Gemeinschaft durch Freiheit - Perspektiven für die Zukunft des Geisteslebens

Karl-Martin Dietz: Gemeinschaft durch Freiheit. Perspektiven für die Zukunft des Geisteslebens. VFG, 1996 (150 S., 17€). O o

Was ist freies Geistesleben? Die Voraussetzung für ein zukunftsfähiges Bildungswesen, ja für ein Fortbestehen der menschlichen Zivilisation überhaupt! Die katastrophale Lage der Gegenwart (Kriege, Naturzerstörung, Arbeitslosigkeit, soziale Ungerechtigkeit u.v.a.) zeigt im Grunde überdeutlich, dass das gegenwärtige Denken und Handeln den Wirklichkeitsbezug längst verloren hat. Aber auch Waldorfschulen und andere anthroposophische Einrichtungen stehen in Bezug auf den Anspruch, Institutionen eines freien Geisteslebens zu sein, sehr oft noch ganz am Anfang. Es braucht überall ein neues Bewusstsein. In seinem wichtigen Buch „Gemeinschaft durch Freiheit“ schildert Karl-Martin Dietz deutlich die Situation der Gegenwart und das Wesen und die Voraussetzungen eines freien Geisteslebens – also die Schritte, die heute eine dringende Zeitnotwendigkeit sind. Im Folgenden sind einige wichtige Gedanken sehr komprimiert zitiert und zusammengefasst.

Die Zukunft des Geisteslebens

Eine tragfähige Gemeinschaft wird nicht dadurch gebildet, daß die einzelnen Persönlichkeiten sich zurücknehmen. Sie kommt durch die Individualitäten zustande, nicht gegen sie. (S.11)

Das sogenannte „Weltgeschehen“ spielt nicht auf irgendeiner Bühne, und ich sitze dabei im Zuschauerraum, applaudiere hinterher oder schreibe eine Kritik. Die Probleme der Gegenwart sind im Kern meine eigenen Probleme. Freilassendes, überschauendes Erkennen und engagiertes, konkretes Handeln müssen in mir selbst entfaltet und in Übereinstimmung gebracht werden.
Solches in gesellschaftlich bedeutsamem Ausmaß zu leisten ist eine Aufgabe des freien Geisteslebens im Sinne der Dreigliederung des sozialen Organismus. „Geistesleben“ ist hier nicht strukturell gemeint, sondern funktional. Es entfaltet sich nicht nur in kulturellen Einrichtungen (Schulen, Universitäten, Theatern usw.), sondern überall da, wo es auf menschliche Fähigkeiten ankommt. Dies gilt in hohem Maße z. B. für den politischen Bereich und für das Wirtschaftsleben, die Arbeitswelt. ‑ Als „frei“ wird Geistesleben bezeichnet, wenn es keinen vorgegebenen Zwecken folgt oder sonstiger Fremdbestimmung unterliegt. Das in die Wirtschaft eingebundene oder von ihr beeinflußte Fähigkeitswesen des Menschen wird deshalb von Rudolf Steiner als „halbfreies Geistesleben“ bezeichnet. (S.11).


„Freie Schulen“ haben Konjunktur – immer mehr Eltern suchen diese Alternativen zum staatlichen Bildungswesen. Allerdings laufen diese „freien Schulen“ immer wieder Gefahr, das Geistesleben zu „verrechtlichen“ und das Verständnis ihrer Freiheit auf die weitgehende Freiheit von staatlichen Vorgaben zu beschränken. Beschlüsse werden kollektiv gefasst, für eine effektive Delegation an einzelne reicht das Vertrauen nicht, Dringendes bleibt unerledigt, man wurstelt sich durch – bis zu den ersten großen Konflikten. Danach werden vielleicht „verbesserte Strukturen“ geschaffen, weitere Gremien gebildet, Kompetenzbereiche und Mitwirkungsrechte abgesteckt usw. – und das Ganze beginnt auf etwas höherem Niveau von vorne. 

Das Schulwesen wird nicht dadurch „frei“, daß an die Stelle staatlich fixierter Lehrpläne, ideologischer Vorgaben oder beamteter Weisungsgebundenheit die Willkür subjektiver Vorstellungen, Mitbestimmungsrechte von Eltern oder pluralistische Beliebigkeiten treten. [...]
Gibt es wirklich nichts anderes als entweder ordentlich zustandegekommene Entscheidungen, die in der Sache aber auch falsch sein können, oder sachlich möglicherweise richtige Entschlüsse, die aber von einer heimlichen Hierarchie oder von Manipulation ausgehen? ‑ Hier stellt sich die Frage nach den inneren Bedingungen und Arbeitsweisen eines freien Geisteslebens. In ihm taugt weder hierarchisch abgesicherte Autorität noch demokratische Verfahrensweise. [...]
Eine auf Individualität beruhende Vorgehensweise, wie sie einem solchen Geistesleben angemessen ist, hat zur Voraussetzung, daß die Beteiligten bereit sind zur kritischen Selbsterkenntnis und zur Selbsterziehung. Geistesleben, das nicht in diesem Sinne Geistesleben zu sein bestrebt ist, wird sich rasch als unbedeutend herausstellen. (S.17f)


Gerade im Wirtschaftsleben wurden wichtige Aspekte eines freien Geisteslebens längst erkannt: Einsicht in den Gesamtablauf, Selbständigkeit, Selbstvertrauen, Phantasie/Innovationsfähigkeit und Lernfähigkeit. „Es geht nicht mehr nur um Fachwissen oder um spezifische Führungsqualifikationen, sondern es geht um Persönlichkeitsentwicklung als solche.“ (S.21). Auf diese Weise verfolgt ein Wirtschaftsbetrieb oft (und oft im Gegensatz zu einer freien Schule) sehr effektiv seine Ziele, aber wirkliche Freiheit des Einzelnen wird durch die Zielvorgaben eigentlich nicht erreicht.

Die Grenzen des Selbst und ihre Erweiterung

Wohl noch nie zuvor lebten im öffentlichen Bewußtsein so klar die Anforderungen, die unser Zeitalter an den einzelnen Menschen stellt ‑ und noch nie zuvor wurde so schmerzlich erlebt, wie der einzelne hinter diesen Anforderungen zurückbleibt. (S.24)

 
‑ Ideensphäre/Innovation: Mir fällt nichts ein.
‑ Willenssphäre/Initiative: Ich kann mich nicht aufraffen.
‑ Wirklichkeit/Bewusstheit: Mir fehlt der Durchblick.
‑ Fähigkeiten: Ich kann nicht über meinen Schatten springen. 

Dem entsprechen vier große Zeitforderungen der letzten Jahrzehnte, die nun gerade zentralen Anliegen der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners entsprechen:

- Kreativität > Intuition und moralische Phantasie.
- Toleranz > Liebe.
- Ganzheitlichkeit > Erkenntnis der Wirklichkeit.
- Selbstverwirklichung > Selbsterziehung, Verwirklichung der geistigen Individualität. 

Das neuzeitliche intellektuelle Denken kann überblicken, emotionsfrei abstrahieren, unterscheiden, vorausdenken. Es ermöglichte die Wissenschaft und die technische Zivilisation der Neuzeit mit all ihren Folgen; es ist abstrakt, hält die „Welt“ und potentiell auch die eigenen Emotionen auf Distanz. – Gerade dadurch wurde es aber auch Grundlage für die innere „Freiheit“ bzw. das Freiheitserleben des modernen Menschen; zugleich ist es von seinem Wesen her selbstlos und kann die verschiedenen Aspekte der Wirklichkeit erfassen und unterscheiden. Als Grundlage des klaren Bewusstseins, des Freiheitserlebens und der Erkenntnisfähigkeit ist es zugleich Voraussetzung für esoterische Schulungswege, auf denen das Denken selbst dann erweitert und verwandelt werden kann. Ohne diese Verwandlung jedoch wird sich immer stärker die Kehrseite des Intellektualismus geltend machen: Subjektivität, Wirklichkeitsferne, soziale Kälte.

Das materialistische, geistlose „naturwissenschaftliche“ Weltbild hält dieses Denken nun an sich für nicht wandelbar – es hält das Denken für ein Produkt der Gehirnphysiologie, seine Inhalte für ein Produkt von Vererbung, Erziehung und Umwelt und daher prinzipiell für subjektiv und abstrakt. Angesichts dieses Weltbildes und der Weltlage gibt es nun verschiedene „Fluchtbewegungen“ im Denken:

- Eskapismus: Rückzug aus dem Denken ins Gefühl.
- Fundamentalismus: „Ich weiß, was richtig ist“ (tatsächlich bin ich „besessen“ von völlig unbeweglichen Gedanken).
- Relativismus/Skeptizismus: „Es gibt keine Wahrheit“ (wie aber komme ich zu dieser Behauptung...?)
- Opportunismus: „Ich kann ja doch nichts ändern“. 

Wer hier nach einer Lösung sucht, wird sich diese nur von einer grundlegenden Erneuerung des Denkens versprechen, nicht etwa von dessen „Abschaffung“. Dabei kann es sich von vornherein nicht um irgendwelche kurzatmigen „Maßnahmen“ handeln, die von heute auf morgen das Leben verbessern. Vielmehr fordert die Zeitlage einen radikalen Paradigmenwechsel, demjenigen vergleichbar, der mit dem kopernikanischen Weltbild am Anfang der Neuzeit heraufkam. [...] Das gegenwärtige Denken hat seine bestimmte, geschichtlich entwickelte Form; nichts aber spricht dafür, daß dies die einzig mögliche Form ist; und nichts kann hindern, an ihrer Verwandlung zu arbeiten. (S.47)


Die Richtung, in die das Denken zu entwickeln ist, müssen in der bereits angedeuteten Richtung liegen: 

- Kreativität statt Eskapismus – Innovation statt Tradition.
- Initiative statt Fundamentalismus – situationsgemäß statt prinzipiell, existentiell statt distanziert.
- Wirklichkeitsgestaltung statt Relativismus – Sachkenntnis statt Standpunkte, Erkenntniswille statt Selbstbezug.
- Fähigkeitsentwicklung statt Opportunismus – Wille zur Weiterentwicklung (im Zusammenhang) statt Resignation oder Selbstüberschätzung.

Individualität und Gemeinschaft

Das Denken kann sich deshalb verändern, weil auch das Selbst des Menschen, sein „Ich“, keineswegs „fertig“ ist. Es gibt vielmehr Stufen des Ich:

- 1. Stufe: Ich-Gefühl  – Das passive Subjekt-Ich, bestimmt durch die äußeren Einflüsse und die „eigenen“ aufsteigenden Gefühle.
- 2. Stufe: Das Ich als Tätigkeitszentrum – Die Selbstbezüglichkeit erweitert sich durch das Denken zum (erkennenden) Weltbezug.
- 3. Stufe: Das Ich als Glied einer geistigen Welt – Der Mensch erfasst sich selbst als geistige Wesenheit („freier Geist“) und wird handelnd Teil des realen Weltgeschehens.
- 4. Stufe: Das Ich als selbständige geistige Wesenheit – „Leben in Gott“: Das Ich setzt sich nicht von anderen geistigen Wesen ab, sondern konstituiert sich gerade durch das Zusammenwirken mit ihnen. 

Dem entsprechen jeweils andere soziale Formen, wobei nur die beiden ersten historisch verwirklicht wurden und Wege zur dritten gesucht werden:

- Hierarchische Führung und Kontrolle.
- Demokratische Gesellschaft: Definierte Kompetenzen kollektiver Entscheidungsgremien.
- Jeder nach seinen Fähigkeiten: Ich trage mit meinen individuellen Fähigkeiten zum Ganzen bei.
- Der Einzelne im Ganzen: Meine individuelle Aufgabe zeigt sich mir aus dem Gesamtzusammenhang der Verhältnisse heraus.

Wir stehen heute an einer ähnlichen Epochenschwelle, wie sie in den ersten Jahrhunderten der griechischen und römischen Kulturentwicklung erlebt wurde, als das alte Königtum versagte und die Demokratie entwickelt wurde. Das geschah faktisch, nicht theoretisch. Die Theorie der Demokratie folgte erst nachträglich. Ähnlich scheint die Situation heute: Im wirklichen Leben ist nach neuen Formen der Zusammenarbeit zu suchen. Sie sind praktisch darzuleben, auch wenn sie natürlich vorher beschrieben werden können. Die theoretischen Begründungen jedoch können dann später folgen. Vielleicht erklärt dieser weltgeschichtliche Sachverhalt die gänzlich untheoretische Form, in welcher der Sozialimpuls der Philosophie der Freiheit und der Dreigliederung des sozialen Organismus von Rudolf Steiner dargestellt wird. Die von manchen beklagten Theoriedefizite sind möglicherweise gar keine Defizite, sondern die Darstellungsart entspricht dem Zeitgeist. Nicht von ungefähr kommen heute die wichtigsten Impulse für eine Erneuerung der Kooperationsformen aus dem praxisorientierten Wirtschaftsbereich, weniger aus den theorielastigen, traditionellen Institutionen des Geisteslebens. (S.61)

 

Individualität ist nur möglich, wenn jedes individuelle Wesen vom andern nur durch individuelle Beobachtung weiß.
Rudolf Steiner, Philosophie der Freiheit, GA 4, S. 165f.

Wirklich „individuelle Beobachtung“ ist nur gegeben, wenn wir am anderen Menschen etwas beobachten, das nicht in irgendein Schema passt, sondern sich überhaupt jedem Vergleich entzieht. Bei jeder Wahrnehmung von „Eigenschaften“, verbleibt man auf der 1. Stufe des Ich. Wenn ich die Vergangenheit und den sozialen Zusammenhang eines Menschen mit in den Blick nehme (ohne ihn darauf zu reduzieren!), bewege ich mich auf der 2. Stufe. Zur 3. Ebene gehört auch der Blick auf das Zukunftswesen eines Menschen (was bei Kindern noch selbstverständlich erscheint). 

Bei jedem Menschen, der uns begegnet, können wir die Frage stellen: Welche künftigen Entwicklungen, welche Fähigkeitspotentiale leben in ihm? Diese Frage erfordert die Ausbildung enormer Erkenntnisfähigkeiten, auf der 3. Ebene sind jedoch Erkenntnisse zugleich Handlungen. Schon dadurch, daß ich einem anderen Menschen mit der genannten Frage begegne, ändert sich unser beiderseitiges Verhältnis schlagartig. Diese Frage zu stellen ‑ auch ohne daß man sie sofort in befriedigender Weise beantworten kann ‑ heißt zugleich, die sozialen Verhältnisse umzugestalten. Ich fördere Fähigkeiten bereits dann, wenn ich danach frage. (S.67)

Eine weitere, vierte Stufe der „individuellen Beobachtung“ ist noch möglich. Durch meinen Versuch, der anderen Individualität in der Beobachtung gerecht zu werden, greife ich nicht nur handelnd in die soziale Welt ein, es verändern sich nicht nur „die Beziehungen“ (Begegnung durch beiderseitige Wandlung), sondern ich kann einen anderen Menschen nicht mehr distanziert als „einen anderen“ betrachten; ich engagiere mich an ihm. je umfassender seine Existenz in meine Beobachtung fällt, um so stärker wird dieses Engagement. Man kann es als „Liebe“ bezeichnen. [...] In der Pädagogik kann ich also heute schon ziemlich klar mehrere Stufen unterscheiden: die Kenntnis allgemeiner anthropologischer Gesetzmäßigkeiten, angewandt auf den einzelnen; das ist Erziehungswissenschaft (Stufe 2); die Bemühung darum, dem Kind künftige Entwicklungen zu ermöglichen: Erziehungskunst (Stufe 3); ein existentielles Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern als Grundlage des Zusammenlebens: Liebe (Stufe 4). Solche Verhältnisse auch unter Erwachsenen zu etablieren liegt in der „individuellen Beobachtung“, die die Philosophie der Freiheit als Voraussetzung für eine Kultur des Individualismus fordert. Die Philosophie der Freiheit bewegt sich dabei, wie schon erwähnt, vor allem auf der dritten Stufe, wobei sie die vierte ausblickhaft einbezieht. (S.68)


Der „freie Geist“ kann im anderen Menschen nur gefunden werden, wenn ich ihn auch in mir selbst entdecke, d.h. entwickele: „Wer nie ein ‚Ich’ war, kann auch das ‚Ich’ nicht begreifen“ (Rudolf Steiner in einem Brief vom 4.1.1891, GA 39, S. 70). Das heißt zugleich, daß der „freie Geist“ niemand anderen für sich verantwortlich machen kann: „Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen.“ (Rudolf Steiner, GA 4, S. 170).

Gemeinschaft durch die Einigkeit der Ideenwelt

Wie ist aber ein Zusammenleben der Menschen möglich, wenn jeder nur bestrebt ist, seine Individualität zur Geltung zu bringen? [...] Dieser [Einwand eines falsch verstandenen] Moralismus versteht eben die Einigkeit der Ideenwelt nicht. [...] Der Unterschied zwischen mir und meinem Mitmenschen liegt durchaus nicht darin, daß wir in zwei ganz verschiedenen Geisteswelten leben, sondern daß er aus der uns gemeinsamen Ideenwelt andere Intuitionen empfängt als ich. Er will seine Intuitionen ausleben, ich die meinigen. Wenn wir beide wirklich aus der Idee schöpfen und keinen äußeren [...] Antrieben folgen, so können wir uns nur in dem gleichen Streben, in denselben Intentionen begegnen. Ein sittliches Mißverstehen, ein Aufeinanderprallen ist bei sittlich freien Menschen ausgeschlossen.
Rudolf Steiner, Philosophie der Freiheit, GA 4, S. 165f.


Das Beispiel einer gemeinsamen Bildbetrachtung lehrt, dass die Wahrnehmungen und „Positionen“ der Einzelnen zunächst durchaus sehr verschieden, ja widersprüchlich sein können... Wenn man verschiedene Standpunkte als Aspekte einer gemeinsamen Ideenwelt betrachten lernt, wird man die Wahrheit dieser „Hypothese“ sehr oft feststellen – ohne diese aber hätte man es nie entdeckt! 

Dabei schafft diese Entdeckung eine außerordentlich tragfähige Vertrauensbasis für die Zusammenarbeit. Das Vertrauen wird noch gesteigert, wenn es gelingt, die Ideen der anderen (die den eigenen Vorstellungen durchaus nicht entsprechen müssen) als solche aufzugreifen und fortzuführen. Ich kann an einer Idee arbeiten, ohne mit ihr von vornherein „einverstanden“ zu sein, und in dem Augenblick, in dem ich bemerke, daß mein Gedanke als solcher ernst genommen wird ‑ auch von denen, die ganz andere Gedanken äußern ‑, ist eine Vertrauensbasis geschaffen, die durch nichts mehr erschüttert werden kann. Die Auseinandersetzung findet dann auf einer anderen Ebene statt, auf der persönliche Verletztheiten und ähnliches keine Rolle spielen. Die Philosophie der Freiheit behauptet, daß das die Vertrauensbasis für jegliche Gemeinschaftsbildung und Zusammenarbeit ist. Die Erfahrung lehrt, daß es stimmt. Man muß es nur ernsthaft versuchen. (S. 73)


Auf der ersten Stufe des Ich versteht man oft schon die Worte eines anderen anders, als sie gemeint waren, zumindest aber berücksichtigt man nicht die dahinter stehende Gedankenwelt des anderen. Dies wird auf der zweiten Ebene erreicht (z.B. in einer wissenschaftlichen Diskussion). Doch erst auf der dritten Ebene hören die „Gedankenwelten“ auf, statisch getrennt voneinander zu sein, sie können nun als Aspekte einer gemeinsamen Idee wahrgenommen werden. Auf der vierten Ebene schließlich ist es möglich, diese gemeinsame Idee und die mit ihr verbundene Ideenwelt auch in ihrer Wirklichkeit zu erfassen.

Die gemeinsame Ideenwelt liegt auch jeder Gesellschaft zugrunde. Der „freie Geist“ handelt aus moralischen Intuitionen, die er im reinen Denken gefunden hat und in reiner Liebe zur Handlung verwirklicht. Diese Liebe zur Handlung beinhaltet zweierlei: Sie allein macht die Handlung zu einer ganz eigenen und damit ganz freien – und zugleich zu einer ganz selbstlosen. „Das menschliche Individuum ist Quell aller Sittlichkeit und Mittelpunkt des Erdenlebens. Der Staat, die Gesellschaft sind nur da, weil sie sich als notwendige Folge des Individuallebens ergeben.“ (Rudolf Steiner, GA 4, S. 172). Auch Normen sind einmal aus einer Intuition entsprungen und haben insofern Ähnlichkeit zur „Liebe“, als sie egozentrisches Handeln ausschalten wollen (es sei denn, sie dienen als Vorwand für Partikularinteressen und entsprechen keiner moralischen Intuition). „Gut“ ist eine Handlung dann, wenn sie sich in rechter Weise in den Gesamtzusammenhang der Weltentwicklung hineinstellt. Der ethische Individualismus Rudolf Steiners betont, dass der einzelne Mensch in der Lage ist, dieses Gute selbst zu finden. Jedes Handeln nach Normen ist nicht nur fremdbestimmt, sondern immer auch „von gestern“, d.h. es kann nie die konkrete Situation, das gegenwärtige oder gar zukünftige Erfordernis treffen.

Gemeinschaft entsteht also nicht gegen die einzelnen Menschen, sondern durch sie. Eine Gemeinschaft, die auf – veränderlichen – Sympathien oder gemeinsamen Interessen oder aber auf Prinzipien und Normen beruht, ist heute meist nicht lange tragfähig. Zwischen Persönlichkeiten steht immer das anfällige „Zwischenmenschliche“. In einer Gemeinschaft „freier Geister“, die einander in wirklich individueller Beobachtung wahrnehmen, gibt es kein hinderndes „Zwischen-Menschliches“, sondern nur Menschliches. Eine solche freie Gemeinschaft setzt die individuelle Freiheit voraus. Diese besteht nicht nur in der Befreiung von äußeren Vorschriften und innerseelischen Hemmnissen, sondern wesentlich in der Erzeugung einer inneren Liebe-Kraft, die das Handeln bestimmt.

So ergeben sich vier Grundbedingungen für eine Gemeinschaftsbildung „freier Geister“:

Intuition: Einige Ideenwelt statt unvereinbarer Standpunkte.
Liebe: Selbstlose Liebe zur Handlung statt Normen.
Wirklichkeitsbezug: „Individuelle Beobachtung“ des anderen Menschen.
Entwicklung: Der „freie Geist“ als Wesen und Entwicklungsziel des Menschen.

Die gesellschaftliche Bedeutung des Geisteslebens

Es kommt darauf an, daß der Geist wirkt, nicht daß man vom Geiste redet.
Rudolf Steiner, 14.8.1920, GA 199, S. 78.

Steiner stellte zu seiner Zeit in aller Schärfe dar, dass die brennende „soziale Frage“ dadurch entstanden ist, dass das Geistesleben sich einerseits in den Dienst des Staates und der Wirtschaft gestellt hat bzw. andererseits sich von der Lebenswirklichkeit vollkommen entfernt hat (wodurch es vom Proletariat und von der kommunistischen Bewegung mit Recht als Ideologie wahrgenommen werden konnte). „So haben wir eine Wissenschaft, nach der niemand sucht, und ein wissenschaftliches Bedürfnis, das von niemandem befriedigt wird.“ (Rudolf Steiner, 1886, GA 2, S.17f). Einem freien Geistesleben muss es darum gehen, Ideologie und Wissenschaft, Religion und Erkennen, Sinn und Fakten, Wissen und Lebenspraxis zu versöhnen. Es ist keineswegs schon dann gewährleistet, wenn es finanziert und von staatlichen Vorschriften freigehalten wird – dies sind nur seine äußeren Bedingungen

So wie die Philosophie der Freiheit die „freie Individualität“ als Wesen und zugleich als Entwicklungsziel des Menschen beschrieb, so ist auch die Freiheit des Geisteslebens eine innere, jedem Menschen zustehende und doch täglich erst zu realisierende Freiheit. Ihr Inbegriff ist die geistige Aktivität und geistige Produktivität im Hinblick auf das gesamte soziale Leben. Der Produktivität muss auf der anderen Seite eine „freie Empfänglichkeit“ entsprechen, also die Bereitschaft der Mitmenschen, die Produkte des Geistes entgegenzunehmen. Daher ist das freie Geistesleben keineswegs abgehoben von den anderen Bereichen des menschlichen Lebens, sondern es wirkt unmittelbar in diese hinein. [...] Lebensbedingungen eines freien Geistesleben sind in dieser Hinsicht gleichbedeutend mit Lebensbedingungen geistiger Produktivität. (S.93)

Was aus dieser Quelle [des Geisteslebens] stammt, muß in den gesunden sozialen Organismus auf ganz andere Art einfließen, als dasjenige, was im Warenaustausch lebt und was aus dem Staatsleben fließen kann. Es gibt keine andere Möglichkeit, diese Aufnahme in gesunder Art zu bewirken, als sie von der freien Empfänglichkeit der Menschen und von den Impulsen, die aus den individuellen Fähigkeiten selbst kommen, abhängig sein zu lassen [...] Für das Geistesleben, mit dem auch die Entwickelung der anderen individuellen Fähigkeiten im Menschenleben durch unübersehbar viele Fäden zusammenhängt, ergibt sich nur eine gesunde Entwickelungsmöglichkeit, wenn es in der Hervorbringung auf seine eigenen Impulse gestellt ist, und wenn es in verständnisvollem Zusammenhange mit den Menschen steht, die seine Leistungen empfangen.
Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage, GA 23, S. 80f.

„Geistesleben“ ist alles, was jeder einzelne Mensch durch seine Fähigkeiten in das Gemeinschaftsleben einbringt. Wirtschafts- und Rechtsleben sind daher auf die Leistungen des Geisteslebens vollkommen angewiesen.

Freiheit des Geisteslebens besteht vor allem in der individuell zu erringenden inneren Freiheit, die durch Selbsterkenntnis und geistige Produktivität entsteht – und die wichtigste Aufgabe des freien Geisteslebens selbst ist die Ermöglichung „freier Geister“.

Innere Bedingungen eines freien Geisteslebens

Gerade in der jüngst vergangenen Zeit zeigt sich immer deutlicher, daß der gefährlichste Feind des freien Geisteslebens nicht von „außen“ kommt, sondern daß Einrichtungen des freien Geisteslebens Gefahr laufen können, an sich selbst zugrunde zu gehen. Diese Gefahr besteht immer dann, wenn es nicht gelingt, den vorhandenen Freiraum von „innen“ zu erfüllen. Daß sich engagierte und vernünftige Menschen mit anderen ebensolchen zu einer Arbeitsgemeinschaft (einem Kollegium o. ä.) vereinigen und dann nach einiger Zeit sich und die ursprünglich selbst gewählten Aufgaben in diesem Kreis nicht wiederfinden ‑ das gehört zu den heute einschlägig gewordenen, schmerzlichen Erfahrungen. (S.103)


Freies Geistesleben kennt keine vorgegebenen Ziele – um so wichtiger ist es, dass die Mitwirkenden sich ihre Aufgaben und Ziele täglich selbst bewusst machen. Dieses Aufgabenbewusstsein heißt im Kleinen z.B. schon, in einem Gespräch das Ziel im Auge zu behalten. Sonst verrennt man sich leicht in Details oder bleibt in den mitgebrachten Standpunkten stecken – und fängt nächstes Mal wieder von vorne an.

Was so schon für jedes einzelne Gespräch gilt, betrifft erst recht eine Arbeitsgemeinschaft (einen Betrieb, eine Schule, ein Institut) im ganzen. Was wollen wir in der nächsten Zeit leisten? Diese Frage ist ständig lebendig zu halten. Wo liegen die Problemfelder, die wir angehen wollen? Woher kommen diese Probleme? Kommen sie aus uns selbst, aus unserer Umgebung, aus dem Zeitenschicksal? Haben wir überhaupt ein gemeinsames Problembewußtsein, oder leben wir nach persönlich orientierten Zielen? (S.108).

Leitideen als Produkte der „moralischen Phantasie“

Wenn Problemlösung zur Hauptsache wird, ist das freie Geistesleben schon gelähmt. Die eigentlichen Aufgaben drängen ja nicht aus der Vergangenheit, sondern sie leuchten aus der Zukunft herein. Was davon zur Zielsetzung des Handelns wird, entspringt aus „Intuitionen freier Geister“. Bei der Zusammenarbeit im freien Geistesleben wird immer im Bewußtsein bleiben müssen, daß nicht nur das tägliche Vorgehen der Selbstbestimmung unterliegt (Selbstverwaltung), sondern daß auch die großen Ziele der Arbeit ständig neu errungen werden müssen.
Fehlen existentielle Anliegen, dann wird sogenanntes Geistesleben leicht zur Spielwiese einer postmodernen Beliebigkeit. Aber auch auf der anderen Seite lauern Gefahren. Nichts liegt ja näher, als nun Pläne aufzustellen, Fernziele, Etappenziele usw. festzulegen. Auch das wäre das Ende eines freien Geisteslebens. Denn in dem Moment, in dem ich nach einem Programm vorgehe (auch wenn es von mir selbst stammt), lebe ich aus einer Geistigkeit, die „von gestern“ ist. (S.109).

Im Hinblick auf die Zielvorstellungen muß also eine Bewußtseinshaltung entwickelt werden, die ebenso offenlassend ist wie sie jederzeit konkret werden kann. Das klingt widersprüchlich. Der Widerspruch löst sich aber auf, wenn an die Stelle von festen Vorstellungen etwas tritt, was man vielleicht als „Leitideen“ bezeichnen kann. Diese haben keinen begrifflich festgelegten Charakter, sondern sie regen an und rufen durch sich selbst zu weiteren Ausgestaltungen auf. Leitideen erschließen einen weiten Horizont, gehen aber zugleich den Einzelheiten nicht aus dem Wege. Sie können jeden Tag neu bis in einzelne Maßnahmen hinein konkretisiert werden. [...]
Da diese Zukunftsideen keine fertigen Vorstellungen sind, sondern Willensrichtungen kennzeichnen, bleiben sie im Fluß. Man kann über sie keine formalen Beschlüsse fassen. Man kann sich über sie nur verständigen. Produzieren kann solche Bilder oder Ideen nur der einzelne Mensch. In der geistigen Auseinandersetzung mit anderen aber kann ihre Entstehung gefördert werden. Das Leben einer Institution des freien Geisteslebens hängt davon ab, daß es solche Bilder gibt, daß jeder die Bilder des anderen kennt und daß gemeinsame Bilder entstehen. (S.110f).

Die innere Kraft, die zu diesem Handeln nach selbstgeschaffenen Leitideen nötig ist, wird in der Philosophie der Freiheit als „moralische Phantasie“ bezeichnet. [...] Produkte der „moralischen Phantasie“ schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern ergänzen und erweitern sich. Dem entspricht dann auch die Art ihrer Realisierung. Leitideen werden evolutiv ver­wirklicht, nicht definitiv. Da die in jedem Augenblick bewußte Leitidee einen weiten Horizont des Handelns schafft, ist es aus­reichend, jeweils nur den nächsten Handlungsschritt detailliert auszugestalten. Ist er vollzogen, wird man den nächsten Schritt konkretisieren. Durch dieses Vorgehen ergibt sich lebensmäßig die eine Handlung aus der anderen, ohne daß doch der große Zusammenhang fehlt. [...]
Wer sich um Leitideen in dem angedeuteten Sinne bemüht, sieht sich sofort mit dem Geheimnis der menschlichen Freiheit konfrontiert. [...] Woraus also entwickle ich in Freiheit meine Leitideen? Ich muß hier realisieren, was man als Freiheit durch „Integrati­on“ (im Gegensatz zur scheinbaren Freiheit durch Isolation) be­schreiben kann. [...] Was zunächst von mir aus gesehen als „Au­ßenwelt“ gilt, wird mehr und mehr zu einer „Welt“, als deren Glied ich mich erleben kann. Und aus diesem Einswerden von Ich und Welt erstehen die Zukunftsaufgaben für mein eigenes Handeln. Nicht ich setze mir die Aufgaben, sondern sie kommen mir aus meiner Umgebung zu. [...] Ein [...] Geheimnis des freien Geisteslebens besteht darin, daß es nicht auf Perfektion ankommt, wohl aber darauf, sich in die Richtung zu bewegen ‑ vom Weg zu wissen, ohne schon das Ziel erreicht zu haben. Wenn der Wille zur Gestaltung von Leitideen vorhanden ist und wenn man bemerkt, daß man dabei nicht „der Alte“ bleibt, dann ist die Möglichkeit gegeben, daß freies Geistesleben gelin­gen kann. Für die Gestaltung der Zukunft ist nicht das bereits Erreichte maßgebend, sondern der ernste (nicht mit „Wunsch“ zu verwechselnde) Wille. Durch ihn kommt aus der Zukunft Gestaltungskraft in die tägliche Gegenwart hinein. (S.112ff).

Das Individualitätsprinzip der Gemeinschaftsbildung

Die Zusammenarbeit im Geistesleben kann weder auf Hierarchie und Weisung, noch auf demokratischen Modellen beruhen:

Über Wahrheitsfragen und Fähigkeitsfragen kann man nicht abstim­men. Gesamtbewußtsein kann nicht beschlossen, sondern es muß gelebt werden. Und die Handlungen der einzelnen verlieren ihren individuellen Charakter, wenn sie aufgrund von Abstim­mungen oder formalisierten Berechtigungen zustande kommen. Fähigkeiten können nicht durch Ämter ersetzt werden. [...] Unabhängig von der Art ihres Zustandekommens sind kollek­tive Beschlüsse (Gremienbeschlüsse) dem Geistesleben unange­messen. [...] Selbst wenn Gremienbeschlüsse kon­fliktfrei gefällt werden, leidet allzuoft die „Sache“. Man macht Kompromisse. Das System kollektiver Kollegialität bestätigt sich selbst. (S.116f)

Im geistigen Leben kann nicht jeder ein Urteil haben; im geistigen Leben kann jeder nur das Urteil haben, zu dem er befähigt ist. Da muß alles aus der Individuali­tät herauskommen. Das geistige Leben muß auf die Individualität gebaut sein.
Rudolf Steiner, 29.8.1922, GA 305, S. 231.

Gegenüber den beiden genannten Formen von Wirklichkeits­fremdheit, der Hierarchie und der Kollektivität, ist ein anderes Gestaltungsprinzip für die Gemeinschaftsbildung im freien Gei­stesleben geltend zumachen. Es ist leicht zu beschreiben, erfordert aber in der Praxis hohe menschliche Qualitäten. Man kann es das Individualitätsprinzip der Gemeinschaftsbildung nennen. Es be­ruht darauf, daß man nur in Ausnahmefällen Gemeinschaftsent­schlüsse trifft, daß vielmehr die verschiedenen Aufgabenbereiche von einzelnen Menschen in eigene Verantwortung übernom­men werden. (S.117)

Die individuellen Voraussetzungen des Individualitätsprinzips sind der Blick für das Ganze, Offenheit und Initiative. Dazu gehört ganz wesentlich die Bereitschaft, Ergänzungen des eigenen Blickes durch andere Urteile und Standpunkte zu suchen und sich von allgemeinen Prinzipien zu trennen. Strukturelle Voraussetzungen sind Vertrauensbildung, Information und individuelle Verantwortlichkeit. Durch Vertrauen wächst der Einzelne „über sich hinaus“, das heißt aber, er kommt überhaupt erst zu seinem eigentlichen Wesen. Individualitätsprinzip heißt, aus dem Willen zur Verwirklichung des höheren Selbst zu handeln. 

An dieser Stelle ist festzu­halten, daß es Formen der Zusammenarbeit gibt, die in besonderem Maße Vertrauen benötigen und zugleich auch ermöglichen. Eine solche Form ist die strukturelle Unterscheidung zwischen Beratung und Entschluß. Es gilt, wie oben angedeutet, schon für jedes Gespräch, daß man gut daran tut, Erörterungen und Be­schlüsse nicht zu vermischen. Allzuoft kommen wirkliche Ent­schlüsse gar nicht mehr zustande. Man redet so lange um eine Sache herum oder in die Sache hinein, bis die Gesprächszeit um ist. Dann gilt das jeweils zuletzt Gesagte plötzlich als Beschluß. Oder man glaubt, Einmütigkeit erreicht zu haben ‑ dabei ist vielleicht in Wirklichkeit nur der kleinste gemeinsame Nenner herausgekommen. Trennt man jedoch zwischen Beratung und Entschluß, so ist es in der Beratungsphase möglich, auch einmal Halbfertiges zu äußern, durch das dann wiederum andere zum Weiterdenken angeregt werden. Wenn Sachfragen in den Bera­tungen oftmals gar nicht umfangreich genug erwogen werden, so liegt das auch an der verbreiteten Ängstlichkeit, eine geäußerte Ansicht könnte allzu fix zum Beschluß werden, wenn man nicht schnell etwas einwendet.
Was so schon für jeden Gesprächsverlauf gilt, gilt erst recht für die ständige Zusammenarbeit von Entscheidungsträgern in ei­nem freien Geistesleben. Wenn die Entschlüsse weitgehend von einzelnen gefaßt werden, dann setzt dies nicht nur voraus, daß sich jeder einzelne in die Gemütslage seiner Kollegen hineinver­setzen kann, sondern es setzt auch voraus, daß er ihren Rat aktiv sucht. Durch diese Art von Beratung kommt das Gemeinschaft­liche in den Urteilsprozeß hinein. Gemeinschaft trägt zur Ur­teilsbildung bei. Wenn aber die Entscheidung individuell getrof­fen und verantwortet wird, so wird dadurch zugleich verhindert, daß durch unterschiedsloses Zusammenfließen einzelner Positio­nen Kollektivität entsteht. Schlechtes Geistesleben heißt: Man überläßt die Initiative allen, das heißt niemandem, und jeder macht dann, was er will; in der Regel: Fehler. Wirksames Geistes­leben heißt: Der einzelne Verantwortliche prüft seine Initiative vor der Realisierung in der Beratung mit den anderen.
Dazu gibt es weitere Voraussetzungen. Zunächst einmal müssen alle Mitglieder eines Arbeitszusammenhangs auf demselben In­formationsstand sein. Wer verantwortlich tätig sein soll, muß ständig mit dem Gesamtgeschehen bewußt umgehen, nicht nur innerhalb von Sitzungen. Bei der Gemeinschaftsbildung nach dem Individualitätsprinzip wird vorausgesetzt, daß der einzelne die Aufgaben der Gemeinschaft zu seinen eigenen macht. Das kann er nicht nur anfallsweise. Dazu bedarf es eines gründlichen Informiertseins. Informieren ist zudem eine der wichtigsten ver­trauensbildenden Maßnahmen!
Zur Information hinzu kommt individuelle Verantwortlichkeit. Nicht Gremien verantworten, sondern einzelne. Schon dadurch kommt ein neuer Zug in die Gemeinschaft. Man weiß dann bei jedem Geschehen, wer es in der Hand hat und an wen man sich wenden kann. Man weiß auch, wenn etwas nicht oder nicht zureichend geschieht, wer verantwortlich ist. Die Verantwortung besteht nicht nur, wie heute meist üblich, gegenüber dem, was geschieht, sondern auch gegenüber dem, was nicht läuft, aber laufen müßte. [...] (S.121ff)

Nur auf dieser Grundlage kann die genannte Trennung zwischen Beratung und Beschluß, wie sie im Wirtschaftsleben längst üblich ist (als Stab‑Linien‑Organisation), auch in Einrichtungen des freien Geisteslebens verwirklicht werden. Nicht derjenige, der beraten will oder soll, drängt dem anderen seinen Rat auf, sondern der jeweils Verantwortliche selbst verspürt Beratungsbe­darf. Er sucht von sich aus den Rat anderer Menschen, die er sich selbst aussucht (ständige oder aktuell gebildete Beratungskreise; Einzelberatung, auch von außerhalb).
Für die Gemeinschaft der verantwortlichen Mitarbeiter selbst besteht außerdem eine gegenseitige Beratungspflicht. Diese ist zweiseitig: Der einzelne führt weitreichende Entschlüsse nicht durch, ohne die Ansichten seiner Kollegen dazu zu kennen. Er ist an diese Ansichten nicht gebunden, wird aber, gegebenenfalls in Einzelgesprächen, die Dinge soweit abklären, daß er sicher sein kann, sie werden auch von den anderen mitgetragen. Das alles aber darf nicht formal geregelt werden, sondern bleibt dem freien Spiel der Individualitäten überlassen. Nur so kann das notwendi­ge Vertrauen entstehen. Umgekehrt ist jeder Verantwortliche ver­pflichtet, jeden seiner Kollegen mit Rat zu unterstützen; das heißt, sich dessen Fragen ernsthaft anzunehmen und gegebenen­falls von selbst auf ihn zuzugehen, wenn etwas fehlzulaufen droht.
In der Praxis ist ein solches Vorgehen außerdem noch zeitspa­rend: Wer einen Entschluß fassen will, der alle betrifft, wird sich vorab gerade mit denjenigen in Verbindung setzen, von denen er vermutet, daß sie mit diesem Entschluß nicht zufrieden sein könnten. Vielleicht ergeben sich in diesem Gespräch auch für ihn neue Gesichtspunkte, zumindest aber wird niemand durch einen Beschluß überrumpelt. (S.123f)

Das notwendige geistige Milieu

Damit unfähige Kollektive nicht einfach durch unfähige Einzelpersonen ersetzt werden, kommt es darauf an, das höhere Ich immer mehr zur Geltung kommen zu lassen, den „Einschlag“ von Intuitionen zu ermöglichen (lat. intuition betont das denkend-erlebende Anschauen, griech. epibole jenen Einschlag). Eine Gemeinschaft fragt also zum Beispiel nach einer Konferenz nicht nur, ob jeder zu Wort gekommen ist, sondern ob man erfasst hat, was jeder meinte, ob man den geäußerten Ideen als solchen wirklich gerecht wurde, ob sie zuende gedacht wurden. Auf diese Weise werden die einzelnen Gedanken immer mehr zu Aspekten eines Gemeinsamen – die „Einigkeit der Ideenwelt“ wird Lebensrealität.

Ein entscheidender Faktor für das freie Geistesleben ist schließlich die Pflege eines wirklich geistigen „Milieus“ - letztlich die Grundlage für alles zuvor Genannte. Dazu gehören
- Frage-Stimmung (Interesse, Staunen, Problembewußt­sein),
- Kontinuität (im Bewußtsein, in der Aufmerksamkeit),
- Kommunikationswille (Information, Gesprächsführung) und
- Selbsterkenntnis aus einer spirituellen Menschenkunde. 

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß es bei all den anzustrebenden Bedingungen für das Gelingen eines freien Geisteslebens nicht auf Perfektion ankommt, sondern auf den individuell vorhande­nen festen Willen zur Selbsterziehung. Dazu aber muß ich wissen, wohin ich mich entwickeln will. [...] Einzelne Entwick­lungsschritte nützen mir nichts, wenn ich sie nicht einzuordnen weiß. Das heißt aber, daß ich ohne eine Menschenkunde nicht auskomme. [...] Wer behauptet, kein Menschenbild zu haben, ist intellektuell fahrlässig. Denn er hat mit Sicherheit eines, er merkt es nur nicht oder will es nicht wahrhaben. Weltanschauliche Neutralität ist aber durch Mangel an Selbsterkenntnis gerade nicht zu errei­chen. ‑ Dieser Mangel hat eine gravierende Folge: er verhindert Freiheit. Wenn ich meine diesbezügliche Vorgeprägtheit verleug­ne oder verdränge, nehme ich mir jede Freiheit zur Weiterent­wicklung. Denn um mich bewußt weiterentwickeln zu können, muß ich das Ziel vorher gedanklich ins Auge fassen können. [...]
Dazu brauche ich notwendigerweise [...] eine Menschenkunde, durch die mein Blick auf anthro­pologische Tatsachen und Entwicklungen geschärft wird. In die­sem Sinne ist die anthroposophische Menschenkunde ‑ das übersehen ihre Kritiker zumeist ‑ gar kein Menschenbild in demselben Sinne wie die meisten anderen in unserem Jahrhun­dert; sondern sie ist ein perspektivischer Blick auf den Menschen, seinen Zusammenhang mit der Weit, seine Entwicklung (in Ver­gangenheit und Zukunft), sein Freiheitswesen“ [...]
Wer darauf verzichten wollte, hätte den Freiheitsmoment in seiner Entwicklung verspielt. Entweder er folgte dann dumpf irgendwelchen undurchschauten Menschen­bildern, oder er müßte sich seine eigenen Entwicklungsschritte von anderen Menschen vorgeben lassen, die besser durchblicken (Gurus, Vorgesetzte etc.). Er verlöre auf diese Weise seine Frei­heit dadurch, daß er sie nicht verwirklicht. (S.133ff).