einer Emanzipation vom Geist der Schwere, der immer noch in den Klassen herrsche. Der muß heraus! (...) Das Überwinden des Menschen durch sein höheres Ich, das ist dasjenige, was wir haben müssen, um erst dahin zu kommen, daß die Kinder uns nicht damit kommen, daß wir kein Recht haben, ihnen (über ihr Benehmen) etwas zu sagen. Die Lehrer müssen sich gegenseitig abschleifen. Sie dürfen sich nicht gehen lassen, so daß der eine alles durchgehen läßt und der andere fortwährend ermahnt. ... Es muß Stil in der Schule sein, der zusammenfassend wirkt, der im Zusammenwirken auch zustande kommt. (25.5.1923, GA 300c, S. 55f). Hier wird einheitliches Vorgehen der Einzelnen im Sinne von Stilbildung angemahnt. Um das zu erreichen, gibt man sich gewöhnlich Verhaltensregeln. Aber genau das wird hier abgelehnt. An die Stelle der Erfüllung objektiver Prinzipien durch die beteiligten Subjekte tritt die sensible Kooperation der einzelnen. Wenn sie sich ‑ im Sinne von Produktivität und Empfänglichkeit ‑ lebendig aufeinander einstellen, kommt die wünschenswerte Einheit­lichkeit viel wirksamer zustande. (...)

Deshalb, weil ich kein Programm‑Mensch bin, weil ich keine Programme und Utopien gebe, sondern weil ich einer bin, der haben will, daß die Wirklichkeit als Wirklichkeit erfaßt wird, deshalb liegt mir gar nichts daran, daß alle meine Anregungen bis in die Einzelheiten ausgeführt werden. Wenn man an irgendeinem Punkte anfangen wird, so zu arbeiten, wie es im Sinne dessen liegt, was ich heute gesagt habe, dann möge von dem Inhalt, den ich vermittelt habe, kein Stein auf dem anderen bleiben; etwas ganz anderes wird sich vielleicht ergeben, aber es wird dann doch etwas sein, was dem wirklichen Leben gegenüber gerechtfertigt ist. (11.3.1919, GA 329, S. 47). (...)

5. Produktivität und Empfänglichkeit in der individualisierten Gesellschaft

(...) Ohne Initiative (Produktivität) und Interesse (Empfänglichkeit) kommt im geistigen Leben nichts zustande. Beide sind freie Leistungen des individuellen Menschen. (...) Zur Pflege der Empfänglichkeit kann ich mir vornehmen, nachzufragen statt zu opponieren, Entwicklung zu verstehen statt mich auf Einzelfakten zu werfen, mein Urteil zurückzuhalten, bis es sich wie von selbst einstellt und mein Verhältnis zu den anderen Menschen mehr im Sinne von gegenseitiger Beratung als von Vorschriften zu denken. Das erfordert die Fähigkeit, in den Begriffen des anderen zu denken und seine Ideen ggf. mit der Wirklichkeit zu konfrontieren, nicht mit meiner Meinung. In dem Maße, in dem mir das gelingt, ändert sich das Zusammenleben und ‑arbeiten bis ins Einzelne. Mein angestammtes und zäh verteidigtes Recht auf Selbstbestimmung erweitert sich zu einer Anerkennung der eigenständigen Leistung der anderen und damit zu einer ungewohnten Art der Wertschätzung. (...)

Strukturen bleiben nützlich zur Beschreibung der Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten wollen. Sie haben dann deskriptiven Charakter und dienen der Transparenz. Untauglich sind sie hingegen im Geistesleben als normative Vorgaben ‑ auch wenn wir uns diese Normen ggf. selbst ausgedacht haben. Durch die Pflege von Produktivität und Empfänglichkeit wird das einzelne Individuum als solches sozialfähig. Man braucht dazu nicht die einzelne Persönlichkeit (die man von vornherein für egozentrisch hält) durch strukturelle oder vertragliche Einzäunung in Schach zu halten. Das gemeinsame Handeln, das auf Produktivität beruht, ist aktuell und geistesgegenwärtig, nicht von „gestern“ und somit lediglich der Vollzug von Vorgaben. (...)

Die Dimension des Individuellen ist noch nicht wirklich erreicht. Aber die Richtung scheint absehbar. Sie setzt eine Umwendung des Gewohnten voraus. Grundlage bildet die Souveränität des einzelnen Individuums, nicht dessen Einordnung in eine vorhandene Gruppe. Das Gemeinsame entsteht durch sachgemäße, auf individueller Initiative beruhende Kooperation, nicht durch Regelung des Einzelnen aus einem vorgängigen Kollektiv (Delegation). Der Einzelne bezieht seine Hand­lungsmotive aus moralischer Intuition und individueller Beobachtung (also aus ethischem Individualismus), nicht auf Grund von Planungsverhalten nach allgemeinen Prinzipien. Das Verhältnis der zusammenwirkenden Menschen lebt auf der Basis von geistiger Produktivität und freier Empfänglichkeit, nicht durch soziale Strukturierung im Vorfeld. Der gegenseitige Umgang ist gekennzeichnet durch Ratschläge („Beratung“ im Sinne der dialogischen Prozesse), nicht durch Weisungen oder implizite Machtspiele. Jeder Einzelne trägt vor sich selbst die Verantwortung für das Gelingen des Ganzen, nicht nur im Sinne einer Rechenschaftspflicht für sein je eigenes Handeln. (...)