Der Schulrat - Zusammenarbeit von Lehrern und Eltern

Hans Wilhelm Colsman: In guter Verfassung! Menon-Verlag, 2006.

 Für die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern in der Waldorf­schule wird in den letzten Jahren verstärkt nach tragfähigen Formen gesucht. Hierzu leistet das Buch von Hans Wilhelm Colsman einen ent­scheidenden Beitrag. Es basiert auf einer seit Jahrzehnten [genauer: seit ihrer Gründung 1972] an der Esse­ner Waldorfschule hervorragend funktionierenden Einrichtung, dem so genannten „Schulrat“, in dem sich Eltern und Lehrer in differenzierter Gleichberechtigung gegenübersitzen. [...]
aus dem Vorwort von Karl-Martin Dietz

 

Die innere Verfassung vieler Waldorfschulen ist Besorgnis erregend. Fehlende Transparenz der Vorgänge in der Schule und latentes oder gar offenes Misstrauen unter den Beteiligten führen zu Resignation. Eltern wie Lehrer fühlen sich machtlos und damit außer Stande, gestaltenden Einfluss auf die erlebten Zustände zu nehmen. [...]

So ist es das Anliegen dieser Schrift, Schulen in problematischer sozialer Verfassung Wege aufzuzeigen, wie es gelingen kann, alle Mitglieder der Schulgemeinschaft zur fruchtbaren Mitgestaltung in einer von allen voll bejahten Gemeinschaft zu vereinen.

Fehlende Transparenz unterbindet das Mitdenken und damit Ent­wicklung und Einbezug von Vorstellungen und Anregungen der Elternschaft bei der Lösung von Schulproblemen.
Misstrauen vergiftet die Schulatmosphäre und trübt das urteilende Empfinden.
Resignation lähmt die Kräfte des Willens, des Tätigsein-Wollens zur Bewältigung der vielfältigen Aufgaben in der Schule.

Offenheit und Vertrauen können zur Grundlage der Zusammenarbeit werden. Befreit von dem Druck nicht veränderbar erscheinender Ver­hältnisse werden der Schule neue Ideen, Urteilskraft und Einsatzwillen von Lehrern und Eltern erschlossen. [...]

Mit der auf Offenheit und Vertrauen gegründeten Zusammenarbeit än­dert sich die gegenseitige Wahrnehmung von Lehrern und Eltern. Eltern und Schulumkreis sehen Lehrer realistischer als Lernende auf dem schwierigen Felde der Selbstverwaltung und korrigieren das Bild von den scheinbar mangelhaften sozialen Fähigkeiten der Lehrerschaft. Lehrer erleben Eltern als lebenstüchtige Partner auf rechtlichem und wirtschaft­lichem Feld und nicht mehr nur als häufig überforderte Erziehungsbe­rechtigte. Es wird Erfahrung, dass eine kollegiale Schulführung mit grö­ßerem Erfolg zu praktizieren ist als dies ein Direktor vermag, auch ohne jene idealen sozialen Fähigkeiten, die sowieso nirgendwo vorhanden sind. Klare Formen und Verbindlichkeiten der Zusammenarbeit vermindern den Einfluss von Schwächen des Einzelnen und begünstigen den Einsatz des vollen schöpferischen Potentials eines jeden Mitarbeiters sowie der Einsichten und Fähigkeiten der gesamten Elternschaft.

Die Schule kann durch die ihr entsprechende innere Verfassung eine Produktivität entwickeln, die Unternehmen in anderen Bereichen der Gesellschaft, z.B. der Wirtschaft zum Vorbild werden kann. [...]

Hans Wilhelm Colsman: In guter Verfassung!, S. 9-10.


Im folgenden lenkt Colsman den Blick auf „soziale Gesetze“, die es in der rechten Weise zu verstehen und umzusetzen gilt. Ein in diesem Sinne gesunder Sozialorganismus kann die immer vorhandenen menschlichen Schwächen „ertragen“, weil er ihre schädlichen Auswirkungen begrenzen und ausgleichen kann. 

Rudolf Steiner deckte auf, dass die Ideale der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – ihre wahre Berechtigung in jeweils einem anderen Bereich des sozialen Lebens haben – im Geistesleben, im Rechtsleben und im Wirtschaftsleben. Colsman formuliert auf dieser Grundlage als „soziales Gesetz der Dreigliederung“, dass eine Handlung im sozialen Zusammenhang nur dann optimal ist, wenn (1) das Handeln und also schon das Denken an den Bedürfnissen des Anderen orientiert ist, (2) bei Vereinbarungen das Prinzip der Gleichheit eingehalten wird, (3) der aus individuellen Fähigkeiten schöpferisch handelnde Wille in Freiheit ganz aus Erkenntnis und Liebe „zur Sache“ wirken kann.

Das von Steiner formulierte „soziale Hauptgesetz“ lautet: „Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.“ (GA 34, „Geisteswissenschaft und soziale Frage“, S. 191ff).

Waldorfschulen könnten, so Colsman, aus einem Verständnis dieses Gesetzes heraus eine weitgehende Trennung von Arbeit und Einkommen verwirklichen und so Keime einer neuen Gesellschaftsordnung bilden, wenn sie sich z.B. nicht an normierten Tariflöhnen, sondern an individuellen (Schicksals-)Situationen orientieren würden.

Als „Gesetz der Gemeinschaftsbildung“ schließlich bezeichnet Colsman den von Rudolf Steiner 1920 formulierten Spruch: „Heilsam ist nur, wenn | im Spiegel der Menschenseele | sich bildet die ganze Gemeinschaft | und in der Gemeinschaft | lebet der Einzelseele Kraft.“

Zusammenarbeit in einem gemeinsamen "Schulrat"

Daran schließt Colsman die zentrale Überlegung an, dass die Voraussetzung dafür geschaffen wäre, wenn alle in einem (Schul-)Organismus zusammenwirkenden Menschen in einem zentralen Organ einbezogen würden: Der „Schulrat“ mit Vertretern von Kollegium und Elternschaft.

Im Kapitel „Soziale Gesetze in der Kollegiumsarbeit“ entwickelt Colsman die Sachgemäßheit des Delegationsprinzips und die Notwendigkeit einer inneren Ordnung, die Zuständigkeiten, den Ablauf von Delegierung, Beschlussfassungen usw. regelt.

Freiheit bedeutet immer auch Verantwortung und Rechenschaftspflicht für die eigenen Taten, und viele Probleme entstehen, wenn die Rechtssphäre nicht hinreichend entwickelt ist. Auch hier kann ein zentrales Organ, das Rechenschaft fordern darf, allein durch seine Existenz zu mehr Rechtsbewusstsein führen. Die Verantwortung des Einzelnen ist immer im Zusammenhang zu sehen mit der Rechtfertigung bzw. Rechenschaftspflicht gegenüber demjenigen, der die Verantwortung anvertraute, d.h. Kollegium und Elternschaft.

Das zentrale Organ „Schulrat“ kann problematischen Tendenzen sachgemäß begegnen, bevor sich fehlende Transparenz, Misstrauen, Resignation und so weiter ausbilden bzw. verfestigen.

Der „Schulrat“ führt jedoch nicht nur zur Lösung dieser sehr verbreiteten sozialen Probleme, er führt durch die Erfüllung des „Gesetzes der Gemeinschaftsbildung“ gerade zur Freisetzung der Initiativkräfte jedes Einzelnen zum Wohle der Gemeinschaft.

Im Essener Modell wählt jede Klassenelternschaft einen Vertreter, das Kollegium delegiert eine gleiche Zahl von Lehrern in den Schulrat. Weiterhin stimmberechtigt sind die Vorstandsmitglieder. Vertreter der Oberstufenschüler können – und sollten – ebenfalls als stimmberechtigte Mitglieder oder „Gäste“ eingebunden werden. Jedes Vereinsmitglied kann auf Antrag als beratendes Mitglied aufgenommen werden.

Der Schulrat der zweizügigen Waldorfschule Essen hat über 70 Mitglieder, was seine Arbeit keineswegs beeinträchtigt. Er tagt monatlich und wird von zwei Moderatoren (von Lehrer- und Elternseite) geleitet. Beschlüsse werden nach ausführlicher Beratung mit 2/3-Mehrheit gefasst. Die Tagesordnung wird öffentlich bekannt gemacht, Gäste sind jederzeit willkommen und können Themen einbringen, die (i.a. in der folgenden Sitzung) ebenfalls erörtert werden.

Zu den Themen gehören: Berichte von Vorstand, Gremien und den verschiedenen Delegierten, „kritische“ Rückblicke auf Schulveranstaltungen, Vorstellung neuer Lehrer, Berichte aus der pädagogischen Konferenz, Ausblick auf und pädagogische Begründung von Projekten und Unterrichtskonzepten, Finanzfragen, Problemthemen (z.B. Umgang mit Medien, Drogen etc.), Öffentlichkeitsarbeit, weitere Initiativen, Zukunftsfragen, Erneuerungsprozesse und natürlich Rück- und Ausblick auf die eigene Arbeit des Schulrats.


Zum Abschluss weist Colsman darauf hin, dass niemals Strukturen an sich soziale Probleme lösen können. Entscheidend ist immer, dass die Gesamtheit „von einem wirklichen Geiste erfüllt [ist], an dem ein jeder Anteil nimmt. Sie muß so sein, daß ein jeder sich sagt: sie ist richtig, und ich will, daß sie so ist“ (R. Steiner, GA 34, S. 191ff). Die Schaffung eines „Schulrates“ eröffnet die Perspektive, dass genau dies eintritt und der Geist der Gemeinschaft sich entwickeln und wirken kann. Auf diese Weise werden Waldorfschulen zugleich lebendige Vorbilder und Zukunftskeime für die menschengemäße Gestaltung sozialer Zusammenhänge überhaupt.

Den Anhang von Colsmans Schrift bilden die Satzung und Schulordnung der Waldorfschule Essen, sowie die Satzungen der Waldorfschulen Lübeck und Schwäbisch Gmünd, die das Essener Modell 2002 bzw. 2005 übernommen haben.