Dialogische Schulführung - bewußte Zusammenarbeit in der Selbstverwaltung

Karl-Martin Dietz: Dialogische Schulführung an Waldorfschulen. Menon-Verlag, 2006.

Das Buch von Karl-Martin Dietz enthält auf "nur" 175 Seiten eine Fülle von Erkenntnissen, Erfahrungen und detaillierten Hinweisen, die fruchtbar helfen werden, einen selbstverwalteten Schulorganismus von einem Ort zahlreicher, wiederkehrender sozialer K(r)ämpfe und Resignationen zu einer Stätte lebendigen Geisteslebens werden zu lassen. Selbstverwaltete Waldorfschulen können damit zu einem leuchtenden Vorbild dafür werden, wie Menschen in Zukunft überhaupt zusammenwirken können, wenn mit den freien Individuen gerechnet wird. Waldorfschulen als Vorreiter der Menschheitsentwicklung im Pädagogischen wie im Sozialen – dies ist nicht zu groß gedacht, wenn die in diesem Buch enthaltenen Gedanken und Ideen beherzigt werden. 


Im Anschluss an sein „erstes Konferenzerlebnis“ – eine Konferenz, bei der nichts herauskam und keine gemeinsame Linie erkennbar war – betont Dietz zunächst die Notwendigkeit einer echten Moderation. Dazu gehören folgende Aspekte:

- Schon im Vorfeld Vorabinformationen (Tagesordnung und ggf. weitere Hintergrundinformationen).
- Ausgangslage klären (Fragestellung, Sachstand, Ziel des Gesprächs; oft empfiehlt sich eine Einstiegsrunde, die sich ergebenden Fragestellungen werden notiert).
- Zusammenhänge wahren (Themenbereiche ordnen, Ergebnisse festhalten etc., Sachverhalte klären, Wahrhaftigkeit verteidigen).
- Intentionen gerecht werden (Das Gemeinte und die zugrunde liegenden Impulse zur Geltung kommen lassen).
- Produktives Klima herstellen (Killerphrasen zurückweisen, Fragestellungen offen halten, Ideenkeime aufgreifen etc.).
- Ziel im Auge behalten.
- Positivität (Das Anknüpfen an Positives fördern, „Goldkörner suchen“).
- Ergebnis festhalten. 

In der Selbstverwaltung kommt es auf jeden Einzelnen an. Freies Geistesleben ist keine Fragen von „Dürfen“, sondern von Fähigkeiten und Verantwortung. „Führung“ ist die Kunst, eine fruchtbare Zusammenarbeit zu ermöglichen. Die notwendigen Fähigkeiten sind tendenziell von jedem Einzelnen gefordert. Es geht hier weder um Hierarchien („Weisungen“), noch um Basisdemokratie („Kompromisse“), sondern, um die freie Anerkennung der je vorhandenen Fähigkeiten. Geistesleben findet nur statt, wenn sich „geistige Produktivität“ und „freie Empfänglichkeit“ begegnen und gegenseitig stärken. Dies erfordert auch, dass jeder Einzelne bewusst den Entschluss fasst, seine Fähigkeiten immer weiter zu entwickeln (Aufgabenbewusstsein statt Selbstverwirklichungsmentalität usw.).

Selbstverwaltung kann weder formalisiert noch imitiert werden, denn es kommt ganz wesentlich darauf an, den geistigen Impuls der Schulgemeinschaft lebendig zu halten.

- Der geistige Impuls macht das Spezifische unserer Schule aus. Ohne ihn wäre unsere Waldorfschule austauschbar ‑ man könnte auf sie auch verzichten. [...]
- Der geistige Impuls ist nichts Vorgegebenes, sondern lebt in den einzelnen Lehrern und Eltern (ggf. auch in einzelnen Schülern) auf je verschiedene Weise. Hinter den individuellen Impulsen aber kann ein gemeinsamer Horizont aufscheinen, den man als den "Geist der Schule" erleben kann. Aus dem geistigen Impuls heraus lassen sich die Zielsetzungen der Schule im Einzelnen entwickeln. Sie folgen nicht einem abstrakten Gedanken, sondern entspringen dem Einsatz der Beteiligten.
- Durch die Pflege des geistigen Impulses der Einzelnen in der Zusammenarbeit entsteht eine unverbrüchliche Gemeinsamkeit aller Beteiligten, aus der die Schule als Gemeinschaftsunternehmen ihre Kraft bezieht – über alle persönlichen Eigenheiten hinweg.
Karl-Martin Dietz: Dialogische Schulführung an Waldorfschulen. 2006. S. 51

 
Der Ausbildung der erforderlichen Fähigkeiten dient das dialogische Vorgehen – ein Zusammenwirken, in dem der Logos anwesend sein kann, indem es von Ich zu Ich geht und zugleich der Wirklichkeit verpflichtet ist. 

Für die Zusammenarbeit ergeben sich vier Aspekte, dialogische Prozesse und Fragestellungen:
Der Einzelne: Individuelle Begegnung – Wie wird der Einzelne ernst genommen und kann sich entwickeln?
Das Ganze: Transparenz – Wie gewinnt der Einzelne sein Verhältnis zum Ganzen?
Die Zukunft: Beratung – Wie wird der Einzelne schöpferisch und kann seine Ideen einbringen?
Das Handeln: Entschluss – Wie wird der Einzelne initiativ?
(Zu jeder Frage gehört umgekehrt immer auch der Bezug zum Ganzen: Wie fließt das Einzelne zum Ganzen zusammen?)

Die damit verbundenen Herausforderungen unserer Zeit sind:
- Interesse am individuellen Menschen – statt Rollenverhalten und Instrumentalisierung
- Eigenständigkeit jedes Einzelnen – statt Machtwissen und Meinungsdiktatur
- Geistige Produktivität und freie Empfänglichkeit – statt Tradition und Strukturvorgaben
- Handeln aus Initiative – statt Beauftragungsmentalität und Selbstverwirklichung


Dietz beschreibt nun die dialogischen Prozesse im einzelnen. Es sind Aufmerksamkeits- und Gestaltungsbemühungen im Dienste einer wirklich „dialogischen“ Zusammenarbeit.

Die vier dialogischen Prozesse

1. Individuelle Begegnung und ihre Ebenen
- Interesse / Wahr-Nehmen: Beruht mein „Interesse“ nur auf Sympathie, ist es in Wirklichkeit selbstbezogen. Es geht um ein echtes Interesse an dem, was der andere denkt, fühlt und tut – unter Zurückhaltung eigener Urteile und Vorurteile.
- Verstehen: Die Welt (und mich selbst!) mit den Augen des anderen sehen – warum denkt, fühlt und handelt der andere so?
- Fördern: Den anderen als „Werdenden“ sehen lernen – und dadurch diesen „Werdenden“ immer neu hervor-rufen und fördern. „Erkenntnis wird zu Liebe“.
- Achten: Begegnung wird immer mehr zum Rätsel und Geheimnis, zur Ich-Begegnung. Immer mehr nehme ich den anderen, wie er ist, und versuche stattdessen, mich weiterzuentwickeln.

2. Transparenz
- Information: Werden alle umfassend informiert? Wer nicht für Transparenz sorgt, ist für die entstehenden Gerüchte und sozialen „Gespenster“ verantwortlich – und verhindert, dass der Einzelne eigenständig im Sinne des Ganzen handeln kann. Gelebte Transparenz dagegen wirkt wahrhaft kultur-bildend.
- Kommunikation: Im Gespräch aus den individuellen Perspektiven und Wahrnehmungen eine Ganzheit entstehen lassen. Dabei sollte jeder Einzelne die eigenen „mentalen Prägungen“ immer wieder energisch hinterfragen (was halte ich für wahr, für wichtig, für möglich...?).
- Erkenntnis: Auf Grundlage des Tatsächlichen Erkenntnisurteile bilden (Durchschauen der Wirklichkeit und ihrer Zusammenhänge).
- Das Wesentliche in den Blick nehmen: Worauf kommt es an? Stellen wir die wesentlichen Fragen? (Sind wir auf der Höhe der Zeit? Wo finden wir Anregungen? ...)

3. Beratung
Um Zukunft gestalten zu können, muss der Zugang zur Sphäre der Ideen gefunden werden. Generell gesprochen sind dabei verschiedene Phasen zu unterscheiden: Mit Fragen leben – kreative Unruhe (sich von liebgewonnenen Vorstellungen trennen, Anregungen suchen usw.) – Inkubation der Idee (die Fragen sich selbst überlassen) – Intuition (Auftreten der Idee) – Ausformulieren der Idee – Prüfen und Konkretisieren – Durchführung.
Dieser ganze Prozess bildet den Kern des Geisteslebens und erfordert Zeit, Offenheit und Sensibilität.

4. Entschluss
Diese Phase ist inhaltlich und zeitlich strikt von der Beratung zu trennen. Erstens kann die Ideenbildung sich nur so fruchtbar entfalten, zweitens sollten an Entschlüssen jeweils nur die teilnehmen, die auch die Verantwortung übernehmen (für die Durchführung und die Folgen).

Das Prinzip der Delegation fügt sich zwanglos in diese dialogische Zusammenarbeit ein. Auch hierfür gibt Dietz wesentliche, hilfreiche Aspekte an.

Dass wenige oder gar Einzelne die Geschicke der Schule verantworten, klingt für manche Ohren bedenklich. Aber bedenklich ist es nur auf den ersten Blick. Denn es wird ja vorausgesetzt, dass diese Einzelnen sich bereits mit dem ganzen Prozess identifizieren (Prozessverantwortung), dass versucht worden ist, möglichst alle Betroffenen zu Beteiligten zu machen, dass jeder zu jedem Zeitpunkt Bescheid wusste, worum es geht, dass die Beratungsbemühungen und ihre Ergebnisse offen liegen usw. (Transparenz). Wer dann eine Entscheidung trifft, die gegen das Votum einiger Kollegen geht, ist sich darüber klar und wird die Betroffenen unter Umständen vorher darauf ansprechen. Und oftmals wird auch in solchen Fällen ein Verständnis erzielt, denn es ist ja auch denen, die anderer Ansicht waren, nicht gelungen, eine Lösung vorzuschlagen, die sämtliche Probleme aus dem Weg räumt. [...] Vielleicht muss man sich an den Gedanken noch gewöhnen: Entscheidungen durch Einzelne sind keine einsamen Entscheidungen, wenn sie dialogisch verlaufen. Es ist dabei an alles gedacht worden (dafür kann ja jeder bei dem Beratungsprozess selbst sorgen). [...] Wenn es dialogisch zugeht, ist es nicht wichtig, wer entscheidet. Man braucht keine bestimmten Strukturen dazu. Und wenn es nicht dialogisch zugeht, dann nützen die besten Strukturen nichts.
Karl-Martin Dietz: Dialogische Schulführung an Waldorfschulen. 2006. S. 125

Innere Schulung und spiritueller Individualismus

Vielleicht ist aus den bisherigen Darstellungen deutlich geworden, dass der Ansatz der dialogischen Prozesse eine innere Umwendung gegenüber den Denk‑ und Lebensgewohnheiten unserer Zeit bedeutet:

- Begegnung geht von der geistigen Individualität des Menschen aus und versucht, sie in den Ausprägungen der Persönlichkeit aufzusuchen und durch‑scheinen zu lassen.
- Transparenz geht von der Gesamt‑Situation aus, nicht von Ausschnitten, begrenzten (linearen) Kausalitäten oder vorgefassten Denkmustern. Sie versucht, die Einzelheiten in ihrem Zusammenhang zu erfassen und im Einzelnen das Ganze zu finden.
- Beratung versucht, vom geistigen Ursprungsimpuls der Schule aus die täglichen Situationen zu gestalten. Sie strebt nach Ideen nicht nur deshalb, weil man damit bereits aufgetretene Probleme lösen kann.
- Das Entschluss‑Wesen lebt in der individuellen Verantwortlichkeit für das Ganze der Schule. Es dient nicht der Selbstverwirklichung der Einzelnen und vermeidet Automatismen.

Alle vier Umwendungen beruhen auf bewussten Leistungen des Ich. Sonst treten sie nicht ein. Im Übrigen beruht die Waldorfpädagogik als solche auf denselben inneren Qualitäten:

1. Erziehung ist Menschen‑Begegnung und damit ein Tor zur Welt des Seelenlebens.
2. Erziehung dient dem Kennenlernen von Wirklichkeit und ist damit Tor zur natürlichen Welt.
3. Erziehung ist Anregung zum eigenen Denken und erschließt die geistige Welt.
4. Erziehung befähigt zum eigenständigen Handeln und konstituiert die Welt des Sozialen.

So liegen den Erziehungszielen dieselben inneren Umwendungen zugrunde wie dem Umgang der Erwachsenen untereinander ‑ Waldorfpädagogik und Selbstverwaltung hängen nicht zufällig eng zusammen.

Karl-Martin Dietz: Dialogische Schulführung an Waldorfschulen. 2006. S. 132-133


Wie weit letztlich alle Errungenschaften auf dem Gebiete der Selbstverwaltung über den Bereich des Schulorganismus hinausgehen, macht Dietz in seinem Schlusskapitel „Ausblick auf einen spirituellen Individualismus“ deutlich. Dort weist er nochmals auf die „inneren Umwendungen“ hin, die mit der Verwirklichung eines freien Geisteslebens in Zusammenhang stehen, und schließt sein Buch u.a. mit folgenden Sätzen: 

Die Pioniersituation, in der sich die Waldorfschule bei ihrer Begründung im Jahr 1919 befand, ist noch längst nicht vorüber. Im Gegenteil: Sie kommt vielleicht heute erst richtig zum Bewusstsein. Die Fragestellungen, auf die das Konzept der kollegialen Selbstverwaltung seit 1919 antwortet, kommen gesamtgesellschaftlich erst heute allmählich zutage. Es gibt deshalb keine Traditionen, Vorbilder und Gewohnheiten, auf die man sich stützen könnte. Wir befinden uns immer wieder im Zustand der erwähnten „kreativen Unsicherheit“, aus der heraus eine jeweils neu zu erschaffende Gemeinschaftsbildung entsteht. Wer dabei nur den Innenraum seiner Schule im Auge hätte, würde bald zum Exoten in einer von undurchschaubaren Vorschriften, ängstlichem Anpassungsverhalten und ungehemmter Egozentrik durchzogenen Umgebung. Er würde auch übersehen, dass die Aufbrüche zu einem neuen, spirituellen Individualismus allenthalben bereits zu bemerken sind. Die Mitgestaltung eines selbstverwalteten Schulorganismus gibt die Gelegenheit, nicht nur theoretisch über die Zukunft der Zivilisation nachzudenken, sondern diese praktisch auszuprobieren – mit allen Erfolgen und Rückschlägen, die bei einem solchen Unternehmen zu erwarten sind. Dieses Motiv leitete offenbar die von Rudolf Steiner beschriebene dritte Aufgabe der Eltern und Lehrer­ - durch die eigene Arbeit am Kulturfortschritt mitzuwirken.
Karl-Martin Dietz: Dialogische Schulführung an Waldorfschulen. 2006. S. 167