Waldorfschule und Dreigliederung. Der peinliche Auftrag.

Dieter Brüll: Waldorfschule und Dreigliederung. Der peinliche Auftrag. Vom Risiko, eine anthroposophische Institution zu sein. Lazarus-Verlag 1992. (128 S., vg.). o | Siehe auch Brülls grundlegendes und wegweisendes Werk: Der anthroposophische Sozialimpuls


Inhalt
Vorwort
Die Grundform einer dreigegliederten Schule
Republikanisch und demokratisch
Das Richtergremium
Waldorfschule und Waldorfeltern
Waldorfschule und Förderung
Ein Kapitel aus der pädagogischen Sozialpathologie – Die Unterwerfungsakte


Vorwort

Der Anlaß zu diesem Buch ist ein dreifacher. Da waren an er­ster Stelle die Fragen zur Struktur der Waldorfschule, die von allen Seiten auf mich zukamen. Meist waren sie aus der Besorg­nis geboren um das, was in der ‘eigenen’ Schule geschah. Oft geschah es auch aus Abkehr von Geschehnissen: „Wie kann so etwas in einer Waldorfschule passieren?“ [...]

In diese Richtung ging auch die zweite Überlegung. Mein Lebenslauf hat mich in fast alle mit einer Waldorfschule zu­sammenhängenden Positionen gebracht. Aus jeder habe ich Er­fahrungen mitgenommen: als Waldorfschüler, als Ehemaliger, als Waldorfseminarist, als Lehrer, als Waldorfvater, als Vor­standsmitglied und schließlich als freistehender Berater. Jedes­mal stand ich vor Rätseln, manchmal vor Entdeckungen. Sie fügten sich im Lauf der Zeit zu einem deutlichen Bild dessen, was den Waldorfschulen fehlt und immer wieder zu Unan­nehmlichkeiten führt. Wie verschieden die Ursachen auch aus­sahen und wie sehr sie auch stets durch Menschen hindurch wirkten, die man dann zum Sündenbock machen konnte – der gemeinsame Nenner war und blieb, daß zeitgemäße Pädagogik sich nur in einer zeitgemäßen Struktur richtig entfalten kann. Die diesbezüglichen Erkenntnisse, etwas systematisch geordnet der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wird mir – warum sollte ich mich dessen schämen? – gegen das Lebensende immer mehr zu einem Bedürfnis.

Der dritte und wichtigste Grund schließlich hängt mit mei­ner eigentlichen Aufgabe zusammen: dem sozialen Impuls Ru­dolf Steiners. Wer die Geschichte der Waldorfschule kennt, weiß, daß diese aus der Dreigliederungsbewegung heraus gebo­ren wurde. Als letztere scheiterte, war es die Waldorfschule, die Steiner als den Keim für deren künftige Wiedergeburt betrach­tete. Darum sollten, so Steiner, die Schüler, welche die Schule verlassen, die Dreigliederung beherrschen wie die vier Rech­nungsarten. Aber wer ist ihnen begegnet? In meiner Beratungs­tätigkeit stieß ich geradezu auf Angst und Unwillen, wenn das Wort Dreigliederung fiel. Allem, was weiter geht als Theorie, was auf die Notwendigkeit eines Eingreifens in die gegebenen, vor allem strukturellen Verhältnisse hinweist, wird Mißtrauen, wenn nicht gar Feindseligkeit entgegengebracht. Oft ohne zu wissen, wie eine dreigliedrige Schulstruktur aussieht, stellt sich das Argument ein, daß die Mitarbeiter noch nicht reif dafür wären und/oder, daß deren Einführung ein nicht zu verantwor­tendes Risiko brächte. Das Risiko, eine anthroposophische In­stitution zu sein? [...]

Dieses Fehlen von Beispielen, diese Feindschaft gegen den anthroposophischen Sozialimpuls soll keineswegs den einzelnen Institutionen vorgeworfen werden. Jede hat das Recht, sich so zu gestalten, wie es den Wünschen ihrer Mitarbeiter oder ihrer Leiter entspricht. Sie hat nur kein Recht, das, was dabei als Abklatsch unserer Gesellschaftsstruktur herauskommt, Drei­gliederung zu nennen. Genau das aber kommt gar nicht so selten vor. Psychologisch ist das sehr wohl verständlich, da man sich in der peinlichen Situation befindet, daß man Steiners Auf­trag, die Waldorfschulen mögen Wegbereiter einer künftigen Dreigliederung sein, weder annehmen noch abweisen will. Man sollte ferner wissen, daß die Art, wie eine Schule sich formt, nicht nur für sie Bedeutung hat. Eine nichtdreigliedrige Struk­tur schädigt die ganze Menschheit, weil ihr die Möglichkeit ge­nommen wird, sich an einem in der Praxis funktionierenden, dem heutigen Bewußtsein angemessenen ‘Modell’ zu orientie­ren. Wer händeringend in den Greueln, deren Zeugen wir sind, fragt, was er doch tun könne, fände die Antwort, indem er auf dem Platz, an den ihn das Schicksal gestellt hat, zu dreigliedern anfänge! [...]

Stellt man sich dieser Aufgabe nicht, dann wird sich die Tendenz durchsetzen, die heute schon sichtbar wird. Die Schulbewegung wird auseinanderfallen in einerseits kleine, theokratisch geführte Sektenschulen und andrerseits in Schu­len, die in der Anpassung an das, was der ‘widerrechtliche Fürst dieser Welt’ fordert, ihre Identität verlieren. Diese Identitäts­krise wird heute bereits vielerseits erlebt, ohne daß die Ursa­chen immer deutlich erkannt werden. An dem Schmerz dar­über, was hier verloren geht, mag aber mancher erwachen. Das ist der Hoffnungsstrahl im Niedergang. [...]

Die Grundform einer dreigegliederten Schule

Man kann natürlich einfach anfangen [...]. Nach einiger Zeit entdeckt man, daß man sich, ohne es zu wollen, eine Struktur angemessen hat. Ob sie paßt, wäre freilich genauso ein Treffer wie ein aus einer Ramschpartie gezogenes Kleid, das paßt. – Man kann sich aus der Hauptstadt – des Landes oder der Be­wegung – ein Schulmodell schicken lassen. So macht es der Staat ja auch, wenn er Schulen gründet. Man gewöhnt sich daran, garantiert. So, wie sich angelsächsische Kinder daran gewöhnt haben, in einer Uniform in die Schule zu gehen und es gar nicht mehr anders haben wollen. – Was man selten ent­deckt, ist, daß die Struktur den ganzen Duktus des Lehrbetrie­bes bestimmt. Hat man diese unangenehme Wahrheit aber einmal gefunden, dann spräche doch wohl etwas dafür, sich im voraus zu überlegen, was für ein Normgebäude Waldorfschu­len brauchen. Wollen wir es versuchen!

Dabei legen wir unserer Gedankenarbeit zwei Beschrän­kungen auf. Wir verbieten uns selber, und wäre es nur mit ei­nem Nebengedanken, die Frage, ob das, was wir wollen, erlaubt sei. Wissen wir einmal, was wir wollen, dann findet sich schon ein Jurist, der unsere Wünsche in „Genehmigtes“ überträgt. So macht es übrigens jeder, der auf einen grünen Zweig kommen will. – Und zweitens ist jede Frage nach der Bezahlbarkeit un­tersagt. Ein Rechner ist später aufzutreiben. [...]

Sowie die Tätigkeit anfängt, muß auch Struktur da sein. Ich weiß, es gibt viele Leute, die der Ansicht sind, daß die Struk­tur von selber aus der Arbeit wachsen soll. Es stimmt nur nicht. Der Inhalt soll aus der Arbeit, und nicht z.B. aus der Vorschrift oder aus dem Dogma wachsen. Die Struktur aber muß späte­stens am Tage, an dem die Schule ihre Tore öffnet, da sein. Wer ihre Schwelle überschreitet, muß wissen, daß jetzt die Regeln der Schule gelten. Was würden die Lehrer wohl sagen, wenn sich in ihrer Konferenz ein Nachbar einstellte, der sich, wie er es unter Nachbarn gewöhnt ist, lautstark Gehör verschafft? Oder wenn eine Mutter in der Klasse erschiene, um normale Ölfarben statt der „doofen“ Wasserfarben an die ABC‑Schützen auszu­teilen? Ach so, da geht’s um Regeln für andere. Selber hat man die nicht nötig, man ist doch ein anständiger Mensch? Nun, dem begegnen wir schon noch. Vorläufig registrieren wir, daß die erste Strukturierungstat daraus besteht, daß ein Innen und Außen geschaffen wird. [...]

In jedem sozialen Organismus gibt es Geistesleben, Rechts­leben und Wirtschaftsleben. Weil die Institution ein Ziel hat, hat sie per definitionem Wirtschaftsleben, beinhaltet dieses doch die wirtschaftliche (= zweckmäßige) Zusammenarbeit auf ein gegebenes Ziel hin. Die Mitarbeiter müssen aber auch irgendwie miteinander und mit der Außenwelt (= was außer­halb der Grenzen der Institution ist) auskommen. Darin lebt ihr Rechtsgebiet. Schließlich will jeder Mitarbeiter sich selbst ver­wirklichen, denn sonst wäre er ein Automat. Darin blüht das institutionelle Geistesleben – wobei wir Selbstverwirklichung keineswegs als ein egozentrisches Geschehen auffassen dürfen, sondern als dasjenige, was er als seinen (i.c.) pädagogischen Im­puls verwirklicht.

Im Lauf der Jahrhunderte haben sich die Akzente verschoben. In unserer Zeit, in der der Mensch auf der Spitze seiner Persönlichkeit steht, hat er, wenn er zeitgerecht lebt, sein Ichwesen ganz aus der Institution herausgezogen, um diese gewissermaßen von außen zu bearbeiten, und zwar so, daß diese der Entwicklung seines Seelenlebens so behilflich wie möglich sei. Durch seine Seelenglieder führt er seine (Ich‑)Impulse in die Institution ein. Sie bilden ihren Inhalt, den eigentlichen Seinsgrund der Institution. Daß er sein ungeläuter­tes Seelenwesen auch mitnimmt, führt zu sozialen Problemen, die eine ausführliche Strukturierung notwendig machen.

Für den Gesellschaftsorganismus entdeckte Steiner als Strukturprinzip für unsere Zeit die soziale Dreigliederung. In drei vollständig autonomen Gebieten wirke jeder Mensch mit am Geistes‑, Rechts‑ und Wirtschaftsleben. Nur die Auseinan­dergliederung ist vorgegeben, die Struktur also, der Inhalt wird von den in dem Organismus lebenden Menschen be­stimmt. [...]

Dazu werden drei Organe herausgebildet, worin gleichsam das, was die Mitarbei­ter als ureigene Impulse in die Schule mitbringen, eine Schale findet, also strukturiert wird. Schauen wir uns diese drei Organe an. 

Das Organ des Geisteslebens


Wir haben es hier zu tun mit dem Zentralorgan jeder Institu­tion, die ihre eigentliche Aufgabe im Geistesleben sieht.
Alle Waldorfschulen haben es, meistens unter dem Namen Päd­agogische Konferenz. Ich benutze diesen Namen lieber nicht. In diese Konferenz haben sich zu oft Elemente eingeschlichen, die nicht hineingehören, und die der Leser damit identifizieren könnte.

In diesem Organ hat nämlich ausschließlich Geistesleben stattzufinden. So sehr dieses auch die ganze Schule – mit Aus­nahme der ausdrücklich für andere Tätigkeiten reservierten Organe – durchzieht, hier ist darauf zu achten, daß es wirklich in Reinkultur auftritt das heißt ganz auf Freiheit gegründet ist. Jedes Mitglied des Organes soll die Möglichkeit haben, jede Auffassung, die dem Geistesleben zuzurechnen ist, zu äußern, auch wenn sie kontrovers ist. Hier braucht man sich nicht ein­mal innerhalb des satzungsmäßigen Zieles zu bewegen. Dieses beherrscht nur die Taten, nicht die Ideen. Herr Wunderlich darf ruhig vorschlagen, dem nervösen und lästigen Benehmen der Schüler mit einer täglichen Pille Valium zu begegnen. Er wird damit ein Gewitter heraufbeschwören. Schaden tut es nicht. Nicht Herr Wunderlich übertritt die Regeln, sondern Herr Weise, der vorschlägt, auf diesen „Quatsch“ nicht weiter einzu­gehen, da Medikationszwang sowieso verboten sei. Herr Weise wird mit einem Argument des Geisteslebens, nicht des Rechts­lebens kommen müssen.

Die hier gemeinte Freiheit hat einen Preis: Eine Äußerung in diesem Organ darf weder an sich noch im Zusammenschluß mit gleichlautenden Äußerungen andere Mitarbeiter binden. Ja, sie bindet nicht einmal denjenigen, der sie macht. Man darf von seiner Erkenntnis zeugen, man darf sogar probieren, andere zu überzeugen; man darf niemanden binden. Gesellschaftlich hat, wie sich das für das Geistesleben geziemt, das Votum den Charakter eines Rates. Was der einzelne damit tun will, ist seine Sache. Hier wird also nicht abgestimmt, noch unter dem Mantel der Einmütigkeit ein Beschluß gefaßt. [...]

Das Organ des Geisteslebens darf also Anspruch darauf erheben, daß die geistige Seite jedes Problems seiner Beurtei­lung unterworfen werde. In der Praxis kann man sich das so vorstellen, daß alle Beschluß‑Entwürfe zur Einsichtnahme vor­liegen. Jeder hat dann das Recht, Besprechung im Organ zu fordern. Andrerseits aber ist jedem streng verboten, die rechtli­chen und wirtschaftlichen Aspekte in seine Betrachtungen ein­zubeziehen. Wer es auch sei, wenn er diese Schranken nicht achtet, soll ihm unerbittlich das Wort genommen werden. [...]

Im Geistesleben stehende Institutionen wie die Schulen sind gera­dezu darauf angewiesen, daß das vom geistigen Impuls her Wünschenswerte in aller Deutlichkeit erörtert werden kann. Es dann in die Wirklichkeit hineinzutragen, wird man oft Hilfe aus den beiden anderen Gebieten benötigen oder sogar externe Ex­perten hinzuziehen müssen. [...]

Wer gehört von Rechts wegen zum Organ des Geistesle­bens? Das ist einfach zu bestimmen: jeder Mitarbeiter, der seine Aufgabe als eine pädagogische auffaßt. (Also nicht: wie sie von anderen aufgefaßt wird!) Da hier keine Beschlüsse gefaßt wer­den, schadet es nicht, wenn jemand dabeisitzt, an dessen Be­rechtigung man zweifeln könnte. [...] In der Schule meiner Kinder gab es einen Hausmeister, dessen pädagogische Qualitäten die der meisten Lehrer überragte. Kamen sie mit einem Schüler nicht zu Rande, wurde er zu diesem Mann geschickt. Er mei­sterte die berüchtigsten Schülerpersönlichkeiten mühelos. [...]

Darf das Organ des Geisteslebens dann keine Ausschüsse zusammenstellen, die gewisse Themen bearbeiten? Das hängt davon ab. Wenn es um die freie Zusammenarbeit einzelner Mitarbeiter geht, braucht nichts beschlossen zu wer­den. Die Tatsache, daß so eine Studiengruppe besteht, kann dann Anlaß sein, ihr das Thema stillschweigend zu überlassen. Will aber die Konferenz, vielleicht sogar auf Termin, ein gewisses Problem untersucht haben, dann benötigt sie eine Gruppe, die ihr gegenüber diese Verantwortung auf sich nimmt. Da die Konferenz aber niemanden zur Verantwortung ziehen darf, wird sie auch das Belasten mit der Verantwortung dem Rechtsorgan überlassen müssen. Selbstverständlich ist sie be­fugt, dem Rechtsorgan einen Vorschlag zu machen, welche Persönlichkeiten man gerne in so einem Ausschuß sähe. Und ebenso selbstverständlich wird, wenn nicht ganz außerordentli­che Umstände vorliegen, das Rechtsorgan diesen Vorschlag übernehmen. Das scheint eine formelle Überflüssigkeit. Sie ist es nicht. Wir werden diesem Prinzip wiederbegegnen.

Das Wirtschaftsorgan


Wir machen jetzt einen Sprung und betrachten das polare Or­gan.
Wie das des Geisteslebens der optimalen Entfaltung des Mitarbeiters Raum gibt, so hat das Wirtschaftsorgan, als Ex­ponent des Wirtschaftslebens der Schule, eine ausschließlich dienende Funktion.

An erster Stelle sei hier mit der Auffassung Schluß gemacht, daß dort natürlich das Finanzgebaren zustande­kommt. [...] Für die Schule sind weitaus die wichtigsten die Festlegung der Eltern­beiträge und die Entscheidung, wie das Geld verwendet wird. Beides sind Rechtsangelegenheiten. Dem Wirtschaftsorgan fal­len primär andere Aufgaben zu.

Wirtschaften ist: Bedürfnisse befriedigen. Es ist nicht der Konsum als solcher, sondern der Weg, bis das Erwünschte in den Händen des Bedürftigen ist. Dazu ist nötig, die Bedürfnisse zu kennen und das Ziel – das Produkt in Händen des Konsumenten – auf so wirtschaftlich wie nur mögliche Weise, das heißt effizient zu erreichen. Beide Aufgabenbereiche hat das Wirtschaftsorgan zu erfüllen. Sie sind grundverschieden.

Betrachten wir zuerst letzteren. [...] Ein Entschluß fällt hier genauso wenig wie im Organ des Gei­steslebens. Von der Art der Arbeit her ist aber deutlich, daß dafür viel Erfahrung nötig ist, die von vielen zusammengetra­gen werden sollte, und daß sich die Arbeit in viele Spezialgebiete auseinandergliedern wird, in Ausschüsse, die sich am besten aus freiem Impuls und ohne offizielle Einsetzung bilden. Der Appell lautet: Wo kann ich mit meinem Können, meiner Erfahrung helfen?

Ein viel heikleres Gebiet betreten wir mit der anderen Auf­gabe des Wirtschaftsorgans. – Wenn man zur Befriedigung von Bedürfnissen arbeiten will, muß man diese kennen. Dem stellt sich nun die Überheblichkeit des Geisteslebens entgegnen: Dort weiß man, was die Leute nötig haben. Und sollte die Praxis das Gegenteil beweisen, um so schlimmer für die Praxis: „Die wis­sen ja selbst nicht was sie eigentlich wollen“ („das weiß ich aber!“). Sollte das Murren der Eltern aber gar in einem Lehrer einen Anwalt gefunden haben, dann platzt die Geistesgröße gewiß heraus: „Wenn’s den Eltern nicht paßt, sollen sie sich eine andere Schule suchen!“; womit das Richtige verkehrt gesagt wurde. [...]

Da steht eine Mutter auf und fragt, ob die Eurythmiestun­den nicht abgeschafft und statt dessen Ballettstunden gegeben werden können. Was geschieht denn, wenn selbige Geistes­größe im Brustton der Empörung zu der Dame sagt, ob sie überhaupt weiß, daß sie ihr Kind auf eine Waldorfschule ge­bracht hat? Oder wenn sein Kollege sich darüber ergeht, welche physischen und seelischen Schäden Ballett hervorruft? Und ein dritter Lehrer lyrisch über Eurythmie zu schwärmen anfängt? Die Mutter wird vielleicht vor so massiver Gewalt einen Rück­zieher machen – aber doch nur, um außerhalb des Saales an­dere Mütter um sich zu versammeln zu einem Schimpfklub auf die arroganten/weltfremden/sektiererischen Lehrer. Und wie­viel Eltern werden sich als Folge dieses Debakels mit ihren Wünschen nicht zu Wort melden, aus Angst daß sie etwas ganz Falsches sagen? Unsere drei Lehrer können besser einen Vortrag veranstalten über Anthroposophie und Ballett dann bleiben sie im Geistesleben. Wer mag, kann hingehen.

Hier, im Wirtschaftsleben, ist davon auszugehen, daß jedes Bedürfnis legitim ist und deshalb auch dessen Befriedigung. Auf die angemeldeten Wünsche gibt es kein „Nein“. Man kann unserer Mutter in aller Ehrlichkeit recht geben; nämlich, daß sie ihr Bedürfnis auch befriedigt sehen will. Stellt man das in den Vordergrund, fühlt man sich als Konsument nicht mehr in die Ecke gedrückt oder gar lächerlich gemacht. Dann akzeptiert man auch, daß von der Schule aus hinzugefügt wird: „Nur, leider, bei uns wird dieses Produkt – die Ballettstunden also – nicht verkauft. Wir haben keine Lehrkräfte dafür und können auch keine berufen, weil das nicht in unser pädagogisches Ge­samtkonzept passen würde. Wir haben uns eben ein bestimm­tes Ziel gesetzt wie andere Schulen ein anderes. [...] Viel­leicht dürfen wir Ihnen behilflich sein, für Ihre Tochter eine Schule zu finden, wo man Ballett gibt? Oder, im schlimmsten Fall: Errichten Sie doch zusammen mit jenen, die das gleiche Bedürfnis haben, eine eigene Schule!“

Es wäre vernünftig, gerade im Verhältnis zu den Eltern nicht die prinzipielle Seite herauszukehren, die es ja zweifels­ohne auch gibt. Sich auf dieser Ebene zu finden, erfordert einen Prozeß von Jahren. Das Problem steht aber heute vor uns und muß heute gelöst werden. Und heute ist es nur zu lösen, wenn man es als Wirtschaftsproblem betrachtet. [...]

Das hier Gesagte ist nun nicht so gemeint, daß man, indem man die Probleme auf das Wirtschaftsleben abschiebt, eine Methode gefunden hat, um die Eltern mit leeren Worten abzu­speisen. Im Gegenteil. Man sollte wirklich bei jedem angemel­deten Bedürfnis ernsthaft erwägen, ob und wie man ihm entgegenkommen könnte. Das sollte man schon aus Menschlichkeit tun, wird aber in unserer Zeit, worin das Gründen einer eigenen Schule, die nicht einer windgeschützten Ecke angehört, eine Beinahe‑Unmöglichkeit ist, fast obligatorisch. Ein Wirtschafts­organ ist kein Einwickelapparat, sondern hat die konkrete Funktion, der Selbstzufriedenheit über einen wohleingerasteten Betrieb als Gegengewicht zu dienen. Das nur zu oft verfahrene (und mit einem Elternrat nicht zu verblümende) Verhältnis zu den Eltern beruht meistens auf Angst, manchmal auf Unwillen, mit diesen Menschen das Gespräch zu suchen. Das kann sich dann zu jener Aussage versteigen, die aus unserer pädagogi­schen Prominenz kommt, daß die Schule nur mit den Schülern und nichts mit den Eltern zu tun habe. Es ist überraschend, wie schnell Elternwünschen „unrealisierbar“ angeheftet wird, während man sich Wünschen des Staates ohne weiteres anpaßt. [...]

So wie die Eltern und andere Teilnehmer im Wirtschaftsor­gan den offenen Platz finden, um ihre Wünsche und Bedürf­nisse anzumelden, so sei es auch der Ort, wo die Lehrer mit ihren Sorgen an die Öffentlichkeit treten: fehlende Fachlehrer, sinkende Beiträge, Kürzung der Förderung, aber auch Kontro­versen innerhalb der Lehrerschaft, Unannehmlichkeiten mit Behörden, Zwist mit dem Bund und was man sonst noch alles gerne unter den Teppich kehrt. [...]

Zum Schluß noch die Frage, wer nun in so einem Wirt­schaftsorgan sitzt. – Soweit es um die Wirtschaftlichkeit geht, dürften die Mitwirker wohl primär Mitarbeiter sein. Das Hin­zuziehen eines Außenstehenden sollte auf einem Beschluß des Rechtsorgans fußen. [...]

Ganz anders ist es da, wo das Wirtschaftsorgan zum Ohr der Schule wird, das vernehmen will, welche Bedürfnisse leben. Da gilt für alle und jeden: Willkommen ist, wer an diesem Ort eine Waldorfschule für wünschenswert hält. Das sind wohl alle Lehrer, wahrscheinlich die meisten der übrigen Mitarbeiter, das sind die Eltern, aber auch Schuleltern‑in‑spe. Das sind aber auch sonstige Persönlichkeiten, die aus welchen Gründen auch immer dem Waldorfschulwesen zugetan sind: Ärzte, Pfarrer, Bauern, Politiker, Unternehmer usw. Und sollte sich einmal ei­ner nicht nur als lästig, sondern als Stänkerer erweisen, kann man ihm als letztes Mittel vom Rechtsorgan Hausverbot ertei­len lassen. Schließlich gehören auch die... Schüler dazu, sagen wir ab der zehnten Klasse, in der die Flegel ja plötzlich Damen und Herren werden. Wo man damit Erfahrungen gesammelt hat, war man überrascht über die wohlerwogene, nüchterne und sachverständige Art ihrer Beiträge. [...]

Es sei noch darauf hingewiesen, daß das Wirtschaftsorgan seiner Funktion nach den Waldorfschulen keineswegs fremd ist. Von Anfang an wurde ähnliches in der Form der Eltern­abende eingebaut. Diese sind nicht dazu da, die pädagogischen Probleme der Eltern und ihrer Kinder zu besprechen (das ge­hört in die Hausbesuche, die auf Mikro‑Gebiet das Geistesleben im Verkehr mit den Eltern darstellen), und schon gar nicht für die Elternerziehung, wozu sie oft mißbraucht werden. Hier sol­len – im Gegensatz zum Wirtschaftsorgan: beschränkt auf die Klasse – Eltern ihre Fragen und Bedürfnisse, Lehrer ihre Be­sorgnisse aussprechen.

Das Rechtsorgan


[...] Für das Recht sind mindestens zwei Personen nötig. Umge­kehrt ist es so, daß wo zwei oder mehr Personen zusammenwir­ken wollen, eine Rechtssituation gegeben ist.

In einer Waldorfschule ist das evident. Viele Menschen wirken zusammen auf das Ziel hin. Es bestehen aber auch ex­terne Rechtsbeziehungen: zu den Eltern, zu den Behörden, zu den Lieferanten etc. Überall, wo die Frage nach dem Ich und Du gestellt wird, ist Recht. Fragen wir aber nach Recht, dann fragen wir, was mir im Verhältnis zum andern gebührt. Die Grundlage des Rechts ist, daß die Würde des Menschen unan­tastbar ist. Die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln sind davon hergeleitet; nicht immer, sogar selten richtig. Menschen­recht, lex humana, ist für Fehler anfällig. Es sollte darum in steter Bewegung sein: Wie können wir der Würde des Menschen noch besser gerecht werden? [...]

In einer dreigegliederten Schule werden die Beschlüsse in dem Rechtsorgan gefaßt. Damit stellt sich vorrangig die Frage, wer diesem angehört. [...] Wer die Schule innerlich mit‑trägt? Das wäre ein der Men­schenwürde nicht entsprechendes Kriterium. Die Erfüllung ei­ner solchen Bedingung könnte ja nur durch Erforschung des Seelenlebens des andern konstatiert werden. Pfui. Begibt man sich auf diesen Weg, wird man bald merken, daß nur bei den Geistesgrößen alles stimmt, womit die Theokratie wiederherge­stellt wäre. [...]

Wir werden die Frage, wer in ein Rechtsorgan gehört, aus dem Rechtsleben selber heraus beantworten müssen. Wir lan­den dann zwar auch beim Tragen von Verantwortung, aber mit einem anderen Inhalt: Entscheiden sollte nur derjenige, der die Folgen seiner Beschlüsse selber trägt. [...]

Das bedeutet hier dreierlei:

1. Die Mitarbeiter sollten ihre Arbeit als freie Unternehmer be­treiben, zum Beispiel als Gesellschafter einer Gesellschaft bür­gerlichen Rechts. – Es mag Ausnahmen geben, aber die Gewis­senhaftigkeit der Sozietät gegenüber stellt sich in genügendem Maß erst ein, wenn man die Folgen seiner Taten eventuell bis in den persönlichen Bankrott hinein zu tragen hat. – Ich möchte hier daran vorbeigehen, daß die gesetzlichen Bestimmungen die Schule oft geradezu zwingen, Mitarbeitern den Angestell­tenstatus aufzuerlegen. Ich möchte nur bemerken, daß man sich auch dazu etwas einfallen lassen kann, zum Beispiel per­sönliche Bürgschaften.

2. Gesellschafter empfangen kein Gehalt, sondern einen Anteil an demjenigen, was im Laufe des Schuljahres erwirtschaftet ist. Das bedeutet nicht nur die Grundlage für die Trennung von Arbeit und Einkommen (dazu später), sondern, zu unserem Problem, daß man sein Leben wirklich vom Wohl und Wehe seiner Schule abhängig macht, also sich existentiell damit ver­bindet.

3. Insoweit es in einer Schule Mitarbeiter gibt, die nicht existen­tiell mit ihr verbunden sind, weil der Mitarbeiter Sicherheit und darum ein festes Gehalt haben will, weil jemand nur vorübergehend oder in geringem Maße in der Schule arbeitet, sind sie ein Mitglied des Rechtsorgans, haben also kein Stimmrecht. [...]

Die Exklusivität des Rechtsorgans stellt uns vor zusätzliche Probleme. Es kann ja jetzt vorkommen, daß ein Beschluß ge­faßt werden muß über Interessen eines Mitarbeiters, der dem Organ nicht zugehört. Obwohl das heutzutage mehr Regel als Ausnahme ist, sollte man sich bewußt sein, daß man damit gegen ein anderes Rechtsprinzip verstößt: Jedem erwachsenen Menschen steht das Recht zu auf Mitsprache und Einspruch in allem, was seine Rechtsposition angeht. Man wird darum gut daran tun, in so einem Falle den Mitarbeiter als Gast einzula­den und ihm dabei jede Gelegenheit zu bieten, seine Interessen zu verteidigen. Vom Stimmrecht allerdings bleibe er ausge­schlossen. Es gibt, wie wir noch sehen werden, dafür einen Er­satz.

Wenden wir uns jetzt demjenigen zu, was in dem Rechtsorgan geschieht. Es gibt da erstens zwar wenige, aber überaus wich­tige reine Rechtsprobleme, die also ohne Mitwirkung der beiden anderen Organe erledigt werden können, zum Beispiel die Einkommenszuweisung. [...]

Was finde ich, das dem andern im Ver­hältnis zu mir, zu meinen Kollegen, zu unseren Schülern zu­kommt? Ich muß hier ausdrücklich warnen vor dem Bedürfnis­einkommen, worunter man im allgemeinen versteht, daß man einschätzt, wieviel man braucht und das dann verlangt. Wir wollen uns keiner Täuschung hingeben: Diese Selbsteinschät­zung wird ein Kind der Selbstüberschätzung, die uns allen eig­net. Können wir denn von den Mitarbeitern – allen! – erwarten, daß sie bereits die Not ihrer Kollegen empfinden wie die ei­gene? Weil das nicht der Fall ist, wird ein ganzes Arsenal an Druckmitteln angewendet, den jeweiligen Mitarbeiter dazu zu bringen, seine Bedürfnisse ja recht niedrig einzuschätzen. Das Bedürfniseinkommen entpuppt sich als mit Ideologie ver­brämte Ausbeutung. Und um Aufbegehren zu vermeiden („Warum bekommt er so viel mehr als ich?“), werden die unter­schiedlichen Einkommen oft auch noch als Staatsgeheimnis behandelt.

Ich sage hier kein Wort gegen das sogenannte „aus einem Topf leben“, das heißt aus der Kasse nehmen, was man nötig hat, ohne seine Ausgaben vor irgend jemandem verantworten zu müssen. Man sollte aber wissen, daß man damit etwas vor­zuleben probiert, das erst in der nächsten Kulturepoche an der Zeit ist. [...]

Zeitgemäß dürfen wir heute nennen, daß mein Einkommen aus dem Betrag besteht, den die anderen Mitarbeiter mir zur Verfügung gestellt haben. So können wir es auch in dem von Rudolf Steiner beschriebenen sozialen Hauptgesetz lesen. Kon­kret gesprochen: Was je 29 von den 30 Mitarbeitern dem 30. geben wollen. Daß dabei die Frage, was der 30. nötig hat (Be­dürfnis) in seiner Lage [...], ist selbstverständlich, aber es drückt sich nicht in der Selbstgerechtigkeit, sondern im Verständnis der anderen aus. Auch anderes jedoch schlägt sich im Geld nieder, daß man an Frau Regsam niemals vergeblich appelliert, daß Herr Clever stinkfaul ist, daß Frau Weiniger für jeden Schmerz ein offenes Ohr hat. – Die wenigen Erfahrungen, von denen ich weiß, stimmen recht zuversichtlich. Die Herausforderung, ganz ob­jektiv aus dem Du heraus zu urteilen, scheint eine gewisse Hell­fühligkeit hervorzurufen. Und die Tatsache, daß man ja selber auch der 30. wird, mag eine etwas unterentwickelte Redlichkeit stützen. [...]

Sollte der Kreis der Kollegen sich aber vertan haben, dann ist es gut, die Möglichkeit geschaffen zu haben, daß Revision erbeten werden kann. [...]

Die regelmäßige Arbeit des Rechtsorganes wird wohl daraus bestehen, daß dem, was aus den anderen Bereichen als Wunsch entsteht, die Erwägungen zu dem rechtlichen Aspekt noch hin­zugefügt werden. Diese betreffen an erster Stelle das Ich‑und‑Du. Was aus pädagogischer Sicht wünschenswert ist, kann tief in das Leben des Kollegen eingreifen. Was wirtschaft­lich das günstigste Resultat verspricht, kann menschlich viel kaputtmachen. Hier, und an keinem anderen Ort, sollen diese Fragen frei besprochen werden; aber sogar hier, ohne die Auf­fassung mit einer Bewertung des anderen Menschen zu verbin­den (vgl. Anhang B). Man kann den Betroffenen Gelegenheit bieten, sich zu den Vorschlägen aus ihrer persönlichen Sicht her zu äußern, ohne sie dazu zu nötigen. Und man unterbinde rigo­ros jeden Versuch, den Vorschlag mit pädagogischen Notwen­digkeiten oder wirtschaftlichen Zwängen durchzudrücken. Die kennen ja alle; sie waren in den beiden Organen dabei, als sie offen zur Debatte standen. Hier soll nur noch das Menschliche hinzugefügt werden.

Das ist die eigentliche Aufgabe, aber es kommt noch mehr hinzu. Untersucht muß werden, ob der Vorschlag gegen Re­geln, die man sich gegeben hat, verstößt, ob er vielleicht der Satzung zuwiderläuft, ob er gar gegen ein Gesetz wäre. Das sind Fragen, die man besser einem Ausschuß überlassen kann, denn es ist erstaunlich, wie viele Mitglieder einer Versammlung sich plötzlich als Juristen entpuppen, wenn es um typische Rechtsfragen geht. – So ein Gutachten hindert übrigens die Rechtsversammlung nicht, sich ein eigenes Urteil zu bilden.

Damit sind wir bereits bei der dritten Haupttätigkeit, dem Verleihen von Mandaten. In einer Institution, und in einer Schule ganz besonders, sollte man die meisten Aufgabenbe­reiche in die Verwaltung von Einzelpersönlichkeiten oder Gruppen von Personen übergeben, nicht nur, weil ja nicht für jede Lappalie die ganze Mitarbeiterschaft, vielleicht dreimal, nämlich in den drei Organen, bemüht werden kann, sondern aus viel prinzipielleren Gründen: Das Mandatsystem – das heißt die höchstpersönliche Verantwortung des oder der Man­datsträger für ganze Aufgabenbereiche – ist die menschliche Grundlage für eine dreigliedrige Meso‑Struktur. Wir dürfen diese als das Gegenteil von der hierarchischen Struktur be­trachten, wie sie im Wirtschaftsleben und vor allem in Staatsle­ben üblich ist. [...]

In jeder Schule kommen Sachen vor, die eine sofortige Ent­scheidung fordern. Auch ist es so, daß nicht alles Vorkom­mende unter ein Mandat fällt und zu unwichtig ist, um das Rechtsorgan zu bemühen. Dazu ist ein permanenter Ausschuß nötig. Wenn Vandalen sich daran ergötzen, eine Baracke kurz und klein zu schlagen, kann man nicht erst eine Rechtskonfe­renz einberufen. Jemand vom permanenten Ausschuß wird entscheiden müssen: Gehe ich persönlich hin? Hole ich mir erst ein paar starke Männer? Rufe ich die Polizei? [...]

Ein anderes wichtiges, ganz zur Kompetenz des Rechtsorgans gehörendes Mandat ist der Supervisor. [...] Es ge­nügt also nicht, daß es Regeln gibt, man muß sie auch beach­ten. Es muß jemand da sein, dem das Rechtsorgan die Aufgabe gegeben hat die Einhaltung zu kontrollieren, „Missetäter“ auf ihren Verstoß aufmerksam zu machen und Rezidivisten nöti­genfalls dem Rechtsorgan zu melden. Der Supervisor hat dieses Amt inne, und jedem anderen ist es streng verboten, Beanstan­dungen zu machen. Sieht er etwas Regelwidriges, kann er es dem Supervisor mitteilen. – Das Amt kann zerlegt werden. Zum Beispiel ist es sinnvoll, es dem Vorsitzenden jedes Organes zu verleihen, aber nur für dasjenige, was während der Sitzungen geschieht. Aber vor allem sollte das Mandat schnell rundum gehen. Niemand findet es angenehm – und sollte es doch so jemanden geben, dann wäre er für diese Funktion ungeeignet –, jeder sollte es aber im Turnus, zum Beispiel für drei bis sechs Monate, innehaben. An sich ist es gar nicht wichtig, wie das einem gelingt. Wichtig ist daß jeder im Bewußtsein hat, daß Kontrolle da ist. Es ist ja auch nicht so gemeint, daß nach Re­gelwidrigkeiten gesucht wird.

Der Supervisor konstatiert unstatthafte Taten oder Worte. Er urteilt darüber nicht und noch weniger über die Person des Täters. [...] Nur seine öffentlichen Aus­sagen und Taten stehen als solche zur Beurteilung. [...]

Der Beschluß


Betrachten wir, was uns auf Grund obiger Darlegungen als strukturelles Geschehen entgegentritt.
Wo auch immer eine Festlegung oder ein Beschluß wünschenswert sind, wird das Rechtsorgan bemüht. Auch insoweit Mandatsträger beschlie­ßend auftreten, handeln sie in Vertretung des Rechtsorgans. Bevor der Beschluß aber gefaßt werden kann, liegt ein Gutach­ten der Organe des Geistes‑ und Wirtschaftslebens vor und schließlich auch des Rechtsorganes. Dieselben oder beinahe dieselben Leute haben das gleiche Problem von drei ver­schiedenen, ganz einseitigen Gesichtspunkten beleuch­tet. Nun erst kann jeder sich voll informiert nennen. Und sollte er es nicht sein, so kann das Rechtsorgan beschließen, die Sache ein zweitesmal, ein drittesmal den Weg durch die Or­gane durchlaufen zu lassen. Geht es um sehr Wichtiges oder sehr Spezialistisches, wird man eine externe Expertise anfragen.

Ist das nicht furchtbar umständlich? In gewissem Sinne: Ja. Es ist auch zeitraubend, und zwar so lange, bis man damit ge­lernt hat umzugehen. Danach ist es zeitersparend. Man löst ja auch nicht die drei Unbekannten dreier Gleichungen gleichzei­tig, sondern hintereinander – wobei, gerade wie hier, die Reihen­folge eher praktisch als prinzipiell bestimmt ist.

Erst wenn die volle Information vorliegt, kann beschlossen werden. [...]

Hat man genügend Zeit, wäre es zu empfehlen, die Abstimmung nicht gleich auf die (oft be­wegte) Behandlung im Rechtsorgan folgen zu lassen. Es ge­schieht nämlich noch einmal etwas ganz anderes. Die drei Ge­sichtspunkte sollen sich zu einem inneren Entschluß verbinden, zu einem Wissen um das Richtige eigentlich. Damit meine ich: zu einem Einschlag des Gewissens. Was bei der Beschlußfas­sung geschieht, verhält sich zu den Beratschlagungen wie Geist zu Seele. Alles, was die Seele in ihrer Vielfalt aufgenommen hat, ist zwar als Grundlage nötig. Der individuelle Beschluß – ich bin dafür, oder ich bin dagegen – kommt aus einer ganz anderen Region, aus dem Nachterlebnis. Deswegen ist es gut wenn eine Nacht zwischen dem Beratungsprozeß und der Abstimmung liegt. [...]

Ein Vorstand?


Eine dreigliedrig gestaltete Schule geht von dem organisch mit­einander und gegeneinander Wirken ihrer drei Lebensbereiche aus. Für einen Vorstand ist da kein Platz.
Der ist gegen das Wunschbild der Selbstverwaltung – diesen Terminus in dem Sinne verstanden, daß alle Mitarbeiter zusammen für die Ver­waltung der Schule sorgen. Der Vorstand vertritt nicht die Dreigliederung, sondern den Einheitsstaat. [...]

Nun, wo sich eine Schule als Gesellschaft bürgerlichen Rechts formiert, gibt es keinen Vorstand. Will sie, meist der Förderung wegen, einen Trägerverein, dann gibt es noch Mög­lichkeiten, den Vorstand rechtlich auszuschalten. Jeder Jurist hat die Konstruktion im Schrank liegen. Die Sucht nach einem Vorstand ist die Parallele zur Sucht nach einem Landesvater. Wollte man ihn wirklich nicht auch nicht als eine juristische Hilfskonstruktion, dann bräuchte man nur etwas gegenseitiges Vertrauen. Man suche sich Vorstandsmitglieder, die einander und der Schule feierlich versprechen, niemals (als Vorstand) zu­sammenzukommen, niemals irgendwie in das Schulleben ein­zugreifen. [...]

Damit möchte ich diese globale Besprechung einer dreigeglie­derten Schule abrunden, nicht aber ohne einem möglichen Mißverständnis vorgebeugt zu haben. – In dieser Skizze nehmen Regeln, Rechte, Verpflichtungen einen relativ großen Raum ein. Das könnte Wasser auf die Mühle derjenigen sein, die (manchen) Dreigliederern vorwerfen, daß sie, statt den lebendi­gen Organismus zu beschreiben, starre Formen kolportieren. Man könnte es – unfreundlich und das fehlende Wissen demon­strierend – so sagen. Dreigliederung ist nämlich innerhalb des sozialen Impulses das Formprinzip, so daß man sich nicht zu wundern braucht, wenn da viel von Formen geredet wird. Nur als Formprinzip kann sie das Freiheitsprinzip garantieren, wo­durch Steiner die Dreigliederung die Fortsetzung der Philoso­phie der Freiheit nennen konnte. Ist die Strukturierung einer Schule zeitgemäß, dann können die Mitarbeiter ihre pädagogi­schen, sozialen und wirtschaftlichen Impulse hineinströmen las­sen. [...]

Republikanisch und demokratisch

[...] Republikanisches und demokratisches Prinzip sind Polaritäten. Je mehr man die Verantwortung für verschiedene Arbeitsfelder delegiert, um so weniger Inhaltliches gibt es, worüber demokra­tisch zu entscheiden wäre. Mit der Aufgabenüberantwortung hat man auch die Entschlußfassung aus der Hand gegeben. Die Arbeitsgemeinschaft verzichtet auf das Recht eines demokrati­schen Verhältnisses zu diesem Mandat. [...]

Wo koordinierende Funktionen geschaffen werden, ist das ein Zeichen dafür, daß das Gleichgewicht zwischen dem demokratischen und republi­kanischen Prinzip gestört ist. Es gibt nicht genügend Gelegen­heiten, um den Kurs des einzelnen am Institutionskurs zu prü­fen und eventuell durch demokratische Entscheidungen anzu­passen. Ganz bedenklich wird es aber, wenn Aufgabenbereiche für lange Zeit delegiert werden, respektive wenn die Verlänge­rung von Mandaten zur Formalität wird (durch Zuruf ge­schieht). Dann bilden sich Machtpositionen innerhalb der Or­ganisation, die ein amtliches Gepräge bekommen. Ihr Wirken hat nichts mehr mit „demokratisch“ oder „republikanisch“ zu tun, hingegen alles mit einem autoritären Regime. Für die meisten Mandate ist die Dauer eines Jahres schon reichlich lang. Danach sollte sich der Rücktritt automatisch aus den Re­geln ergeben. Die Funktion (nicht der Mandatsträger!) wäre aufs neue einer Bewertung zu unterwerfen, bevor man in ge­heimer Wahl einen neuen Mandatsträger beruft. Ausnahmen sind möglich und manchmal technisch nötig. Das beste Beispiel ist der Klassenlehrer der Unterstufe, der in der Waldorfschule normalerweise ein Mandat für acht Jahre empfängt.

Das republikanische Prinzip, das in seinem formellen Aspekt wegen der Unnahbarkeit beinahe arrogant genannt werden könnte, erfordert eine Ergänzung auf menschlicher Ebene. Es weist zwar jede unerbetene Einmischung ab, aber es verbietet den Berufenen keineswegs, um Rat oder Hilfe zu bit­ten. [...] Je mehr sich ein Mandatsträger darauf verlassen kann, daß niemand ihn durch Besserwisserei schädigen oder disquali­fizieren will, um so niedriger wird die Schwelle, bei peinlichen Angelegenheiten, bei gemachten Fehlern, bei Unsicherheit etc. den Rat eines Kollegen zu erbitten. [...]

Zuviel Demokratie untergräbt die Institution nicht weniger. Wenn das Plenum darüber entscheiden muß, ob Marie einen Nachmittag frei bekommen darf, ob eine neue Schreibma­schine gekauft werden soll, ob ein Inserat im Schulblatt abzu­lehnen sei, dann werden Konferenzen zu Heimsuchungen. Sie werden immer schlechter besucht und aus Langeweile werden Steckenpferde geritten. Solche Ermüdungserscheinungen sind oft ein Zeichen von zuviel Demokratie. [...]

Man macht aus dem demokratischen Prinzip eine Farce, wenn der Konferenzvorsitzende die Besprechung eines Vorschlages abschließt mit den Worten: „Niemand dagegen? – Dann ist der Vorschlag angenommen!“ Man kann dann risikolos prophe­zeien, daß, sollten die Folgen des Entschlusses ungünstig sein, da und dort behauptet wird: „Ich bin damit auch nie einverstanden gewesen!“ – Man tut der Demokratie Unrecht, wenn man denkt, daß es bei ihr nur um Mehrheiten geht. Es geht auch und vor allem um die Wahrnehmung der Stimmen. Die Konferenzordnung und deren Handhabung sollten darauf hin­zielen, daß man sich zu seiner Meinung bekennt oder sie wenig­stens merken läßt. Das Ja oder Nein soll aus dem Willen kom­men: ein hörbares Wort, eine ausgestreckte Hand, eine schriftli­che Stellungnahme. Und der Wille empfängt Antwort von dem fallenden Hammer Das war Dein Entschluß.

Darum soll man die Stimmen zählen, auch wenn die Mehr­heit deutlich ist. [...] Zur Demokratie gehört auch, daß man geheim, also schriftlich, abstimmen läßt, wenn einer der Teilnehmer das wünscht oder wenn der Vorsitzende das Gefühl hat, daß es da Leute gibt, die den Mut nicht haben, ihre Meinung zu äußern. Gewiß, im „Bewußtseinsseelenzeitalter“ sollte jeder zu seiner Meinung stehen; nur kann man das von niemandem fordern. Man kann es ihm aber erleichtern und hoffen, daß auf Dauer der Mut in ihm wächst. – Bei der Wahl von Personen sollte die geheime Prozedur Regel sein, wie Steiner in unserem Kasus demonstrierte. Da geht es nicht nur um Mut, da geht es vor allem ums Porzellan... [...]

Wer aber mit einem Blick für das Strukturelle Institutionen besucht, dem begegnen auf Schritt und Tritt die – oft katastrophalen – Folgen von Formverwahrlosungen, meistens die demokratische Komponente betreffend. Ihre Ausschaltung führt nämlich nicht zu einer Verstärkung des republikanischen Prinzips, sondern zu einem Rückfall in hierarchische Verhältnisse. An die Stelle der Konferenz tritt eine informelle, ungreifbare und vor allem das Inhaltliche an sich reißende Macht. [...]

Ich möchte mich mit diesen Bemerkungen keineswegs ge­gen bestehende Gebräuche an Waldorfschulen wenden. Wem diese lieb sind, der soll sie praktizieren oder mit sich praktizieren lassen. Man sollte aber wissen, daß man dann nach dem Ge­genteil der sozialen Dreigliederung strebt. Hier sollte Klarheit herrschen. Es mag eine Institution noch so sehr anthroposophi­schen Zielsetzungen dienen, solange sie deren sozial‑strukturel­len Impuls nicht zu verwirklichen bestrebt ist, ist es keine an­throposophische Institution. [...]

Das Richtergremium

Mit dem hier gemeinten Organ überschreiten wir die Grenzen der Schule. Wir müssen sie überschreiten, weil dieses Organ auf der sozialen Gesetzmäßigkeit beruht, daß niemand Richter in eigener Angelegenheit sein kann. Wenn also die Schule Partei in einem Konflikt wird, sollte sie darin nicht das Urteil spre­chen. In einem Rechtsstaat ist das selbstverständlich. [...]

Ohne auf die De­tails, die beim Zustandekommen eines Richtergremiums sehr genau geregelt werden müssen, einzugehen, seien kurz die Hauptlinien beschrieben.

An die zu wählenden Richter/Schiedsrichter sollten drei An­forderungen gestellt werden:

1. Soll jeder Mitarbeiter mindestens einen Richter im Gremium haben, zu dem er so viel Vertrauen hat, daß er ihn im Ernstfalle zum Richter in seiner Angelegenheit bestimmen würde.

2. Sollen nur solche Persönlichkeiten zum Richter gekürt wer­den, in die alle Mitarbeiter das Vertrauen setzen, daß sie objek­tive Richter sein können. Genau diese Bedingung ist eigentlich kaum zu erfüllen, wenn Richter erst im Konfliktfall gewählt werden.

3. Sollen die Richter nicht aus den Mitarbeitern der Schule ge­wählt werden, noch aus ehemaligen Mitarbeitern, da diese mit den Interessen der Schule zu sehr verflochten sind. Am besten ist es, wenn sie aus der Schulbewegung im breitesten Sinne des Wortes kommen, also viel Erfahrung mit der Schulproblematik mitbringen, wie zum Beispiel Lehrer anderer Schulen im Ruhe­stand. [...]

Sind die Richter gewählt und sind die Ämter angenommen, dann kann man nur hoffen, daß sie nie bemüht werden. Kommt es aber zu einem Konflikt, dann sollte jeder das Recht haben, irgendein Mitglied des Gremiums, das nicht dasjenige zu sein braucht, das er sich ursprünglich als seinen Vertrau­ensrichter gedacht hatte, für die Abgabe eines Urteils zu be­stimmen. Kommen die beiden Richter der beiden Parteien nicht zu Einstimmigkeit, dann können sie aus dem Gremium einen dritten Richter hinzuziehen.

Man kann vielleicht nicht jedesmal, wenn ein neuer Mitar­beiter zutritt, die Prozedur wiederholen. Es ist auch gar nicht schlimm, hat sogar Vorteile, wenn Neulinge sich zwei bis drei Jahre mit dem gegebenen Gremium bescheiden müssen. Aber mindestens alle drei Jahre sollte man sich vergewissern, ob die beiden Vertrauensverhältnisse für alle Mitarbeiter noch ver­bürgt sind. Und es sollte zu den Aufnahmebedingungen von allen Mitarbeitern gehören, daß sie sich verpflichten, im Streit­falle sich dem Urteil der selbstgewählten Richter zu beugen und auf den Berufsrichter zu verzichten.

Waldorfschule und Waldorfeltern

[...] Eine Schule, die sich zum Ziel gesetzt hat, auf der Grund­lage anthroposophischer Didaktik und Pädagogik zu arbeiten, sollte ihre Gestaltung von der sozialen Dreigliederung her be­stimmen. Sie sollte in ihrem Geistesleben Freiheit in ihrem Rechtsleben Gleichheit und in ihrem Wirtschaftsleben Brüderlichkeit walten lassen. Von diesem Gesichtspunkt aus lassen sich drei Berührungspunkte mit den Eltern feststellen, die ihrer Art nach sehr verschieden sind. [...]

Freiheit des Geisteslebens ist durchweg derjenige Teil einer Waldorfschule, der am deutlichsten und am weitesten entwic­kelt ist. Ist es damit in Ordnung, dann ist jeder Lehrer frei, was die Art und Weise seiner pädagogischen Aufgabe betrifft. Das bedeutet, daß weder Eltern noch Kollegen und schon gar nicht ein eventueller Vorstand berechtigt sind, Weisungen zu geben. [...]

Es ist darum kaum zu vermeiden, daß es Lehrer gibt, die finden, daß ihre pädagogische Arbeit im Elternhaus verdorben wird, wie auch Eltern, die meinen, daß ihr Kind auf der Schule nicht richtig behandelt oder verkannt wird. [...]

Der Ursprung des Streites um die Erziehungshoheit liegt weit zurück und kann hier nur angedeutet werden. Mit ganz wenig Ausnahmen war es bis tief ins 19. Jahrhundert Regel, daß jene Gebiete des Geisteslebens, die man als weltanschauliche betrachtete, von der Obrigkeit bindend ausgefüllt wurden. Auf Religionsgebiet herrschte lange das „cuio regio eius religio“. Noch länger aber mußte die Erziehung auf ihre Eman­zipation warten. Genau genommen ist der Standpunkt an der Schwelle des 3. Jahrtausends noch immer nicht überwunden. Der Staat hat sich das Recht vorbehalten, die Kinder nach ei­genem Gutdünken zu kneten, und die Eltern machen es ihm auf den Gebieten, in die er sich nicht selber begeben will, nach.

Die Erkenntnis, die beinahe schamhaft‑zaudernd zum Durchbruch kommen will, ist einerseits, daß das Kind Recht auf seine eigene Entwicklung hat; daß es nicht angeht es ge­sellschaftlichen Mustern oder Desideraten anzupassen oder es auf gesellschaftliche Nützlichkeit abzurichten. Andrerseits ist auch das Verständnis noch im status nascendi, daß die Men­schenwürde verletzt wird, wenn wir einen anderen Menschen, in unserem Falle einen Lehrer, zwingen wollen, Kindern etwas beizubringen, das im Gegensatz zu seiner Überzeugung steht. Genau das ist es aber, was die Obrigkeiten und... manche Eltern von den Lehrern fordern. Der Staat stellt Lernziele fest (Abitur und auch andere Examen), und der Lehrer hat dafür zu sorgen, daß das Verlangte gewußt wird. Damit übereinstimmend fin­den die Eltern, daß ihrem Kind dies oder jenes beigebracht werden muß, ohne sich die Frage zu stellen, ob das dem päd­agogischen oder auch inhaltlichen Gewissen des Lehrers gemäß ist, ob das, was hier verlangt wird, die persönliche Entwicklung des Schülers günstig oder ungünstig beeinflusst, ob der Lehrer den Lehrinhalt auch vertreten kann, ob schließlich die zum Er­reichen des Zieles geforderte Denkmethode sich pädagogisch verantworten läßt. Es sind heute erst einige Pioniere, die sich mit diesem Fragenkomplex beschäftigen. [...]

Und wenn nun Herr Schulz grobe pädagogische Fehler macht? Das ist gewiß gut möglich, aber es gibt keine Instanz, die berufen wäre, darüber zu urteilen. Das (reine) Geistesleben kennt keine Richter, auch kein Schriftge­lehrtentum; auch nicht das von Steiner – es sei denn die ihm zugeschriebene goldene pädagogische Regel: Fehler machen ist nicht schlimm, wenn man sie aus Überzeugung macht. Die er­ziehende Kraft innerlicher Überzeugung hat pädagogisch mehr Bedeutung als schematisches Wissen (Wahrheiten).

Mit dieser Autonomie des Waldorflehrers kollidieren nun die Eltern. „Es ist mein Kind, und meine pädagogische Über­zeugung sagt mir, daß dieser Lehrer mein Kind verkehrt be­handelt.“ Nach dem Obenstehenden ist es klar, daß es nur eine Instanz gibt, an die sich die Eltern wenden können: den Misse­täter selber. Ist der nicht zu überzeugen, dann ist man am Ende der Möglichkeiten. Es ist kaum ein Trost, daß diese Autonomie des Lehrers, sogar in noch stärkerem Maße, auch im Verhältnis zu den Kollegen gilt. Die dürfen, ungebeten, nicht einmal guten Rat an den Lehrer herantragen. Ein permanenter Ausschuß oder gar der Vorstand würden die beiderseitigen Emotionen erhitzen, wenn die pädagogische Beschwerde der Eltern auch nur in Empfang genommen wird. [...] (Das schließt natürlich nicht aus, daß es weise von einem Lehrer sein kann, der viele Beanstandungen von Eltern bekommt, sich einmal in Vertrauen an einen Kollegen zu wenden: Stimmt bei mir etwas nicht?)

Die Eltern, die ihr Kind auf eine Waldorfschule bringen, sollen wissen – und es ist gut, wenn man darüber von Anfang an ganz deutlich ist –, daß es für ihre pädagogischen Probleme nur pädagogische Partner, keine Rechtsinstanz gibt. [...]

Daß sowohl Lehrer wie Eltern autonom sind, steht Beratschla­gungen nicht im Wege. Daß der Lehrer diese herbeiführen soll, liegt sogar in der Struktur der Waldorfschule verankert. Der Hausbesuch, der leider nur zu oft unter dem Zeitdruck leidet, soll nicht nur ein Bild verschaffen der häuslichen pädagogi­schen Atmosphäre, er gibt auch die Möglichkeit bei Wahrung der beiderseitigen Autonomie, pädagogisch Wünschenswertes zu besprechen. Der Elternabend sollte, wie schon erwähnt pri­mär den Bedürfnissen von Eltern und Lehrern gewidmet sein, also eine Art Wirtschaftsgeschehen darstellen. Es sollte vermie­den werden, die Prinzipien der Pädagogik zu behandeln oder die pädagogischen Probleme eines konkreten Kindes anzu­gehen. Es kann aber praktisch sein, wenn Gelegenheit gegeben werden kann, daß Eltern mit Fachlehrern, die ja nicht auf Hausbesuch gehen, über ihr Kind sprechen. Daß diese strukturell veranlagten Beratungsgelegenheiten nicht immer zweckentsprechend sind, möge für die Eltern ein Grund sein, an ihrem Aufbau kräftig mitzuwirken. Stößt man auf Unwillen von seiten des Lehrers, oder füllt dieser die Zeit mit allgemeiner Rederei, dann liegt ein Grund vor, sich bei dem Rechtsorgan zu beschweren: Der Lehrer verletzt die schuleigene Struktur. [...]

Ob die pädagogischen Gespräche von Eltern und Lehrern ein Resultat zeitigen, hängt oft von den sozialen Fähigkeiten ab. Wir dürften doch wohl davon ausgehen, daß keine der beiden Parteien das Kind zum Opfer des Konfliktes machen will? Und gerade der gute Pädagoge sieht oft Möglichkeiten, Elternwünschen entgegenzukommen, weil er über genügend Instrumente verfügt, eventuellen schädlichen Folgen zu begeg­nen. Der schwache Pädagoge hat viel eher die Neigung, in sei­ner Verzweiflung seine Autonomie zum Machtmittel zu erhe­ben. [...]

Könnten sich nicht Eltern verbinden, um in gewissen Fällen miteinander Schritte zu unternehmen? Zum Beispiel wenn eine Schwäche eines Lehrers ganz allgemein gefühlt wird? Liegt hier vielleicht eine Aufgabe für Klasseneltern? Man würde vom Re­gen in die Traufe kommen. Jedes Kind ist einmalig, und darum können Eltern nur für ihr eigenes Kind eintreten. Pädagogisch gehen die anderen Schüler sie nichts an. Und wer wirklich im Geistesleben steht, wird ärgerlich, wenn die Macht der Masse die Argumente ersetzen soll. Aber es spricht nichts dagegen, wenn Eltern einander helfen, um die Schwellenangst zu über­winden: „Sprechen Sie doch einmal mit Herrn Quer und ma­chen ihn auf Ihre (nicht auf unsere!) Bedenken aufmerksam. Ich tue es auch.“

Ganz anders begegnen einander Schule und Eltern auf dem Rechtsgebiet. [...] Die Eltern haben ein dreifaches Rechtsverhält­nis zur Schule und sollten sich dessen bewußt sein.

1. Bringt man sein Kind in die Schule, dann liegt dabei ein (mündlicher oder schriftlicher) Vertrag zugrunde. [...] So ein Vertrag ist weder eine Lappalie noch eine einseitige Angelegenheit. Gewiß können Eltern nicht erwarten, daß die Schulordnung für sie und ihre Kinder geändert wird. Doch sie entlehnen diesem Vertrag Rechte, und wäre es nur, daß sie in allem, das nicht vertraglich geregelt ist, frei sind. [...]

Ein Vertrag, auch ein solcher, zu dem eine Schulord­nung gehört, ist eine Zweiparteienangelegenheit, die nicht von der einen selbständig geändert werden darf – obwohl die Schu­len oft davon ausgehen. Will man die Schulordnung ändern, so ist man, was die alten Eltern betrifft, auf die Zustimmung von jedem einzelnen Elternpaar angewiesen. [...]

2. Der Freiheit, die das Geistesleben dem Lehrer verleiht, sind von außen her Grenzen gestellt, und sogar doppelte. Da gibt es an erster Stelle Gesetze und Bestimmungen mit Gesetzeskraft, denen die Schule und die Eltern zu gehorchen haben. Wir brau­chen darüber nicht lange zu reden. Es mag einem Lehrer höch­ste pädagogische Weisheit sein, einem lügenden Schüler die Zunge herauszureißen, die Gesellschaft stellt sich mit ihrem Strafrecht schützend vor das Kind. [...]

Interessanter sind die Fälle, in der die Schule mit ihren ei­genen Satzungen zusammenstößt. Auch dann können die El­tern, übrigens auch andere, den Rechtsapparat beanspruchen, da sie davon ausgehen durften, daß die Schule sich an ihre Sta­tuten hält. [...]

3. Schließlich ist es auch möglich, daß bezüglich eines indivi­duellen Schülers mit den Eltern Verabredungen getroffen sind, die die Schulordnung durchbrechen. Solche Wünsche sollten sogleich beim Aufnahmegespräch erörtert und festgelegt wer­den. [...]

Unter den heutigen Schulgewohnheiten haben Eltern recht wenig mit dem Wirtschaftsleben der Schule zu tun. Sie bezah­len ihren Elternbeitrag – eine Rechtsfrage! –, und damit fühlen sie sich von den Schulproblemen (und die Lehrer von den El­ternproblemen... ) befreit. Nur in der Gründungszeit, bei der Schule im Aufbau, ist das meistens anders. Und manchmal in Krisensituationen! [...]

In einer dreigliedrigen Schule sollte das anders sein. Da sollte sich ein assoziatives Leben entwickeln, an dem alle Inter­essenten an der Schule teilnehmen dürfen und das sein Zen­trum in dem im 1. Kapitel behandelten Wirtschaftsorgan fin­det. Dahinein gehören ja an erster Stelle die Eltern mit all ihren Wünschen, insoweit diese die Schule (und nicht nur ihr Kind) betreffen. [...]

In so einem Wirtschaftsorgan nun gehören die Eltern zu­sammen, bilden eine Gruppe, die in den beiden anderen Gebie­ten unerwünscht ist. Sie haben nämlich ein kollektives Interesse daran, daß die Schule da ist. Niemand kann eine Schule eigens für sein Kind haben. Die anderen Schüler, also auch die ande­ren Eltern, machen es überhaupt erst möglich, daß mein Kind diese Schule besucht. In Zusammenklang vieler Wünsche und Bedürfnisse, in einem andauernden Geben und Nehmen ent­steht erst die Möglichkeit, eine Schule nutzbar zu machen. [...]

Das größte Hindernis, eine Schule so zu strukturieren, daß sie in Übereinstimmung mit der wirtschaftli­chen Wirklichkeit ist, scheint die Förderung zu sein. Was sich als Subvention unter Bedingungen in die Schule ergießt, ist erst den Eltern und Schenkern als Steuern abgenommen und setzt jetzt die Schule instand, sich den Eltern gegenüber selbständig aufzustellen [...]. Ich betrachte das als genauso gefährlich wie den direkten Zugriff des Staates auf die Unterrichtsfreiheit. Eine von den Konsumenten unabhängige Schule kann sich je­des Steckenpferd leisten. [...]

Waldorfschule und Förderung

[...] Dem Entwurf der Waldorfschule liegt zugrunde, daß sie aus freien Schenkungen finanziert wird. Steiner dachte dabei hauptsächlich an industrielle Überschüsse; Gelder übrigens, die zwar vom einzelnen Betrieb her und unter der heutigen Ge­setzgebung gewiß Schenkungen sind, makro‑sozial aber Ver­gütungen der Wirtschaft als Ganzes an das Geistesleben als Ganzes darstellen. – Die Elternbeiträge sind in den meisten Fäl­len bereits Bezahlungen für Leistungen. Wie viele Eltern bezah­len weiter, wenn ihre eigenen Sprößlinge die Schule verlassen haben? Durch die Art der Leistungen sind sie gezwungen, nicht nur die Stunden, die ihre Kinder bekommen, zu bezahlen, sondern den ganzen Betrieb, inklusive der Ausbildung der Lehrer. Sie stellen logischerweise dann auch Forderungen an die Schule. – Diese Forderungen treten unverhohlen in den Vor­dergrund, wenn der Staat die Schule fördert. Es werden Bedin­gungen gestellt, die oft so gegen die Prinzipien der Waldorf­schule verstoßen, daß diese nicht weiß, wie sie sich drehen und wenden soll, um das Geld zu bekommen und trotzdem ihr Ziel nicht (all zu sehr) zu verraten.

Von der Dreigliederung her ist Staatsförderung von Übel. Ich behaupte das auch entgegen jener Auffassung, daß der Staat ja nur wieder austeilt, was er erst durch Steuern den Eltern abgenommen hat, und daß also die Schule – und durch sie die Eltern – mit der Förderung nur bekommt, was ihr zusteht. Das ist gewiß makro‑sozial richtig, nimmt aber auf institutio­neller Ebene den bösen Einfluß, der durch die Wiederverteilung entsteht, nicht weg. Ich möchte sogar die These aufstellen, daß staatliche Förderung nie fördert, das heißt der Schule mehr Schaden als Nutzen bringt. Nur wenn der Schüler öffentlich‑rechtlich ein Anrecht auf einen Bildungsbonus hätte, der ihm Zugang gibt zu jeder von ihm gewünschten Schule – gewiß: wenn die Schule ihn aufnehmen will –, darf man dem Staat die Rolle des Kassierers ohne Gewissenbisse überlassen. [...]

Mein Eindruck ist daß man die Förderung, aus begreiflichen Gründen übrigens, geradezu herbeisehnt: „Wir haben sie endlich bekommen!“; daß man von vornherein schon bereit ist sein Erstgeburtsrecht für eine Schüssel Silberlinge zu verkaufen; daß es manchmal gar nicht unwillkommen ist, wenn der Staat durch seine Vorschriften die Schule vor schwierigen Alternativen bewahrt.

In den Niederlanden zum Beispiel erhält man Förderung nur, wenn man sich als Verein, Stiftung oder Kirchenschule formiert oder eben als Staatsschule. Das schließt aus, daß man als Gesellschafter auf eigenes Risiko die Schule betreibt – und verleiht mit dem Beamtenstatus (Pension!) und der Förderung Sicherheit. Danke für die Vorschriften, lieber Staat! Als Stiftung oder Verein hat man dann einen Vorstand, und die Mitarbeiter stehen im Arbeitnehmerverhältnis. Das garantiert die Zucht von außen, und jeder kann den Arbeitsschutz für sich selber in Anspruch nehmen. Danke für die Vorschrift, lieber Staat! Der Staat anerkennt die eigene Lehrerausbildung der Waldorfschu­len, wenigstens für die eigenen Schulen. Das gibt dem Bund ein Monopol für die Ausbildung. Es führt zu einem de facto­-Zwang, sich beim Bund anzuschließen, und zu der Möglichkeit über den Bund den Duktus der Schulen und Seminare zu be­stimmen. Das gibt Ruhe im Haus. Danke schön, lieber Staat! So könnte man noch eine Weile weitermachen.

„Es geht ja nicht ohne Förderung!“ Diese überall gehörte These wäre wohl erst unter Beweis zu stellen. Gewiß, wenn der Neubau mit Schulden finanziert ist, sitzt man im goldenen Kä­fig. Und wenn die Mitarbeiter sich an das Wohlstandsgehalt gewöhnt haben, gilt das gleiche. Darum ist Umstellung recht schwierig. Aber mit der Kurzschlußrechnung, daß der Förde­rungsbetrag, der mehr als nötig sei, nicht von den Eltern er­bracht werden kann, ist noch sehr wenig gesagt. [...]

Die Erfahrung der sehr wenigen ungeförder­ten Schulen in Deutschland sowie der sehr vielen in England spricht eine andere Sprache. Die Schule in Wernstein brachte es sogar ohne Elternbeiträge fertig. Sie bat um freie Schenkungen, davon ausgehend, daß wenn die Eltern die Schule wirklich wol­len, sie auch dafür sorgen würden, daß die Lehrer leben können. Und weil deshalb die Eltern ihre Kinder jederzeit von der Schule nehmen konnten, bedeutete es auch, daß man sich täg­lich wahrmachen mußte. Auch hier wieder dürfen wir sagen: Weil das Sterben eingebaut war, lebte die Schule. Ich sage damit nicht, daß es ohne Förderung oder sogar ohne Schulgeld geht, ich sage nur, daß die Lebensbedingungen einer wirklich freien Schule noch kaum untersucht sind. [...]

Ist man sich aber nicht täglich des Einflusses der Förderung bewusst, dann pervertiert das Leben einer Schule in schnellem Tempo, das heißt man fängt an, das Ungesunde das Gesunde zu nennen.

Darum sollte man das Akzeptieren von Förderung nicht als etwas Selbstverständliches nehmen. Man könnte einen feierli­chen Akt daraus machen. Nein, nicht ein Dankgebet sondern ein Gelöbnis jedes einzelnen Mitarbeiters vor seinem eigenen Gewissen, ein heiliges Versprechen jedes einzelnen allen Mitar­beitern gegenüber und eine feierliche Erklärung der Schule als Institution, daß man jede Förderungsbedingung, die das Insti­tutionsziel – Rudolf Steiner‑Pädagogik – schädigt, abweisen werde, und wenn das den Bankrott bedeuten würde! So, wie das übrigens einem privaten Förderer gegenüber mit einer gewissen Selbstverständlichkeit geschähe. Um einem in einer Notsitua­tion sich weitenden Gewissen vorzubeugen, sollte dann jedem einzelnen Mitarbeiter der Weg zum Richtergremium frei­stehen. [...]

Ein Kapitel aus der pädagogischen Sozialpathologie – Die Unterwerfungsakte

Die Ehe von Waldorfschulbewegung und sozialer Dreigliede­rung wäre wohl kaum zustande gekommen, hätte sie Rudolf Steiner nicht eingesegnet. Die Waldorfschule ist das Kind der Dreigliederung, sie ist als kleines Stückchen freies Geisteslebens der letzte Rest der gescheiterten Dreigliederung und wird in der Zukunft eine neue Dreigliederungsbewegung gebären. Seitdem fühlen Größen der Waldorfschulbewegung sich verpflichtet, deren Tun und Lassen als Verwirklichung der Dreigliederung darzustellen. Da muß es natürlich Krach geben. Der ist eigent­lich schon lange da, wird aber dadurch getarnt daß sich die besagten Größen gleichzeitig als Dreigliederungskompetenzen gebärden. Solange die Dreigliederer schlafen oder mundtot gemacht werden, haben die Größen es mehr oder weniger in der Hand zu bestimmen, was Dreigliederung ist. Es wird ihnen außerdem einfach gemacht, weil die überwiegende Mehrzahl der Anthroposophen, die Waldorflehrer keineswegs ausge­schlossen, wenig Ahnung von der sozialen Dreigliederung hat. Daher diese Ortsbestimmung.

Personen lasse ich weg. Mich interessieren in diesem Zusam­menhang ausschließlich ihre Gesten in der Öffentlichkeit. Na­men führen überdies von der Sache ab. Sind sie hinter ihren Taten erkennbar, dann ist das unvermeidlich. Ich bin aber trotzdem froh, für mein Anliegen auf ein Dokument zurück­greifen zu können, in dem kein Name einer natürlichen Person vorkommt. Es ist die Vereinbarung, die gründungswillige Gruppen mit dem Bund der Waldorfschulen treffen müssen, wenn sie in diesen aufgenommen werden wollen. Sie folgt im Wortlaut, wobei ich die Sätze numeriere.

Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bunde der Waldorfschulen [Anm.: 1992]

‑1‑ Das erhebliche Wachstum der Waldorfschulbewegung, zugleich auch der Generationswechsel innerhalb der Kolle­gien und der Elternschaft geben Veranlassung, die bisher lebendig entwickelten Verfahrens‑ und Verhaltensweisen innerhalb der Gemeinschaft der deutschen Waldorfschulen genauer zu beschreiben.
‑2‑ Die gewachsenen Usancen sind besonders für das Be­wußtsein der neu hinzukommenden Schulen deutlich zu ma­chen, denen naturgemäß die langjährige Übung rein ge­wohnheitsrechtlicher Gebräuche fehlt.
‑3‑ Das Hauptmotiv für die anschließende Beschreibung ist der Wille, ein stärkeres Bewußtsein für diesen Lebensbe­reich anzuregen.
‑4‑ Immer erneut gilt es sich klarzumachen, daß das Wesen einer Gemeinschaft – einerseits – und Freiheit überhaupt –andererseits – sich erst im ausgewogenen Verhältnis der Be­lange des einzelnen (Autonomie) und der des Gesamtzu­sammenhanges erfüllen.

‑5‑ Alle Schulen und Persönlichkeiten im Bund sind sich über folgendes einig:
‑6‑ Die in der anschließenden Vereinbarung angesprochenen Abstimmungen und Konsultationen sollen nicht dazu führen, das Entstehen neuer sozialer Formen aus neuen Ideen zu be­hindern.
‑7‑ Im sozialen Bereich wollen sich besondere menschliche Kräfte aussprechen und betätigen, dies dient der fruchtba­ren Fortentwicklung der Waldorfschulbewegung.

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‑8‑ 1. Mit Aufnahme in den Bund der Freien Waldorfschulen anerkennt die zu gründende Schule (und ihr Trägerverein), daß sie in allen wesentlichen Angelegenheiten für die Dauer von etwa drei Jahren nicht ohne vorherige Abstimmung mit dem Bund, d.h. in der Regel mit seinen Regionalorganen, Beschlüsse faßt.
‑9‑ Vor Gründung der Schule werden im Einvernehmen mit ihr eine oder mehrere Persönlichkeiten namentlich benannt, die im Auftrag der Organe der Region für die betreffende Zusammenarbeit verantwortlich sind.
‑10‑ Die genannte Zeit von drei Jahren kann auf Initiative der Schule oder der zuständigen Gremien des Regionalzu­sammenhanges verlängert werden, bis sich die konkrete Zu­sammenarbeit im Sinne dieser Vereinbarung eingespielt hat.

‑11‑ 2. Zu den wesentlichen Angelegenheiten (Ziff. 1), in de­nen eine Ü b e r e i n s t i m m u n g zu erzielen ist, gehören:
-12‑ Verhandlungen mit den für die Schulaufsicht zuständi­gen Behörden, sofern diese Statusveränderungen gegenüber den in dem jeweiligen Bundesland geltenden Regelungen oder Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung (z.B. Schul­abschlüsse) betreffen;
‑13‑ -Verhandlungen mit Behörden, die die steuerrechtliche Behandlung der Schule, die steuerrechtliche Behandlung der Elternbeiträge, die Finanzierung von Schulbauten betref­fen;
‑14‑ -Grundsatzfragen der Finanzierung von Gemein­schaftsaufgaben im Bunde der Freien Waldorfschulen.

‑15‑ Einer B e r a t u n g mit den benannten Betreuern bedarf es hinsichtlich der Vereinbarung über die Mitarbeit von hauptamtlichen Lehrkräften sowie bei Grundsatzfragen der Sozialstruktur der jeweiligen Schulgemeinschaft.
‑16‑ Insbesondere soll die Schule bei der Anstellung von Ab­solventen der Ausbildungsstätten im Bund der Waldorfschu­len den Rat der betreffenden Ausbildungsstätte einholen.

‑17‑ 3.Kommt ein Einvernehmen zwischen der Schule und dem (den) benannten Betreuer(n) (Ziff.1) nicht zustande, so haben beide Seiten die Möglichkeit, sich wegen einer Vermittlung an die regionalen Gremien des Bundes zu wen­den.
‑18‑ Kommt auf diesem Weg eine Einigung nicht zustande, so können auch die anderen Organe des Bundes angerufen werden.
‑19‑ 4. Über die Zeit dieser Betreuung hinaus arbeitet jede Schule in den Gremien des Bundes (z.B. der Regionalkonfe­renz) verantwortlich mit.
‑20‑ Dabei besteht die selbstverständliche Pflicht, in we­sentlichen Fragen der Finanzierung (z.B. der öffentlichen Zuschüsse u.ä.) und der Verhandlungen mit staatlichen In­stanzen (inclusive Gerichtsverfahren), soweit die Belange der Gemeinschaft berührt werden und einseitiges Handeln nicht verantwortlich ist, die zuständigen Organe des Bundes zu konsultieren.
‑21‑ Auch hierfür gilt Ziffer 3 entsprechend.

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‑22‑ Von Anfang an wird die Einrichtung des konfessionellen Religionsunterrichts mit den dafür zuständigen Vertretern der Religionsgemeinschaften, denen die Elternhäuser ange­hören, abgesprochen.
‑23‑ Die Einführung des freien christlichen Religionsunter­richts ist von der Schule mit den namentlich benannten Be­treuern (Ziff.1) und einem Vertreter des überregionalen Religionslehrergremiums der Schulbewegung vorzuberei­ten.


[...] Wie das auch bei Begründungen von Gesetzesentwürfen der Fall ist, enthält der erste Teil Floskeln, die dem Leser die wirkliche Bedeutung des zweiten Teiles verhüllen.
Den meisten Lesern ist die freundliche, verständliche Sprache der Begrün­dung sowieso genug. Die nachfolgende Juristenprosa ist ihnen oft unzugänglich. So wird in unserem Dokument im zweiten Teil überhaupt nichts beschrieben (‑l‑ und -3‑), sondern nur vorgeschrieben. Satz zwei gibt zwar richtig an, daß man den neu hinzukommenden Schulen den beabsichtigten Duktus ein­exerzieren will, aber damit wird keineswegs Bewußtsein für ei­nen neuen Lebensbereich erregt -3‑. Einerseits dämpft das als unvermeidlich Akzeptierte das Bewußtsein, andrerseits werden diesbezügliche Willenskräfte durch die Tabus im zweiten Teil gelähmt. – Der vierte Satz läßt bekannte Töne aus dem institu­tionellen (meso‑)Erfahrungsbereich hören, wofür er Berechti­gung hat, ist aber für die Makro‑Sphäre (Verhältnis anderer Institutionen zum Bund) gemeint, wofür das Gesagte fragwür­dig und gefährlich ist: Alles, was über Beratung hinausgeht, steht im Gegensatz zum freien Geistesleben. Nur der Einzelor­ganisation, z.B. der Schule als Zielorganisation, ist die Forde­rung erlaubt, daß sich die Mitarbeiter dem satzungsmäßigen Ziel fügen. Aber welchem Leser sind diese sozialen Unterschei­dungen geläufig? Dann nur entdeckt er die falsche Analogie. – Der fünfte Satz ist eine leere Behauptung. Hat man wirklich jede Mitglied‑Schule und jede darin wirkende Persönlichkeit um ihre Meinung gefragt? – Wie so oft tritt in der Sechs das Böse in Erscheinung. Man spricht hier von einer Einstimmigkeit für etwas, das man im zweiten Teil verbietet. [...]

Betrachten wir nun den zweiten Teil. Man kann ihn eine Vereinbarung nennen. Dazu wäre aber notwendig, daß beide Parteien in Freiheit handeln können. Ist das nicht der Fall, spricht man von einem Diktat. Hier nun schreibt der Bund vor, und der Kandidat hat keine Wahl. Außerhalb des Bundes zu gründen, ist nämlich praktisch unmöglich. Man wäre dann eine willkürliche freie Schule, die staatsdiplomierte Lehrer anstellen muß, kaum Aussicht auf Förderung hat und sich nicht Wal­dorfschule nennen darf. Es gibt übrigens noch mehr Hinder­nisse. Der Bund ist de facto Monopolist, der Anwärter muß schlucken oder eben nicht gründen. – Satz acht spricht über „Abstimmen“ mit dem Bund. Das richtige Wort wäre: um Er­laubnis fragen, denn man steht für alle „wesentlichen Angele­genheiten“ unter dessen Vormundschaft. Zu neuen sozialen Formen -6‑ darf man also nur in Freiheit übergehen, wenn sie unwesentlich sind. – Die Dauer der Vormundschaft ist nicht drei Jahre, sondern unbegrenzt -10‑, weil sie erst aufhört, wenn man gefügig und hörig ist -10‑. Meine – und wohl auch die des Bundes – Erfahrung ist, daß ein Kollegium nach fünf Jahren Beamtenstatus nicht mehr zu sozialen Erneuerungen imstande ist. Man muß sich denn auch vorstellen, daß als zu benennende Persönlichkeiten -9‑, die die Vormundschaft ausüben, nur jene in Betracht kommen, die bereit sind, die Schule gefügig zu ma­chen. –

Satz elf ist so zu lesen, daß die nachfolgend aufgezählten Fälle, in denen „Übereinstimmung“ (lies: Zustimmung des Bundes) gefordert wird, keineswegs beschränkt sind. Es kann viel mehr geben („zu ihnen gehören“), aber über die genannten darf kein Zweifel bestehen, wodurch für sie der Erwägung (Satz 1‑7) jede Bedeutung genommen wird. In ihnen darf man den eigentlichen Grund der Subordinationsakte sehen. – Satz zwölf legt den Anwärter fest auf die Verabredungen, die der Bund (oder seine Glieder) mit den Behörden gemacht hat. Nun steckt, wie bekannt, die Obrigkeit heute „ihre Nase“ in die meisten Angelegenheiten der Schule, so daß frontal oder seit­lich immer Verabredungen tangiert werden. Das genannte Bei­spiel, die Schulabschlüsse, dürfte eines der harmloseren sein, wenn auch die Akzeptation von bestimmten Abschlußpflichten die Freiheit des Geisteslebens ins Herz trifft. Vor allem wird man aber kaum eine neue soziale Form -6‑ verwirklichen kön­nen, ohne auf so ein Abkommen zu stoßen. Dazu gehört z.B. eine der sozialen Grundforderungen, die Abschaffung des Ar­beitnehmerverhältnisses. Auch auf die Frage, ob die Schule die der staatlichen Förderung inhärenten Auflagen akzeptabel findet, darf sie keine eigene Antwort geben. – Für die Ausarbei­tung ist nun Satz 13 erhellend. Die steuerrechtliche Behand­lung der Schule hängt so eng mit ihrer Struktur zusammen, dass man sich kaum eine in Richtung soziale Dreigliederung ge­hende Änderung vorstellen kann, die keine Steuerfolgen hat. Kein freies Geistesleben also, keine Lehrer als freischaffende Unternehmer, keine Neutralisierung des Kapitals („Schulbau­ten“). – Satz 14 fügt das Eigeninteresse des Bundes hinzu: die Abgabenpflicht des Anwärters. Über die kann man dann die Ausbildung der Lehrer im gewünschten Sinne erzwingen. [...]

Daß sogar die Anstellung von haupt­amtlichen Lehrkräften nicht ohne den Rat des Vormundes zu­lässig ist, ist beinahe ungeheuerlich. Will man so den Rebellen an den Ausbildungsstätten den Zugang zu den Schulen weh­ren? Neu ist die Sache keineswegs. Die nachmalige Waldorfschule Wangen bekam die Gründungserlaubnis unter der aus­drücklichen Bedingung, daß einer der Gründungslehrer seine Mitarbeit an der Dreigliederungsbewegung einstellt. [...]

Ist es dem Autor des Elaborats nicht bekannt, daß niemand Richter in eigener Angelegenheit sein kann? Sätze 17 und 18 besagen nämlich im Klartext, daß, wenn der Bund „nein“ sagt man beim Bund Berufung einlegen kann: wie in der absolutisti­schen Zeit. [...]

Nach dieser notwendigerweise viel zu kurzen Analyse eines schamlos anmutenden Stückes soll der Leser noch vernehmen, welche „Vergehen“ Anlaß zu diesem totalitären Zugriff gege­ben haben. Nun, zu -22‑ und -23‑ stand Kempten Modell. Der Versuch des Bundes, um die dortige Waldorfschule auf rechtli­chem Wege gefügig zu machen und, als das mißlang, mit wirtschaftlichen Mitteln zum Schließen zu zwingen (mit großem Aufwand des Bundes eröffnete man eine zweite Waldorfschule in Kempten), scheiterte. Was hatte seinen Zorn erregt? Daß Kempten die Religionsstunden in die Privatsphäre verwies. Ein pädagogisches Interesse des Bundes an dieser Sache bestand nicht, aber es bestand die Gefahr, daß daraus für die bayri­schen Waldorfschulen Unannehmlichkeiten mit den Behörden entstehen könnten. Ja, genauso wie die Obrigkeit freie Schulen zu unterdrücken versucht, weil sie eine Bedrohung für die Staatsschulen darstellen! [...]

Dieselbe Haltung liegt aber auch dem ersten Teil des Diktates (‑8‑ bis -21‑) zugrunde, nur richtet sich der Angriff da nicht gegen einen Teil der Dreigliederung, sondern gegen sie als Ganzes. Die Schule Wernstein nämlich ist/war in Deutschland die einzige, die ihre Struktur auf die soziale Dreigliederung baute. Man nahm keine Förderung vom Staat an, lebte von freien Schenkungen (es gab also kein Schulgeld), es gab keine Arbeitnehmerverhältnisse, und es gab eine dreifach gegliederte Schulstruktur und ein (für einen eventuellen Konflikt gewähl­tes) Schiedsrichter‑Gremium. Und die Schule blühte. Genau diese Phänomene waren Stuttgart ein Dom im Auge. So eine Schule durfte ihre Lebensfähigkeit nicht erweisen! An der Pädagogik war aber nichts auszusetzen. So nahm man ihr das Recht, sich Waldorfschule zu nennen; dafür muß man ja im Bund sein, und der nahm sie nicht auf. Man durfte sich dort lange Zeit nicht einmal vorstellen, andere Schulen könnten sich an Wernstein ein Beispiel nehmen. Man schickte Leute hin... Und als das alles nicht half, griff man zum bewährten kapita­listischen Mittel: Man setze ihnen eine „echte“ Waldorfschule vor die Nase – 2 km Luftlinie entfernt, nach Kulmbach. – Inzwi­schen hat sich leider erwiesen, daß die Struktur wirklich der Grund für die Anfeindung war. Der Aufbau der Oberstufe ohne Gemeinschaftsgelder gelang nicht, man mußte um För­derung nachsuchen, wodurch manche dreigliedrigen Einrich­tungen aufgegeben werden mußten. Sofort zeigte Stuttgart ein freundliches Gesicht. [...]

Wenn die Sache nicht so tragisch wäre, könnte man in ein schallendes Gelächter ausbrechen, daß erwachsene Menschen Anno 1992 so ein Diktat einfach hinnehmen. Es ist tragisch, weil in unserer Zeit und in unserer Gegend Diktatgeber sich nur noch halten können, wenn es genügend Leute gibt die sich ei­nen Diktierenden wünschen. Meine Vorstellung vom Bewußt­seinsseelenalter wäre eine etwas andere: daß Leute, denen man so etwas zumutet, sofort eine außergewöhnliche Versammlung einberufen, um solchen Managern den Stuhl vor die Türe zu setzen. Ich mußte mich aber schon des öfteren von den Tatsachen belehren lassen, daß jenes Zeitalter auch für die Fortge­schrittenen noch nicht angebrochen ist.

Bin ich deswegen ein Gegner der Waldorfschulbewegung oder des Bundes? Nein, so ein Verleumder des Sozialimpulses bin ich nicht. Auch in einer dreigegliederten Gesellschaft würde es z.B. hierarchische Institutionen geben. Wer sie will, für den sind sie zu haben. Warum sollte es darin nicht eine Waldorf­schulbewegung geben, deren Schulen zwar anthroposophische Pädagogik betreiben, aber eben keine anthroposophischen In­stitutionen sind? Ich möchte ausdrücklich erklären, daß sich kein Wort dieses Kapitels auf die Waldorfpädagogik bezieht. Ich habe sogar Verständnis für die Manager. Ich will ihnen kei­neswegs unterstellen, daß sie gegen Treu und Glauben handeln. Wer einmal den technokratischen Kurs einschlägt, dem wird jeder folgende Schritt mit einer gewissen Unvermeidlichkeit vorgeschrieben. Todsicher landet man dann in der felsenfesten Überzeugung, daß der eigene Weg der einzig richtige ist (und wäre es auch aus Selbsterhaltungstrieb) und daß man darum nicht nur jede andersgestaltete Schule, sondern jede andere Stimme unterdrücken muß.

Die Toleranz hört aber auf, wenn man irgendeine Organi­sationsform fälschlicherweise als Dreigliederung ausgibt. Nicht aus Ärger, sondern weil es das beste Mittel ist, um die Dreiglie­derung zu schädigen [...]

Einen Schritt weiter, und wir sind bei dem Mißbrauch, der mit dem Namen Dreigliederung getrieben wird. [...] So nennt man eben die Technokratie, unter der man sich wohl fühlt, Dreigliederung. So „lebt man Dreigliederung in den Waldorfschulen“ – was für die Schulbevölkerung von Wern­stein sogar stimmen würde. Und weil Steiner die Waldorfschu­len als Wegbereiter der Dreigliederung gedacht hatte, fühlen sich die Manager der Waldorfschulen auch zu Managern der Dreigliederungs...idee berufen. Den Impuls scheinen sie oft nicht zu kennen, sonst würden sie ihn in der Art ihres Auftretens zum Ausdruck bringen. Weil das aber mancher Managernatur nicht liegt, verraten sie sich für den ausgebildeten Dreigliederer an­dauernd. Wahrscheinlich ohne es zu wissen, verletzen sie Mal für Mal die sozialen Grundregeln, die man zwar in unserer heu­tigen Gesellschaft nicht erzwingen kann, die aber für jeman­den, der im Dreigliederungsimpuls steht, Selbstverständlichkei­ten sind. [...]

Vielleicht aber sollten wir unseren Blick ganz woanders hin richten als dahin, wo man die Anthroposophie „verwertet“. Es gibt heute außerhalb der an­throposophischen Bewegung einen Instinkt für soziale Drei­gliederung, wie er mir früher nicht begegnet ist. Und manche Menschen im Osten, die nicht wie wir am Genuß der Techno­kratie einschlafen, sondern am Leiden an ihr erwacht sind, bringen ein Gespür für das Unwesen des Managertums mit, auch wenn es in Lila gekleidet geht. Das Vermuten entsteht, daß die anthroposophische Bewegung sich beeilen muß, wenn sie die soziale Entwicklung noch einholen will. [...]