Eltern und Lehrer an der Waldorfschule

Die Beziehung zwischen Eltern und Lehrern ist an den meisten Waldorfschulen nicht unproblematisch. Genauer gesagt ist diese Beziehung immer wieder Belastungen und Krisen ausgesetzt. Diese Krisen sind für alle Beteiligten äußerst unbefriedigend, doch weiß man in der Regel nicht, wie man sie hätte vermeiden können – oder in Zukunft vermeiden könnte.


Abgesehen von früheren Veröffentlichungen zum Thema sind inzwischen hervorragende Schriften erschienen, die Wege zu einem heilsamen Zusammenwirken zwischen Eltern und Lehrern weisen und auf entsprechenden Erfahrungen beruhen.

Hans Wilhelm Colsman verbreitete seit vielen Jahren die Idee des „Schulrats“, der als zentrales Organ der Waldorfschule Essen seit ihrer Gründung 1972 erfolgreich arbeitet. Nach 33 Jahren Erfahrung mit diesem Modell veröffentlichte Colsman 2005 – ein Jahr vor seinem Tod – die grundlegende Schrift „In guter Verfassung!“

Karl-Martin Dietz arbeitet bereits seit vielen Jahren unter anderem an Fragen der Selbstverwaltung. Anfang 2006 veröffentlichte er Erfahrungen, die er und seine Kollegen im Friedrich von Hardenberg Institut in Heidelberg gesammelt und auf deren Grundlage sie ein für jeden selbstverwalteten Zusammenhang wegweisendes Konzept entwickelt haben: „Dialogische Führung an Waldorfschulen“.

Bereits 2002 hatte Dietz seine Schrift „Eltern und Lehrer an der Waldorfschule – Grundzüge einer dialogischen Zusammenarbeit“ veröffentlicht. Diese erschien 2007 in einer gründlich bearbeiteten zweiten Auflage.

Die sehr gedrängte Wiedergabe wesentlicher Gedanken dieser drei hervorragenden Arbeiten sollen auf ihre Bedeutung hinweisen und dazu anregen, sie vollständig zu lesen und durchzuarbeiten. Im folgenden werden zunächst die von Dietz formulierten immer wiederkehrenden „wechselseitigen Klagen“ von Eltern und Lehrer sowie „Fragen zur Selbstprüfung“ zitiert, mit denen eine Schulgemeinschaft sich bewusst machen kann, wo sie im Moment „steht“. Im Anschluss daran sind Worte Rudolf Steiners zusammengestellt, die Dietz zusammengetragen hat. Danach werden wesentliche Gedanken und Erläuterungen aus der Schrift von Dietz zusammengefasst wiedergegeben. Auf zwei weiteren Seiten findet sich ein Überblick über die >> „Dialogische Führung...“ und über Colsmans Buch zum >> Essener Modell eines „Schulrats“.

 

Wechselseitige Klagen von Eltern und Lehrern

1. Eltern klagen über Lehrer, sie würden nicht ernst genommen, son­dern als Kollektiv behandelt; der Einzelne gelte nur als Exemplar sei­ner Gruppe („die Eltern“) – Lehrer beklagen sich über Eltern, dass diese immer nur Forderungen stellen oder mit Zumutungen kommen und nicht berücksichtigen, dass auch der einzelne Lehrer nur ein Mensch ist, überlastet und unter Umständen mit Privatproblemen behaftet. – Stellt man beides nebeneinander, so stellt sich sofort eine Entsprechung heraus. Man beklagt sich wechselseitig darüber, von den jeweils anderen nicht individuell ernst genommen zu werden.

2. Eltern beklagen sich darüber, sie würden ausgegrenzt, erführen nichts, seien auf Gerüchte angewiesen, wenn sie im Schulleben überhaupt etwas Wichtiges mitbekommen wollten. Dieser unter den gegebenen Umständen unvermeidliche Einstieg in die Gerüchteküche werde ih­nen dann noch zum Vorwurf gemacht. ‑ Lehrer beklagen sich über Eltern dahingehend, dass diese immer nur ihr eigenes Kind sähen und sich nur meldeten, wenn sie unzufrieden seien ‑ bis hin zur Oppositi­on, zu Parkplatzgesprächen (gefürchtet nach Elternabenden) oder Elternstammtischen. – Auch wenn man diese beiden Klagen neben­einander hält, zeigen sie etwas Gemeinsames: Es fehlt der jeweilige Blick auf das gemeinsame Ganze, den Schulorganismus.

3. Eltern beklagen sich: Wenn Lehrer einmal wirklich von sich aus auf sie zukämen, dann entweder mit Belehrungen oder mit Forderungen. Die Belehrungen zeigten nicht selten eine relativ platte, manchmal dogmatische Form und einen auf Schlagwörter reduzierten „Waldorf­hintergrund“, der nicht wirkliche Einsichten vermittelt. In diesem Zu­sammenhang wird auch oft ein Desinteresse der Lehrer an einer Zu­sammenarbeit mit den Eltern beklagt: Sie erschienen nicht zu gemein­samen Arbeitskreisen, ließen sich in einem „Eltern‑Lehrer‑Kreis“ be­stenfalls von Einzelnen vertreten usw. – Lehrer klagen darüber, dass Eltern wenig Verständnis oder auch gar kein Interesse an der Waldorf­pädagogik hätten. Sie suchten eigentlich nur eine möglichst optimale Anpassung an staatliche Leistungsanforderungen, also gute Abschlüsse und weniger Stress für ihre Kinder. – Auch diese beiden Seiten von Klagen haben etwas Gemeinsames: Es wird wechselseitig ein aktives Verhältnis zur „Waldorfidee“ vermisst.

4. Eltern stellen fest, wenn sie einmal mit jemandem über eine Richtungs­entscheidung des Kollegiums sprechen und deren Hintergründe er­fahren wollen: dass sie dann unter Umständen keinen wirklichen Gesprächspartner finden. Die einen „waren nicht dabei“, die anderen „waren auch dagegen, sind aber überstimmt worden“. Eine dritte (sel­tener zu beobachtende) Gruppe steht deutlich bemerkbar nicht hinter dem Konferenzbeschluss, stellt sich aber aus Solidarität davor – auch kein satisfaktionsfähiges Gegenüber! Andere verweisen einfach auf den „Kollegiumsbeschluss“, über den nicht mehr zu reden sei. Dieses Erlebnis hat, wie schon berichtet wurde, einmal jemand so ausge­drückt: „Manchmal weiß man gar nicht mehr: Wer ist eigentlich die Schule?“ Es wird also ein Mangel an Identifikation mit dem Ganzen beklagt. – Fast mit denselben Worten kann man das auch von der anderen Seite hören. Lehrer werfen Eltern vor, sie identifizierten sich nicht genügend mit ihrer Schule und mit der Pädagogik. – Gemeinsa­me Klage also: Fehlende Identifikation mit dem Ganzen, dem man angehört.

Karl-Martin Dietz: Dialogische Schulführung an Waldorfschulen, S. 138-139.

Fragen der Selbstprüfung für den Dialog zwischen Lehrern und Eltern

– Wie werden Eltern von Lehrern angesprochen? Mit wel­chen Themen und Anliegen kommt das Kollegium auf die Elternschaft zu?
– Welche Initiativen gehen von Eltern aus? Wie werden sie vom Kollegium aufgenommen?
– Wenn der Gesprächspartner befremdlich reagiert: habe ich geprüft, wie weit sein Verhalten von meinem eigenen Verhalten beeinflusst sein könnte?
– Wann habe ich mich das letzte Mal dabei ertappt, "die Lehrer" oder "die Eltern" zu denken?
– Werden alle Eltern (und alle Lehrer) über alle wesentli­chen Vorgänge der Schule rechtzeitig und umfassend in­formiert? Welche Instrumente der Elterninformation gibt es (Mitteilungsblatt, Schulzeitschrift usw.)? Werden die vorhandenen Instrumente optimal genutzt?
– Gehen Eltern offen auf Lehrer zu, wenn sie Fragen, Wünsche oder Anregungen haben?
– Bei welchen Gelegenheiten werden Eltern zur Mitberatung hinzugebeten?
– In welche Entscheidungen werden Eltern einbezogen? Auf welche Art geschieht das?
– Besteht Furcht vor einem Mitbestimmungswillen von Eltern? Weshalb? Ist diese Furcht aus dem Weg zu räu­men?
– Ist die geistige Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern lebendig oder geht es meist um Rechte und Pflichten? Für welche Vorgänge an der Schule fällt es den Eltern schwer, ein "lebendiges Verständnis" zu erwerben? Wissen sie, wie sie dem abhelfen können (Ansprechpartner o.ä.)?
– Wenn ich als Lehrer die Augen schließe und "meine Schule" denke: Gehören dann die Eltern dazu?
– Wenn ich als Mutter oder Vater "meine Schule" denke: Sind das dann "die da" oder "wir"?
– Wie kann das konkrete Zusammenwirken von Kollegium und Elternschaft noch verbessert werden?
Karl-Martin Dietz: Eltern und Lehrer an der Waldorfschule, S. 78-79.

 

Zitate Rudolf Steiners zur Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern (Dietz, S. 16-40)


In verschiedenen Worten weist Steiner immer wieder darauf hin,
dass die Waldorfschule nur dann fruchtbar wirken kann, wenn sie auf wirklicher geistiger Zusammenarbeit beruht. Denkweisen, die Lehrern oder Eltern bestimmte Rollen (Angestellte, Leistungsabnehmer...) zuweisen wollen, berücksichtigen nicht, dass das gemeinsame Anliegen ganz andere Einstellungen erfordert. Dietz fasst wesentliche von Rudolf Steiner berührte Aspekte wie folgt zusammen:

– Eltern sind die freien Partner der Lehrer in der Erziehung der Kinder. Erziehung kann sinnvoll nur von beiden Seiten geleistet werden – eine Gegenseitigkeit, die Synergie erzeugt.
– Vertrauensvolles Zusammenwirken ist Grundlage für das Einvernehmen zwischen Lehrerschaft und Elternschaft. Dieses ist nötig, um den Schulidealen "Schlagkraft" zu verleihen.
– Das Verständnis der Eltern für die Pädagogik der Waldorfschule ist ein Freiheitsakt, bei dem einseitige Belehrung oder Autoritätsglaube nicht in Betracht kommen. Andererseits braucht der Lehrer das Verständnis der Eltern, um innerlich lebendig zu bleiben.
– Waldorfpädagogik beruht auf einer umfassenden Wahrnehmung des einzelnen Kindes. Diese kann nur gelingen, wenn dabei auch die Eltern einbezogen werden. Umgekehrt gehört dazu, dass auch der Lehrer sich den Eltern in seiner Wesenheit zeigt. Die menschlich-individuelle Begegnung von Eltern und Lehrern wird zur tragenden Säule der gemeinsamen pädagogischen Bemühung.
– Da die Waldorfpädagogik keine vorab definierten oder allgemein verbindlichen Lehrpläne, Verfahrensweisen und Richtlinien kennt, muss sie von den Lehrern fortlaufend entwickelt werden. Das ist nur möglich in Anlehnung an die Elternhäuser.
– Die Eltern mit ihren verschiedenen sozialen Umfeldern und Berufserfahrungen sind für die Lehrer eine wichtige Schnittstelle zur Gesamtgesellschaft.
(Dietz, S. 14)

 
Dem von Steiner betonten geistigen Zusammenwirken sind Forderungen, Rechte und Pflichten (Kategorien des Rechtslebens) ganz fremd: Weder sollten Eltern diese Zusammenarbeit erst fordern müssen, noch dürfen sie auf eine rein finanziell-verwaltende Funktion beschränkt werden.

Das Grundprinzip im Geistesleben ist „Produktivität“ und „freie Empfänglichkeit“: Jede Idee kann sozial (nur) wirksam werden, wenn sie auf (an)erkennendes Interesse stößt.

Das herzliche Zusammenwirken von Eltern und Lehrern bildet die Grundlage der Waldorfschule. Steiner benennt diese Voraussetzungen nicht als ethische Forderungen – sie können vom Einzelnen nur selbst aus freiem Entschluss angestrebt werden.

Manfred Leist schrieb schon 1986 in seinem Buch „Eltern und Lehrer. Ihr Zusammenwirken in den sozialen Prozessen der Waldorfschule“:

Es braucht nicht befürchtet zu werden, dass ein Kollegium für seine ernsthaft begründeten Wünsche und Vorschläge keine volle Resonanz in der Elternschaft finden würde, wenn nur das anstehende Problem rechtzeitig in eine offene Beratung hineingenommen wird. Es ist ohnehin eine allgemeine soziale Erfahrung, dass der weit überwiegende Teil aller im Gemeinschaftsleben auftretenden Schwierigkeiten darauf beruht, dass nicht rechtzeitig und nicht offen genug informiert wurde und dass man den Mitbetroffenen nicht genug Gelegenheit gegeben hat, sich mit dem betreffenden Fragenkomplex auseinanderzusetzen. Hieraus ergeben sich nun in der Tat für eine Schulgemeinschaft ernste Forderungen nach langfristiger und gemeinsamer Planung.
Manfred Leist, Eltern und Lehrer. Ihr Zusammenwirken in den sozialen Prozessen der Waldorfschule, Stuttgart 1986, S. 34f.
(zit. nach Dietz, S. 47)


Stefan Leber betont in seinem Buch „Sozialgestalt der Waldorfschule“ (1991):

Obgleich die pädagogische Zielsetzung durch die Lehrerschaft in ihrer Gesamtheit verantwortet wird, muß aber gleichzeitig volle Offenheit für Anregungen aus und die Beratung mit der Elternschaft bestehen. Sie ist nach den Bildeprinzipien von ‚Hervorbringung’ und ‚Aufnahme’ sogar unerlässlich, wenn sich die Institution nicht selbst schädigen soll.
(zit. nach Dietz, S. 51)


Dietz verweist dann auf das erfolgreiche Essener Modell des „Schulrats“, eines Organs für partnerschaftliche Zusammenarbeit (statt Partizipation, Kontrolle etc.), das volle Transparenz gewährleistet und die Entfaltung individueller Initiative fördert. 

Dennoch muss die Gesinnung der geistigen Zusammenarbeit immer wieder bewusst gepflegt werden, um dem gewohnten Rollendenken und anderen menschlichen Schwächen immer wieder (und immer besser) begegnen zu können. Eltern und Lehrer tragen und gestalten die Schule gemeinsam, die Lehrer sind außerdem noch Lehrer, die Eltern außerdem noch Eltern. Wie unsachgemäß, Rollenzuschreibungen sind, zeigt Dietz anhand der Überlegung, dass es durchaus Eltern gibt, die sich engagierter für die Entwicklung der Schule einsetzen und sogar tiefer in die Anthroposophie und Waldorfpädagogik eingearbeitet haben als mancher Lehrer. Wichtig ist immer, die Zusammenarbeit nicht zu „ver-rechtlichen“ („wer darf was mitentscheiden?“), denn dann bewegt man sich sofort in den Empfindungen von „Einmischung“ und „Ausgrenzung“, ein lebendiges Geistesleben wird nicht erreicht.

Die entscheidenden Fragen einer „dialogischen Zusammenarbeit“ sind:

Wie gestalten man die Zusammenarbeit so, dass
- die Einzelnen sich wirklich individuell begegnen (ernst nehmen)
- der Einzelne ein eigenständiges Verhältnis zum Ganzen erwerben kann und aus diesen Aspekten die gemeinsame Wirklichkeit entsteht?
- der Einzelne schöpferisch werden kann und dabei insbesondere die Zukunft der Schule im Blick bleibt?
- der Einzelne initiativ wird und daraus gemeinsames Handeln entsteht? 

Die Antworten liegen in den von Dietz beschriebenen „dialogischen Prozessen“ (ausführlicher in seiner Schrift „Dialogische Schulführung an Waldorfschulen“).

1. Individuelle Begegnung: Ein tragfähiger Konsens entsteht nicht durch „gleiche Ansichten“, sondern durch Achtung vor der Eigenart des Anderen.

2. Transparenz: Ein Schulführungskreis darf nicht warten, welche Informationen von ihm verlangt werden. „Wissen ist Macht“, aber im selbstverwalteten Organismus gilt: „Selektives Wissen ist gemeinsame Ohnmacht“. Eine „Transparenz auf Verlangen“ verbleibt im misstrauischen Polaritätsdenken.

3. Beratung: Hier kommt es ganz auf die umfassende Beteiligung aller an, die etwas beitragen können und wollen (individuelle Fähigkeiten und Engagement).

4. Entschluss: Entscheidungen werden selten fruchtbar in größeren Kreisen gefasst. Sie sollten von dem getroffen werden, die dann auch die Verantwortung tragen (müssen).