20.09.2011

Ein Ideal – nur ein Ideal?

Donnerstagabend, Waldorfschule „Sonnenherz“ in Regensdorf, ein schöner, heller Raum. In einer großen Runde steht ein Stuhlkreis, Menschen kommen herein, begrüßen einander herzlich, sind zu zweit und in kleinen Gruppen in einem Gespräch. In der Mitte steht ein schönes Arrangement von Blumen und Zweigen, in dem sich der nahende Herbst spiegelt, umflossen von einem großen Stofftuch aus mildem Orangebraun...

An einer Seite ist ein kleines Buffet aufgebaut. Es gibt Kaffee, Tee, Kekse, aber auch verschiedene Speisen. Mehrere Menschen haben etwas mitgebracht. Wer will, kann schon eine halbe Stunde früher kommen und hier gemeinsam essen und sich unterhalten. Fast alle wollen... Das herzliche Miteinander ist allen am Gesicht abzulesen, die daraus entstehende Atmosphäre wie mit Händen zu greifen.

Als diese halbe Stunde zu Ende ist, haben sich alle eingefunden, die heute gekommen sind: Fünfzehn Lehrer und siebzehn Eltern. Eigentlich wollen jedes Mal viel mehr kommen, aber sowohl die Lehrer als auch die Eltern haben für sich Regeln gefunden, wie sie untereinander Monat für Monat teilweise abwechseln können, damit die Runde nicht zu groß wird. Ausführliche Mitschriften gehen nach jedem dieser Treffen an die ganze Schulgemeinschaft.

Zu Beginn der Konferenz erheben sich alle von ihrem Stuhl und sprechen gemeinsam einen wunderbaren Spruch:

Heilsam ist nur,
wenn im Spiegel der Menschenseele
sich bildet die ganze Gemeinschaft
und in der Gemeinschaft
lebet der Einzelseele Kraft.

Und man spürt: Jeder Einzelne meint jedes ausgesprochene Wort von Herzen, und in den Seelen erblüht die tiefe Bedeutung dieser Zeilen...

Nach diesen Worten ist die Atmosphäre im Raum wie verwandelt – erhoben und vertieft zugleich. Obwohl die Herzlichkeit in vollem Umfange geblieben ist, ist noch etwas hinzugekommen, eine Art reine, man möchte fast sagen heilige Erwartung, ein zarter Ernst, eine Sphäre, die sich der Bedeutung dieses Augenblickes und der kommenden zwei Stunden voll bewusst ist.

Zunächst geht es eine halbe Stunde lang um einen Vortrag Rudolf Steiners, in dem dieser über das Wesen der menschlichen Begegnung sprach. Er wird nicht gelesen, sondern zwei Eltern haben sich einen Monat lang mit diesem Vortrag beschäftigt und tragen die Früchte ihrer Arbeit nun in die Runde hinein, zusammen mit einzelnen Stellen des Vortrages, die sie dann jeweils vorlesen. Der Großteil der anderen Eltern und Lehrer hatte den Vortrag zuhause ebenfalls gelesen, und nun hören alle gespannt, wie sich das Wesen dieses Vortrages und seines Themas in den Seelen dieser zwei Eltern widerspiegelt; wie ihr Wesen sich mit jenem verbunden hat und wie sich nun beides, nein eigentlich alles drei offenbart: Das Wesen der Begegnung, Rudolf Steiners Wesen und das Wesen dieser zwei Eltern. Es sind großartige Augenblicke, wahre innerliche Feierstunden des Lebens ... aber schon sind auch die anderen Anwesenden ganz unmittelbar einbezogen, denn nun stellen die Eltern Fragen, die sofort in ein intensives, tiefgehendes Gespräch übergehen...

Dem Lehrer, der bei dem heutigen Treffen die Aufgabe des „Zeithüters“ übernommen hat, fällt es schwer, am Ende dieser halben Stunde sein Wort zu erheben, aber verständnisvolle Blicke danken ihm wertschätzend, ein anderer Lehrer findet einen guten Abschluss für diesen Teil des Gespräches, und alle Anwesenden sind sich einig, das Begonnene beim nächsten Mal unbedingt fortzusetzen.

In den folgenden eineinhalb Stunden bleibt die Atmosphäre geprägt von dieser herzlichen Verbundenheit, von diesem zarten, aber tiefen Ernst, der kein Gegensatz zur Freude ist, sondern zur Unverbindlichkeit oder besser noch: Unverbundenheit.

Und doch geht es um verschiedenste, auch schwierige Themen. Der schwierigste Punkt an diesem Abend ist vielleicht der folgende.

Es gibt einen Fachunterricht, mit dem viele Eltern nicht zufrieden sind. Als diese Frage an der Reihe ist, sprechen die direkt betroffenen Eltern ihre Wahrnehmungen und Sorgen unmittelbar aus. Die „Gesprächshüter“ des heutigen Abends, eine Lehrerin und ein Vater, geben das Ausgesprochene noch einmal kurz wieder, so dass die Eltern sich ganz und gar gehört fühlen können; dann stellen sie weitere, vertiefende Verständnisfragen und führen das Gespräch bis zu dem Punkt, wo die Eltern auch ihre eigentlichen Bedürfnisse und Hoffnungen zum Ausdruck bringen.

Unmittelbar ist zu spüren, was es ausmacht, wenn Menschen sich wirklich verstanden fühlen. Obwohl nun eine Art Konflikt vorliegt – eine Diskrepanz zwischen Bedürfnissen und Hoffnungen einerseits und der momentanen Situation andererseits –, bleibt die Atmosphäre friedvoll, verständnisvoll, im Raum stehen nicht Vorwürfe, sondern nur die sorgende Frage, was getan werden könne...

Nun erhält die betroffene Lehrerin das Wort und ausführlich Gelegenheit, ihre Sichtweise darzustellen. Die in diesem Kreis gepflegte und gedeihende Atmosphäre der warmen Offenheit ermöglicht es ihr, auch ihrerseits ganz und gar offen zu sprechen. Sie gibt zu, dass der Unterricht nicht so möglich ist, wie sie sich das wünscht. Äußerlich gesehen sind es einzelne Schüler, die den Unterricht stören, was dann jeweils bald auf große Teile der Klasse übergreift. Doch jedem der Anwesenden ist klar, dass an jedem Problem alle beteiligt sind – und jeder fühlt sich verantwortlich, konkret etwas zur Lösung beizutragen.

Aus langer Erfahrung wissen viele der Anwesenden, wie sehr „Probleme“ oft nur Symptome sind, die in unendlich feiner Vernetzung mit vielfältigsten „Ursachen“ verbunden sind, die zumindest mit dazu beitrugen, dass ein Phänomen auftritt. Dieselbe Erfahrung sagt ihnen, dass ein solches Problem genausogut an einer ganz anderen Stelle hätte auftreten können – so wie auch eine Krankheit oft nur ein Symptom für etwas viel tiefer Liegendes ist, das sich genausogut in ganz anderer Form hätte äußern können und nur umstandsbedingt an dieser oder jener vielleicht momentan schwächsten Stelle auftritt.

Natürlich gibt es vieles, was mit der Lehrerin selbst zu tun hat, und sie hat in dieser Runde den Mut, es ganz offen auszusprechen. Sie schildert, dass sie erst seit zwei Jahren an der Schule ist und noch nicht so viel Erfahrung als Lehrerin hat. Sie schildert, wie es mit drei, vier Jungen in der einen oder anderen Klasse schon ziemlich am Anfang schief gelaufen ist und wie sie seitdem nicht mehr die richtige Beziehung zu ihnen finden konnte. Und sie beschreibt, wie sie bisher immer versucht hatte, mit diesem Problem allein zurecht zu kommen, neue Ansätze zu versuchen und so weiter. Die Worte der Eltern hätten ihr aber klar gemacht, dass das der falsche Weg sei. Erst jetzt hätte sie erkannt, dass die Situation wirklich schlecht sei, aber auch, dass sie sich hier sehr alleingelassen fühle...

Die übrigen Lehrerinnen und Lehrer sind betroffen. Nicht, weil sie einen Vorwurf hören, sondern weil sie unmittelbar empfinden, dass hier eine Kollegin viel zu lange viel zu allein gelassen worden war. Ja, man hatte gesehen, dass sie es nicht leicht hatte, und man hatte gewusst, dass es mit ihrer noch geringen Erfahrung zusammenhängt, die ja immer erst wachsen muss. Man hatte sie auch öfter gefragt, wie es ginge – und man hatte gehört, dass es nicht leicht sei, aber auch: „Es wird schon werden.“ Man hatte die Kollegin mit guten Gedanken begleitet, aber man hatte sich damit zufrieden gegeben. Es war zu wenig gewesen!

All dies ist in dem Raum, in seiner Atmosphäre, nun unmittelbar spürbar. Es gibt keinerlei Vorwürfe im Raum, in den Herzen, nur die Erkenntnis des Versäumten, die Trauer und die Erkenntnis über die Situation, wie sie ist.

Die „Hüter des Gesprächs“ lassen diesem Erleben genügend Zeit. Auch das Schweigen muss gelernt werden, aber die hier Anwesenden können es... Gerade diese Momente des Schweigens, der Betroffenheit, des Erkennens sind oft die segensreichsten. In ihrem Boden wächst die heilende Pflanze, der Wille und auch das Vermögen zur Heilung der Situation...

„Was können wir jetzt tun?“ – Diese Frage lebt in den Seelen der Anwesenden auf, noch bevor die „Gesprächshüter“ sie dann auch äußerlich aussprechen. Der naheliegendste Gedanke, eine (noch) stärkere Unterstützung durch den Fachkollegen, ist nur einer von sehr vielen, die nun entwickelt werden. Die Klassenlehrer der betroffenen Klassen haben viele Ideen, was sie ihrerseits tun können, etwa in Gesprächen mit den jeweiligen Jungen. Gern sind sie auch bereit, den Unterricht zeitweise zu begleiten – nicht, um ihre Klasse „ruhig zu halten“, sondern um gemeinsam neue Keime einer Begeisterung für dieses Fach zu säen und auf unsichtbare, rein menschlich-pädagogische Weise all jene kleinen, ebenfalls unsichtbaren Knoten aufzulösen, die sich gebildet haben mochten... Ein Lehrer hat die Idee zu einem großen Projekt, in dem ein ganz neuer Blick auf dieses Fach entstehen könnte und in dem die Lehrerin eine zentrale Rolle einnehmen könnte. Auch die Eltern machen verschiedene Vorschläge. Alles wird aufgegriffen, weiterbewegt...

Am Ende erhält wiederum die Lehrerin das Wort. Sie wird gefragt, welche all dieser Ideen verfolgt werden sollen, welche ihr am meisten helfen würden. Sie nennt verschiedene Vorschläge, die sie sehr gern annehmen würde. Auch die Projektidee findet sie eigentlich wunderbar, ist sich aber nicht sicher, ob sie – oder man gemeinsam – dies bewältigen könne, jedenfalls im Moment. Sie möchte dies im Auge behalten und vielleicht später aufgreifen. Jetzt erst einmal ist sie dankbar für die vielen gemachten Vorschläge und die sehr konkrete Hilfe, die damit verbunden ist.

Wiederum ist die Atmosphäre wie verändert. Das Problem ist noch nicht gelöst – und ist es doch bereits. Die Wirklichkeit wird zeigen, welche Veränderungen in den nächsten Wochen geschehen. Jeder der Anwesenden ist froh, den Weg zu betreten, der sich in diesen vorangegangenen Minuten eröffnet hat. Und freudig und gelöst vereinbart man, beim nächsten Treffen in einem Monat gemeinsam zu schauen, was erreicht wurde. Zum Abschluss sagt ein sehr erfahrener Lehrer noch: „Ich würde mich nicht wundern, wenn sie in ein, zwei Jahren die Lieblingslehrerin mancher dieser Jungs geworden sind!“ Tief berührt und staunend nimmt die Lehrerin diese Worte entgegen, denn unmittelbar spürt sie: Sie sollen ihr nicht nur Mut machen, sondern waren zugleich durch und durch ernst gemeint...

Es ist nun noch ein wenig Zeit für weitere Themen. Am liebsten würde man das Treffen mit einem so schönen Schlusswort beenden – aber zugleich weiß man, dass auch andere Fragen nicht warten können, nicht warten dürfen... Und so wird auch die verbleibende Zeit noch genutzt, um Wichtiges zu besprechen, zu klären, weiterzuentwickeln, voranzubringen...

Als die zwei Stunden vorbei sind, finden die „Gesprächshüter“ einen guten Abschluss, fassen kurz diejenigen Punkte zusammen, die heute unvollendet oder unbesprochen bleiben mussten und in einem Monat Raum haben werden – und danken allen Anwesenden für die fruchtbare, wertvolle Begegnung dieser beiden Stunden. Und nun erheben sich alle erneut, um jenen Spruch zu sprechen, mit dem man auch begonnen hatte. Diesmal ist es nicht das Tor für die bevorstehende Begegnung, sondern der wunderbare Wahlspruch, der alle Anwesenden in die kommenden vier Wochen entlässt. Man geht nun auseinander – und doch bleibt man im Geiste eng verbunden und wird sich vielfach ja täglich wieder begegnen und eng zusammenarbeiten...

Ideal und Realität – und die Realität des Ideals

Manche Menschen mögen denken: Was ist das für ein absurdes, realitätsfernes Ideal? Manche mögen sich sogar innerlich schütteln vor all der empfundenen „süßen Heiligkeit“ oder ähnlichem, mögen in dieser Schilderung eine tiefe Unwahrhaftigkeit empfinden. – Aber es handelt sich hier nicht um ein absurdes, unwahrhaftiges Ideal, sondern um das wirkliche Ideal der Waldorfpädagogik.

Die versuchte Beschreibung dieses Ideals in einer konkreten Gestalt liest sich nur deshalb so seltsam, weil die Realität tatsächlich sehr oft eine vollkommen andere ist. Dadurch ist es in der Tat sehr schwer, die Worte nicht auch ideologisch oder moralisierend zu empfinden. Dies gelingt nur, wenn man wirklich ganz in das Erleben der beschriebenen Situation eintauchen kann. Wenn man dabei nicht die Erinnerung an die einem bekannte Realität im Hinterkopf hat, denn dadurch wird das Ideal etwas Abstraktes, Realitätsfernes, das eine süßlich-sentimentale Note bekommt, oder aber man liest einen moralischen Zeigefinger mit etc. – Es ist aber unser Erleben, das all diese Eindrücke hinzufügt, wenn wir es nicht schaffen, uns ganz und gar in das Ideal zu versenken (oder bzw. zugleich: uns zu ihm zu erheben). Ein Ideal ist nur dann unwahrhaftig und sentimental, wenn wir es nicht ganz und gar ernst nehmen, wenn wir uns mit ihm nicht verbinden können oder wollen, zumindest im Moment des Lesens.

Das Empfinden „süßer, unwahrhaftiger Heiligkeit“ sagt nichts über das hier beschriebene Ideal aus, sondern nur über den, in dem dieses Empfinden lebt, der also diese Heiligkeit noch nicht als Ideal empfinden, ihr Wesen noch nicht erleben, in sich selbst zum Ideal machen, wahr-machen kann.

Ein wahres Ideal kann nur etwas sein, zu dem man sich nicht zwingen muss, sondern das man erstreben, dem man folgen will. Unwahrhaftigkeit liegt in allem, was man macht, aber nicht will. Man soll nicht „heilig“ und harmonisch „tun“, sondern die Realität dessen erstreben. Wenn man das hier beschriebene Ideal hat, dann sind „Probleme“ wahrhaftig vereinbar mit Harmonie.  Dann sind Probleme nicht Konflikte zwischen Menschen – zwischenmenschliche Konflikte –, sondern Herausforderungen, die die Wirklichkeit selbst stellt und die dazu bestimmt sind, gelöst zu werden. Dann ist die Wirklichkeit selbst („Ist-Situation“) ein „Problem“ – und die in diese Wirklichkeit hineingestellten Menschen sind die Lösung! Diese Lösung kann aber nur in Harmonie gefunden werden...

Die Harmonie ist die seelische Grundlage, auf der alle Probleme gelöst werden können – ohne Streit und Konflikt. Das heißt nicht, dass man an einem Problem nicht sehr leiden könne (das kann und muss man sehr wohl, gerade auch im Sinne von: Mitleiden, Mitempfinden). Es heißt nur, dass man nicht in einen Konflikt geraten und über das Problem und seine Ursachen streiten muss – sondern in echter Harmonie auf die Suche nach den vielfältigen und fein verzweigten Ursachen, Wechselwirkungen und Versäumnissen gehen kann und ebenso harmonisch mögliche Lösungen entwickeln und gestalten kann.

Von der Beziehung zwischen Harmonie und Anthroposophie

Manche Menschen können „dauerhafte“ Harmonie nicht ertragen, sie empfinden sie in gewisser Weise als langweilige, tödliche „fried-höfliche“ Leblosigkeit. Doch entweder haben sie dann noch nie eine solche Harmonie erlebt, von der hier die Rede ist (sondern immer nur Scheinheiligkeit), oder sie kennen das allerhöchste und allertiefste Leben und Erleben der Seele darin überhaupt noch nicht. Dieses Erleben und auch die Bedingungen einer solchen Harmonie müssen tatsächlich erst in schweren, ebenfalls sehr lebendigen, aber auch tödlichen inneren Kämpfen errungen werden! Man muss von manchem Abschied nehmen, wenn man sich auf jenen inneren Weg macht, in dessen Verlauf wahre innere und äußere Harmonie immer mehr möglich wird. (Goethe fasste diese Wahrheit in folgende Worte: Und so lang du das nicht hast | Dieses: Stirb und werde! | Bist du nur ein trüber Gast | Auf der dunklen Erde).

Und deswegen ist die Harmonie zwar die seelische Grundlage ... ihrer selbst – aber sie ist nicht das Erste. Das Erste ist das Ringen um ihre Bedingungen, der innere Kampf um die Grundlagen, auf denen diese Harmonie überhaupt erst wachsen und gedeihen kann. Ohne eine starke, immer mehr vertiefte Selbsterziehung wird es eine solche Harmonie, wie sie hier gemeint ist, niemals geben – niemals diese starke, lebendige, schöpferische, heilige Harmonie, sondern tatsächlich allenfalls friedhöfliche Freundlichkeit, in der sich scheinbar alle gut verstehen, in der sich aber nichts Wesenhaftes, nichts Zukünftiges entwickelt.

Eine Waldorfschule ist aber nicht nur ein „Etwas“, und sei es harmonisch, sondern die Harmonie braucht ein Ziel, ein Wesen, einen Inhalt, einen Umkreis, auf den hin sie sich entfaltet. Eine Waldorfschule ist eine Waldorfschule, das heißt – ich spreche hier immer vom Ideal – Trägerin, Schöpferin von Waldorfpädagogik, von wahrer Erziehungskunst. Und dieses Ziel, dieser Inhalt, dieses Wesen ist die geistige Grundlage, auf der alle Probleme gelöst werden können – und auf der sich die hier gemeinte Harmonie überhaupt entfalten kann.

Die seelische Harmonie braucht ein Ziel, einen Inhalt, einen Quell, sonst wird sie ziellos, inhaltslos und erschöpft sich selbst. Friedhöflich und unerträglich ist eine Harmonie ohne Ziel. Ist aber ein solches Ziel da, dann ist die Harmonie immer auch ein Streben – und ein Streben kann nie vollkommen sein, kann immer nur ein Streben hin zu dem Vollkommenen, dem Ideal, sein. Und ein solches Streben ist das Lebendigste, was es nur geben kann.

Die Waldorfpädagogik ist eine unmittelbare Frucht der Anthroposophie – ist lebendig gewordene Anthroposophie auf einem bestimmten Gebiet des Lebens, auf dem der Erziehung. So wie die Erziehung durch Anthroposophie zur Kunst wird, so auch die Medizin (zur Heilkunst), die Landwirtschaft (zur Kunst, die Erde zu pflegen) und alles andere, denn es wird das Wesen erfasst. Die Anthroposophie, die Waldorfpädagogik – es ist etwas geistig Wesenhaftes, der geistige Quell für das, was dann auch in die sinnliche Realität tritt. Was dann Realität wird, ist geprägt von den Menschen, und damit auch von all unseren Unvollkommenheiten. Aber eben auch von dem, was wir erstreben und was wir als geistig Wesenhaftes erkennen – oder zu erkennen und zu erfassen uns bemühen.

Von der notwendigen Wahrhaftigkeit

Eine Waldorfschule wird in dem Maße eine Waldorfschule, in dem es wirklich um diesen geistigen, ganz und gar realen Urquell der Waldorfpädagogik geht: die spirituelle Menschen- und Welt-Erkenntnis der Geisteswissenschaft oder Anthroposophie. Es liegt nahe, zu betonen, „danach streben wir alle ja täglich“, und es liegt nahe, sich auf diese Feststellung zu versteifen, je mehr sie infrage gestellt wird. Aber genau dies ist der Punkt, wo wir ganz und gar wahrhaftig werden müssen, sonst verlieren wir die Wahrhaftigkeit vollkommen unter den Füßen – und glauben nur noch, ganz wahrhaftig zu sein, mit bestem Willen zu streben und so weiter. Auf dieser löchrigen Grundlage aber wird dann alles Streben korrumpiert, nämlich von der eigenen Unwahrhaftigkeit. Und auf dieser bodenlosen Grundlage ist dann auch niemals eine wahre Harmonie möglich, denn die geistige Grundlage einer Waldorfschule und der geistige Quell der Harmonie in einer Waldorfschule kann nur das geistige Wesen der Waldorfpädagogik und der Anthroposophie sein – und das Streben der Menschen nach diesem geistigen Wesen.

Nicht alle Menschen einer Waldorfschul-Gemeinschaft müssen dieses Streben bereits haben, aber die Pädagogen sollten es haben. Nicht alle Pädagogen müssen dieses Streben bereits haben, aber insofern dieses Streben noch nicht vorhanden ist, wird jede Harmonie inhalts- und ziellos oder ist sogar durch den Mangel an Selbsterziehung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dann aber findet man die Bildung von Lagern – sei es in Bezug auf die eigenen Rollen („Lehrer“, „Eltern“), sei es in Bezug auf die sich widersprechenden Vorstellungen, die alle glauben, „im Recht“ zu sein. Man findet dann eine geist-lose, nicht vom Geist genährte Ist-Situation. Und diese Ist-Situation ist heute allzu oft die wirkliche. Wir haben heute keine Harmonie – und wir haben heute nicht einmal das notwendige Streben, wie es hier gemeint ist. Denn zuerst müssten wir uns eingestehen, dass wir eben nicht „doch alle jeden Tag danach streben“, wir müssten unsere inneren Augen öffnen und wahrhaftig werden.

Wollen wir weiter uns selbst, die Anthroposophie und die anderen Menschen belügen? Wollen wir uns weiter „rechtfertigen“, dass wir „doch alle jeden Tag streben“, oder wollen wir nicht einmal den Blick darauf richten – in voller Wahrhaftigkeit –, was wir jeden Tag versäumen, und was Anthroposophie eigentlich ist? Haben wir wirklich die Dreistigkeit, uns als Waldorfpädagogen zu bezeichnen, wenn wir uns zwar bemühen, den Unterricht zu bewältigen, uns gut vorzubereiten, die Kinder zu lieben, ein wenig erhaben an Reinkarnation zu denken – aber die Anthroposophie links liegen zu lassen? Glauben wir tatsächlich, wir könnten wahre Waldorfpädagogen werden, ohne wirklich in die Anthroposophie einzutauchen und ein vollkommen anderer Mensch zu werden? Dies ist die entscheidende Frage. Nicht ist entscheidend, inwieweit uns dies gelingt – aber es ist entscheidend, ob wir genau dies wirklich stark erstreben oder nicht. Das ist die einzige Gretchenfrage der Waldorfschule, es gibt keine andere. Und an dieser Gretchenfrage entscheidet sich auch die ganze Frage der Harmonie.

Niemand kann, soll oder darf zu diesem Streben gezwungen werden. Aber es scheint, als fühlten sich manche Kollegien gezwungen, ein „Streben“ zu verteidigen, das gar nicht da ist. Die Behauptung, dass „wir doch alle jeden Tag streben“ ist die größte Unwahrhaftigkeit, die es auf diesem Gebiet gibt, und jeder, der die Augen öffnet, kann es klar sehen. Niemand kann zum Streben gezwungen werden, und man muss auch mit Menschen zusammenarbeiten, die kein Interesse an der Anthroposophie haben, oder die eine sehr abstrakte Vorstellung von ihr haben und auch daran festhalten – aber der nächste Schritt kann nicht sein, diese Wirklichkeit zu leugnen. Wenn man diese Wirklichkeit nicht ganz und gar in den Blick nimmt und zugibt, kann es keinen einzigen wirklichen Schritt vorwärts geben.

Entwicklung in Richtung Harmonie und wirkliche Waldorfpädagogik wird es nur in dem Maße geben, wie das Streben nach der wirklichen, realen Anthroposophie zunimmt. Dies ist der definitive Grenzpunkt, an dem man auch durch noch so schöne Vorstellungen von der Wirklichkeit nicht vorbeikommt. Die Wirklichkeit selbst wird diese Vorstellungen immer widerlegen – ob man es wahrnimmt oder nicht. Es gibt Menschen, die sehen den Mangel an Waldorfpädagogik nicht; es gibt Menschen, die sehen den Mangel an Harmonie nicht. Die einen glauben, sie hätten eine wunderbare Waldorfschule; die anderen glauben, sie hätten eine wunderbare Harmonie. Vom Gegenteil überzeugen kann man sie nicht, für die Wirklichkeit muss jeder selbst die Augen öffnen, bevor er sie sehen kann.

In einer wahren Waldorfschule gibt es z.B. auch zu jedem pädagogischen Problem Ansätze zu einer wesensgemäßen Lösung. Die Unvollkommenheiten bringen es mit sich, dass es in der Realität oft auch anderes gibt und dieses andere auf der Vorstellung aufbaut, „der Schüler“ sei schuld, „die Eltern“ seien schuld und so weiter. Die Schuldfrage macht jedoch immer blind für den eigenen Anteil – die eigenen Taten, Versäumnisse und Unvermögen. Selbstverständlich kann eine Waldorfschule und ein einzelner Waldorfpädagoge kein „Allheilmittel“ gegen alles sein, was überhaupt in der Wirklichkeit geschieht und versäumt wird. Aber die entscheidende Frage ist auch hier die nach dem eigenen Streben, der eigenen Erkenntnis, der eigenen Selbsterziehung. In dem Maße, in dem diese wachsen, wird eine Waldorfschule eine Waldorfschule und als solche dennoch ein Allheilmittel. Und im tiefsten Inneren wissen wir das; wissen, was hiermit gemeint ist...

Einseitige Auffassungen über die „pädagogische Autonomie“

Es gibt ein weiteres Hindernis für eine wirkliche Harmonie, eine wirklich gemeinsam strebende Schulgemeinschaft und Eltern-Lehrer-Konferenz. Es ist eine falsche, einseitige Auffassung von der „Lehrerselbstverwaltung“.

Rudolf Steiner hat betont, dass die damals in Stuttgart gegründete Waldorfschule, ja überhaupt das gesamte Geistesleben frei werden müsse von staatlichem Einfluss und staatlicher Bevormundung. Dazu gehört auch die Bevormundung durch Schulämter und Schulräte, die selbst nie im Klassenraum stehen. Jede Schule müsse sich selbst verwalten, das Geistesleben müsse seine eigenen Organisationen bilden, in denen tätige Praktiker arbeiten. Nur so könne gewährleistet sein, dass aus wirklichkeitsgemäßer Erkenntnis das Richtige geschehe, dass der einzelne Pädagoge aus seinen individuellen pädagogischen Intuitionen handeln könne. Was er betonte, war also die volle pädagogische Autonomie des Einzelnen und – als Grundlage dafür – die verwaltungsmäßige Autonomie der einzelnen Schule.

Den Lehrern gegenüber betonte Rudolf Steiner in vielfältiger Weise die andere Seite dieser Autonomie: die Notwendigkeit der Selbsterziehung, der Vertiefung der anthroposophischen Erkenntnis. Diese zwei Seiten derselben Sache kann und darf man also nicht trennen: Ohne Selbsterziehung und innere Vertiefung sind diejenigen pädagogischen Intuitionen, auf die Rudolf Steiner hindeutete, gar nicht möglich! Damit aber stünde die pädagogische Autonomie im luftleeren Raum, der sich auch zum Abgrund aller menschlichen Schwächen hin öffnen kann. Nun sind diese Schwächen so oder so da. Die Frage ist nur, ob man die moralische Forderung und Notwendigkeit ernst nimmt, oder ob man die „pädagogische Autonomie“ wie einen Anspruch vor sich herträgt, um sich zum Beispiel vor Eltern zu schützen, die Dinge wahrnehmen, in Bezug auf die diese Autonomie einfach ein leerer Begriff wird, weil es um die reale Notwendigkeiten geht, an der konkreten Wirklichkeit etwas zu ändern, wenn man seinem pädagogischen Auftrag gerecht werden will. 

Es geht darum, dass die Polarität zwischen „hineinreden wollen“ und „sich nicht hineinreden lassen“ von vornherein eine falsche ist, weil die Wahrnehmung, die zu dieser Polarität führt, eine falsche ist. Es ist keine reine Wahrnehmung, sondern eine von einer falschen Vorstellung getrübte. In dieser Hinsicht müsste man sich im Sinne des (von Buddha gelehrten) achtfachen Pfades zunächst zu der richtigen Meinung erziehen. In der wahren Erziehung geht es nie um ein Gegeneinander, also um eine Lagerbildung, sondern immer um ein Miteinander, um ein gemeinsames Bemühen.

„Wir brauchen in dieser Schule, wenn wir in der richtigen Weise vorwärtskommen wollen, mehr als in einer anderen ein vertrauensvolles Zusammenwirken mit den Eltern. Unsere Lehrer sind durchaus darauf angewiesen, dieses vertrauensvolle Zusammenwirken mit den Eltern der Kinder zu finden.“
Rudolf Steiner am 13.1.1921, GA 298, S. 68.

Angst, Abwehr und die falsche Frage

Ist es falsch, wenn Eltern in Bezug auf pädagogische Fragen mitsprechen wollen? Wenn sie gehört werden wollen? Wenn sie Fragen z.B. zum Fremdsprachenunterricht haben, weil ihr Kind auch nach sechs Jahren vielleicht noch fast keinen Satz Englisch oder Französisch spricht? Wenn sie sich Sorgen machen und dies oder jenes nicht verstehen?

Dies sind ganz verschiedene Fragen, in denen ganz verschiedene Dinge zusammenspielen. Oft jedoch ist (auf Seiten der Lehrer) eine einheitliche Reaktion zu beobachten, und diese ist in jedem einzelnen Falle falsch. Die Reaktion ist Abwehr. Oft geht diese Reaktion aus Angst hervor – Angst vor den unbekannten Intentionen der Eltern, vor der befürchteten oder bereits herausgehörten Kritik, vor den Folgen, wenn man auf die Kritik, die Sorgen oder die Fragen der Eltern vorbehaltlos offen eingehen würde. Abwehr aber ist ein Zurückstoßen, und in der Regel erzeugt dies wiederum eine Gegenbewegung: Die Eltern fühlen sich nicht gehört, nicht verstanden, sie sind enttäuscht oder empört, und nun beginnt erst wirklich eine Kritik, nun entsteht ein echter zwischenmenschlicher Konflikt. – Natürlich war auch die Reaktion des Lehrers eine Reaktion. Die Frage ist aber, aus welchem Motiv heraus. Wer oder was hat ihn dabei geleitet? Angst? Hochmut? Eine falsche Vorstellung von „Autonomie“? Die Frage ist: War die Zurückweisung der Eltern richtig, war sie fruchtbar? Oder war sie falsch und führte sie erst zu einem echten Konflikt? Die Zurückweisung kann dabei sehr subtil sein – sie kann sich nonverbal äußern, sie kann sich darin äußern, dass man „nur das Notwendigste“ sagt, oder darin, dass man das Problem „aussitzt“, eine Frage versanden lässt usw.

Die Frage ist auch hier nicht, wer schuld hat, sondern: Wie kommen wir zu einer vollkommen offenen, vertrauensvollen Begegnung und Zusammenarbeit? Und wir kommen dahin niemals, wenn wir eine falsche Vorstellung von „pädagogischer Autonomie“ haben. Und ebenso wenig, wenn wir – als Lehrer oder als Eltern – Angst voreinander haben; den anderen als mächtigen Gegenüber und in einer Rolle wahrnehmen, anstatt ihn als Freund Schulter an Schulter auf einem gemeinsamen Weg zu erleben. Aber an diesen letzten Worten empfindet man vielleicht schon, wie weit die Strecke und der Abgrund oft ist, der zunächst überbrückt werden muss, bevor man sich überhaupt auf diesem gemeinsamen Weg befindet und erlebt. Oft trennen uns Abgründe des Erlebens, weil es keinen Raum gibt – äußerlich und innerlich –, wo Verständnis wachsen kann, wo man sich überhaupt seelisch und geistig begegnen kann!

Die größere Verantwortung für diese Dinge hätten dabei zunächst die Lehrer, denn zu ihnen hat Rudolf Steiner über diese Notwendigkeit immer wieder gesprochen. Die Eltern wissen oft nichts von dem Geist der Waldorfpädagogik, sie wissen oft nichts von der Notwendigkeit eines herzlichen Einvernehmens – zumal auch dies erst eine Frucht innerer Selbsterziehung sein kann. Von den Waldorflehrern muss dies ausstrahlen, von ihnen ausgehend muss ein lebendiger guter Geist die Schule durchziehen, in dessen warme, lichte Atmosphäre dann nach und nach alle Menschen aufgenommen werden.

Kritik, kritische Fragen von Eltern sind normal, sie sind sozusagen die menschliche Natur, bevor der Mensch seine innere Selbsterziehung noch bewusster in die Hand nimmt und zu einem anderen Umgang mit den Mitmenschen kommt, also überhaupt erst eine wahrhaft menschliche, wirkliche Kultur entwickelt. Gerade der Waldorflehrer muss in seiner Selbsterziehung so weit kommen, dass er auch durch Kritik nicht zu einer Gegenreaktion veranlasst wird, sondern auch dann noch aus sich heraus handelt – nicht geleitet von Angst oder Empörung, sondern nach wie vor von reiner Erkenntnis und einem wahrhaft guten Willen. Das scheint heute ein sehr hohes Ideal zu sein und ist es auch, und dennoch muss man sagen: Wenn es nicht verwirklicht wird, werden wir für immer vor den Problemen stehen, in denen wir heute überall stecken, und diese Probleme werden schlimmer werden. Der einzige Ausweg ist die Selbsterziehung, denn nur sie kann die Keime zu jener lebendigen, starken, geistig blühenden Harmonie legen, die ich zu Beginn anzudeuten versuchte.

Von der absoluten Notwendigkeit der Zusammenarbeit

Und auch wenn die Eltern in dieser Selbsterziehung weniger weit sein sollten (nicht selten sind sie mindestens ebenso weit): Auch sie sind pädagogische Experten. Nicht unbedingt in Bezug auf „Waldorfmethoden“ und „Lehrplaninhalte“, aber oft genug in Bezug auf viele andere Fragen und ganz besonders in Bezug auf ihr Kind. Das ist ein Aspekt, auf den Rudolf Steiner in seinen vielen Worten über das „herzliche Einvernehmen“ zwischen Lehrern und Eltern hinweisen wollte. Selbstverständlich kann die elterliche Sorge um das eigene Kind auch leicht eine egoistische Färbung annehmen. Aber ebenso selbstverständlich kann der Lehrer bei dem Kind vieles übersehen oder versäumen, was die Eltern sehr wohl deutlicher sehen und wo Lehrer und Eltern zum Wohle des Kindes innig zusammenwirken könnten und sollten. Solange jedoch eine subtile Distanz vorherrscht, ist dieses Zusammenwirken, von dem Rudolf Steiner sprach, nicht möglich. Überbrücken kann diese Distanz nur der Lehrer, die Eltern suchen die Nähe oft genug – und wo nicht, vermag ebenfalls nur der Lehrer, die Brücke zu schlagen. Und er muss die Verbindung auch und gerade dann halten, wenn kritische Stimmen laut werden sollten. Wie soll es denn anders gehen? Es geht nicht anders.

All dies bleibt aber auch im größeren Schulganzen wahr. Lehrer und Eltern müssen zusammenwirken. Es ist heute nicht mehr möglich, die Eltern auf Abstand zu halten. Die erste Waldorfschule war eine Gründung von Emil Molt für die Arbeiterkinder. Sie war eine Schule, die von den Lehrern geprägt wurde, die ihrerseits intensivsten Rat und eine innige Fortbildung durch Rudolf Steiner selbst erhielten. Diese Situation ist überhaupt nicht mehr vergleichbar mit der heutigen. Heute haben wir keine Arbeiterschaft als Elternschaft, heute haben wir außerordentlich gebildete Eltern, die oft sogar selbst Lehrer sind. Heute haben wir Schulen, die oft genug sogar „Eltern-Gründungen“ sind, wo jedenfalls Lehrer und Eltern von Anfang an zusammengewirkt haben, um die Schule aufzubauen.

Was bleibt unverändert gültig? Der eherne Grundsatz, dass sich die pädagogische Fähigkeit und Kunst im einzelnen Menschen dann am besten entfalten kann, wenn er den größtmöglichen Freiraum erhält, um seine pädagogischen Intuitionen auszubilden und ihnen dann auch folgen zu können. Der Lehrer soll seine Pädagogik selbst voll verantworten – und ein Kollegium ebenfalls. Darum müssen sie autonom sein, muss es die Selbstverwaltung geben und so weiter.

Aber das ist nur die eine Seite der Wahrheit. Die andere Seite ist die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern. Hier kann sich ein ebensolcher Schein-Widerspruch auftun wie zwischen den Idealen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ der Französischen Revolution, wenn man nicht sieht, in welcher Hinsicht welches Ideal sich entfalten kann und soll, damit sie wahrhaft zusammenwirken können. Rudolf Steiner zeigte, wie die Freiheit das Grundprinzip des Geisteslebens ist bzw. sein muss, die Gleichheit im Rechtsleben, die Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben. Und selbst diese Begriffe entwickelte er lebendig. Geistesleben ist all das, wo es um menschliche Fähigkeiten geht, Wirtschaftsleben das, wo es um menschliche Bedürfnisse geht. Seine Fähigkeiten soll der Mensch also in größtmöglicher Freiheit entfalten können, und in Bezug auf die Bedürfnisse soll sich eine immer mehr sich vertiefende Brüderlichkeit entwickeln können...

Was bedeutet das für die Pädagogik? Der Lehrer braucht den Freiraum und das Vertrauen. Aber es gibt Situationen, wo die Eltern Fragen haben, in denen sie das Vertrauen erst wieder neu gewinnen müssen, das heißt, ihrerseits vom Lehrer etwas brauchen. In der Regel schenken die Eltern dem Lehrer fortwährend ihr Vertrauen, weil sie ihm das Teuerste anvertrauen (auch darauf hat Rudolf Steiner hingewiesen), und in den Waldorfschulen leisten viele Eltern zusätzlich ein Ungeheures an Unterstützung in vielerlei Hinsicht. Aber was geschieht, wenn sie Fragen haben, die der Lehrer nicht zufriedenstellen beantwortet oder beantworten kann? Dann tut sich seelisch eine Lücke auf, es geht Vertrauen und innere Beziehung und Kraft verloren, eine kleine Kluft entsteht – die sehr schnell zu einem großen Abgrund aufreißen kann! Das heißt: Der pädagogische Prozess, den wir „Schule“ nennen, ist ein empfindliches Wechselspiel, in dem auch die Eltern Bedürfnisse haben, die oft zunächst nur die Gestalt von Fragen annehmen. Der Lehrer muss diesen Bedürfnissen voll und in völliger Offenheit entgegenkommen – das innere Engagement darf hier in nichts kleiner sein als das, was er von den Eltern erhofft und erwartet, es kann und muss höchstens größer sein, denn das herzliche Einvernehmen ist die Lebensgrundlage der Waldorfpädagogik, an ihm hängst letztlich alles.

Der Begriff der „pädagogischen Autonomie“ ist also immer dann falsch und ungesund gefasst, wenn nicht ganz deutlich erkannt wird, dass das Bedürfnis der Eltern nach Antworten auf ihre Fragen mit aller Kraft, aller Offenheit und allem Entgegenkommen beantwortet werden muss; dass dieses Bedürfnis genauso elementar und unerschütterlich berechtigt ist wie die Autonomie des Lehrers. Die Autonomie des Lehrers ist nur dann gewährleistet, wenn sein Wirken von dem Vertrauen der Eltern umhüllt ist – das Vertrauen der Eltern ist nur gewährleistet, wenn all ihre Fragen offen und ganz und gar vorbehaltlos beantwortet werden können. Es handelt sich um ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Sobald dieser „heilige Ring“ an irgendeiner Stelle unterbrochen ist, verliert er seine Zauberkraft. Wenn man die Wahrheit dessen erlebt, ist es unmittelbar klar, dass die „pädagogische Autonomie“ niemals ein Anspruch sein kann – und niemals als Instrument benutzt werden darf, um „Elternansprüche“, Fragen und Kritik abzuwehren oder auch nur auf Distanz zu halten.

Der Waldorflehrer ist, das hat Rudolf Steiner immer wieder betont, ganz auf das „volle Verständnis“ der Eltern angewiesen. Und ganz allgemein gilt für alles Geistesleben das Grundprinzip: Produktivität und freie Empfänglichkeit. Der Begriff Empfänglichkeit umfasst beides: Verständnis und Bedürfnis. Das „frei“ drückt aus, dass z.B. die Waldorflehrer dieses Verständnis nicht erwarten dürfen und auch keinen „Anspruch“ darauf haben, sondern es immer wieder herstellen bzw. die Grundlagen dafür schaffen müssen. Zugespitzt muss man sagen: Das Freie Geistesleben schafft sich die Bedingungen seiner Existenz selbst. Und wo dies nicht gelingt, sind die Bedingungen einfach nicht vorhanden. Die Waldorfpädagogik muss sich ihre Bedingungen schaffen. Wenn sie wahrhaft auflebt, wird sie notwendigerweise auf ein entsprechendes, rein menschliches Bedürfnis treffen, denn sie ist ihrem Wesen nach die Verwirklichung und Förderung des menschlichen, individuellen Wesens. Wo sie nicht auf das volle Verständnis trifft, steht sie in Bezug auf ihre Verwirklichung selbst vor größeren Hindernissen – und dann ist ein „Anspruch“ auf Verständnis natürlich erst recht nicht zu verlangen, wie auch zuvor schon nicht.

Waldorfpädagogik kann nicht verwirklicht werden, wenn Eltern und Lehrer um Ansprüche streiten. Sie kann aber selbst da nicht verwirklicht werden, wo Eltern in pädagogischen Fragen auf Distanz gehalten werden. Man mag zwar äußerlich den Eindruck haben, dass sie auf diese Weise verwirklicht werden könne, es handelt sich aber um eine Illusion. Wenn man ihr unterliegt, hat man noch überhaupt keine Vorstellung von dem, was Waldorfpädagogik wahrhaft sein könnte und ihrem geistigen Wesen nach ist. Das „herzliche Einvernehmen“ mit den Eltern und das „volle Verständnis“ der Eltern für das Wesen dieser Pädagogik sind eben keine nette Zutat, die Rudolf Steiner nebenbei als Ideal erwähnte, sondern er nannte sie immer wieder als eine Grundbedingung. Wenn man nicht empfindet, was damit gemeint ist, droht diese gefährliche Illusion, dass Waldorfschule eine Lehrerschule sein könne. Heute kann sie es noch weitaus weniger sein als vor einhundert Jahren. Aber an genau dieser Illusion entzünden sich die ganzen schon sprichwörtlich gewordenen Konflikte, in denen Eltern das Empfinden haben, sie seien nur gut genug zum „Backen, Blechen, Bauen“.

Überall, wo es zur Lagerbildung kommt, ist Waldorfschule zunächst gescheitert. Die Pädagogik kann dann noch mehr oder weniger erfolgreich nebenher laufen, ihr eigentliches Potential wird in all diesen Fällen aber nicht einmal im Ansatz erreicht. Lagerbildung gibt es aber bereits dort, wo die Eltern auf Distanz gehalten werden – ob sie das mehr oder weniger hinnehmen oder nicht.

Distanz darf es in der Waldorfschule nicht geben. Die Eltern dringen ohnehin immer wieder auf eine Überwindung der Distanz, wie auch immer sich das äußert. Die einzig heilsame Bewegung kann es also nur sein, dass die Lehrer die Eltern von vornherein und aktiv „ins Boot holen“. Von den Lehrern muss das Miteinander ausgehen. Muss es von den Eltern erst „gefordert“ werden, ist die Bewegung schon eine falsche, denn dann wird es mit Sicherheit maximal „Zugeständnisse“ der Lehrerschaft geben, was noch immer eine Abwehr ist. Auf dieser Basis kann kein Vertrauen entstehen. Auf dieser Basis entsteht allenfalls Gremienarbeit, auf dieser Basis werden Vertreter entsandt, vielleicht dürfen einzelne Elternvertreter sogar in der Pädagogischen Konferenz sitzen, aber die Distanz und der Abstand bleiben. Es fehlt die Gesinnung des echten, vorbehaltlosen Miteinanders. Man hält die Eltern auf Abstand, weil man „aus Erfahrung“ weiß, dass diese, „wenn man ihnen den kleinen Finger bietet, immer die ganze Hand wollen“. Aber woher kommt ein solches Denken? In der Waldorfpädagogik braucht es die ganze Hand! Nur Hand in Hand können Lehrer und Eltern ihre gemeinsame Aufgabe erfüllen.

Waldorfpädagogik scheitert, wenn der Lehrer mit den Eltern nicht z.B. über die objektiven, realen Wirkungen von Fernsehen, Comics usw. sprechen kann. Und sie scheitert ebenso, wenn der Lehrer mit sich nicht über das sprechen lässt, was die Eltern real im Zusammenhang mit seinem Unterricht wahrnehmen. Die Wahrnehmungen sind doch objektiv vorhanden! Man macht sie doch nicht inexistent, wenn man auf sie nicht eingeht oder ihre Äußerung unterdrückt. Sie mögen vielleicht nur teilweise auf reale Probleme hinweisen – aber auch das kann man doch nur klären, wenn man darüber spricht! Und auch da, wo ein Lehrer auf reale Schwächen hingewiesen wird, kann er doch nur dankbar dafür sein, wenn der blinde Fleck seines eigenen Tun und Lassens auf diese Weise kleiner wird. Wenn er seine eigene Schwäche bereits kennt, um so besser!

In jedem Fall muss er auf die Sorgen und die Kritik der Eltern eingehen – denn der Zauberring des Vertrauens muss geschlossen und stark bleiben. Er darf darauf vertrauen, dass Eltern auch große Schwächen ertragen können und mittragen helfen, wenn man ihnen mit vollkommener Aufrichtigkeit begegnet. Und er muss wissen, dass es nicht möglich ist, eine Situation aufrecht zu erhalten, die Eltern dauerhaft nicht mittragen können. Und so kann es immer wieder nur darum gehen, sich bei realen Problemen Hilfe zu holen – wo auch immer sie zu finden ist: Das größtmögliche Vertrauen der Eltern, die größtmögliche Unterstützung von Kollegen. Probleme schafft man nicht aus der Welt, wenn man auf die „pädagogische Autonomie des Waldorflehrers“ verweist – man macht sie dadurch nur größer.

Die häufige Abgrenzung des Kollegiums von der Elternschaft und die Behauptung, Eltern dürften „pädagogisch nicht mitentscheiden“, entsteht übrigens auch durch die irrige Meinung (bzw. falsche Praxis), in der Lehrerkonferenz könne überhaupt etwas entschieden werden, was pädagogisch bindend sei. Geistesleben beruht immer auf der Initiative des Einzelnen, nie auf Mehrheitsbeschlüssen. Das gilt bereits für die Gestaltung einer Monatsfeier. Zwar muss man diese gemeinsam vorbereiten und sich am Ende auch gemeinsam bewusst und einig sein, wie sie abläuft – aber ein sogenannter „Beschluss“ darüber ist doch nichts anderes als die geronnene Form der zusammengeströmten Ideen, Initiativen und Beiträge!

Eltern und Lehrer in der Schulführung

Wenn aber Eltern und Lehrer schon in pädagogischer Hinsicht in einem Boot sitzen und nur gemeinsam wahrhaft wirken können, so gilt dies erst recht in Bezug auf die mehr äußere Gestaltung der Schulgeschicke. Eltern sind heute in den Waldorfschulen in enormem Ausmaß tätig und engagiert. In der ersten Stuttgarter Waldorfschule wurde alles von Emil Molt, Rudolf Steiner und den Lehrern geleistet. Heute arbeiten Eltern in Vorständen, Finanzkreisen, Baukreisen, sie finanzieren die Schule mit Schul- und Steuergeldern, sie leisten vielfältige Elternarbeit, sind tätig in Festkreisen, Gartenkreisen und allen möglichen anderen Gremien. Will man sie aus der „Schulführung“ heraushalten?

Ich wiederhole nochmals: Überall da, wo es um die Frage geht, „wer was bestimmen darf“, ist man als Schule – sowohl auf Eltern-, wie auf Lehrerseite – bereits auf dem falschen Weg. Wo aber die Eltern aus den Schulführungsaufgaben herausgehalten werden (während sie Vorstands-, Finanz- und andere Arbeiten machen „dürfen“), beantworten die Lehrer diese falsche Frage auf ihre Art. Auf der anderen Seite klagen viele Lehrer über „die ganze Selbstverwaltung“ und würden sich am liebsten „auf die pädagogische Aufgabe konzentrieren“. Allein dieser innere Widerspruch zeigt, wie falsch und ungesund die Situation vieler Waldorfschulen ist. Es muss aufhören, Lehrer und Eltern in einem solchen Gegensatz zu sehen! Das Heraushalten der Eltern aus Schulführungsaufgaben hat nur eine Scheinlegitimität dadurch, dass die erste Waldorfschule eine „Molt-Lehrer-Gründung“ war und dass sich die „Lehrer-Dominanz“ durch das einseitig verstandene bzw. benutzte Argument der „pädagogischen Autonomie“ nun einhundert Jahre lang halten konnte. Doch was einhundert Jahre lang allenfalls ein Dogma war, wird dadurch nicht richtiger, sondern definitiv – wie wir gesehen haben – immer falscher. Indem man daran festhält, tut und bewirkt man nichts anderes, als dass die Kluft nur noch größer wird.

Möglicherweise wird es künftig Waldorfschulen geben, in denen die Lehrer aus der Schulführung heraus- oder in eine Minderheit gedrängt werden (so wie auch die allgemeine Einrichtung von Geschäftsführern eigentlich schon ein erster, sehr großer Schritt in diese Richtung war), aber selbst dies wäre dann zunächst nichts anderes als der Gegen-Ausschlag des Pendels, das über Jahrzehnte hinweg mühsam auf der anderen falschen Seite gehalten wurde, abgeschwächt nur durch verschiedenste „Zugeständnisse“, die solange leicht fielen, als man „das Wichtigste“ weiterhin allein in der Hand hatte. Doch das Gleichgewicht und die richtige Position dieses Pendels ist die Mitte. Nur hier kann das Entweder-Oder und das tendenzielle Gegeneinander überwunden werden und einem echten, dauerhaften Miteinander weichen.

Schulführung ist eben weit mehr als Pädagogik. In der Pädagogik soll die Autonomie der Lehrer gelten – mit all den Anforderungen, die schon angedeutet wurden. Aber was ist Schulführung? Auch die Finanzkreise, die Vorstandsarbeit, die Festgestaltung – es ist doch alles Schulführung! Hier überall sind in vielen Waldorfschulen Eltern und Lehrer bereits vollkommen gleichberechtigt und nicht selten auch in einem wirklichen Miteinander tätig. Warum dann zum Beispiel nicht auch in einem Personalkreis, in dem es um die Findung und Anstellung neuer Lehrer geht?

Das entscheidende Hindernis im Denken, hier zu der richtigen Antwort zu kommen, ist die Vorstellung, bei einem echten Miteinander hätten alle Beteiligten die gleichen Aufgaben. Wenn man so denkt, kann man ein echtes Miteinander eben noch nicht wirklich denken. Denn natürlich haben Lehrer und Eltern in einem Personalkreis nicht die gleichen Aufgaben. Die Lehrer, die eine Waldorfausbildung haben, schauen mit ganz anderen Augen auf einen möglichen neuen Kollegen. Aber die Eltern werden dem, was mit solchen Augen gesehen werden kann, immer vertrauen! Außerdem kann jeder einzelne Lehrer seine Wahrnehmungen und Urteile auch in Worte fassen und begründen. Auf der anderen Seite haben aber auch Eltern Augen – und diese können unter Umständen etwas sehen, was Kollegen vielleicht nicht sehen können oder wollen. Auch dies kann in Worte gefasst werden. Warum sollte sich dies nicht ergänzen und zu einer definitiv besseren Entscheidungsfähigkeit führen?

Die Entscheidung treffen müssen letztlich diejenigen Menschen, die mit der Entscheidung am Ende täglich leben müssen. In erster Linie sind dies die Lehrer. Selbstverständlich sollte kein Kollege eingestellt werden, von dem man schon jetzt sagen kann, dass viele mit ihm eher weniger gut auskommen werden. Aber in ebenso erster Linie sind dies auch die Schüler! Und stellvertretend für diese in zweiter Linie auch die Eltern. Wenn also Eltern aus einem begründeten Urteil oder auch einem unbegründeten Gefühl heraus sagen: diesen Lehrer wollen wir wirklich nicht für unsere Kinder, so muss dies ein ebenso schwerwiegender Grund gegen eine Einstellung sein. Da die Eltern in den meisten Fällen jedoch gewiss dem Urteil der Lehrer folgen würden, kann man also vielleicht sagen: Die Entscheidung liegt bei den Lehrern, aber die Eltern haben sozusagen ein Veto-Recht. – Man kann es auch anders formulieren: Lehrer und Eltern entscheiden gemeinsam, und beide Gruppen haben jeweils ein Veto-Recht. Was einzig und allein absolut nicht mehr zeitgemäß ist, das ist ein Heraushalten der Eltern oder ein bloßes Gast- oder Vertretungsrecht im Personalkreis.

Und wie steht es mit der Frage, wohin sich die Schule entwickeln soll? Also in Bezug auf die „Schulentwicklung“, die „Qualitätsentwicklung“ und „Qualitätssicherung“? Auch dort kommt man, wenn man sich selbst gegenüber ehrlich und wahrhaftig ist, ohne die Wahrnehmungen der Eltern überhaupt nicht aus! Wenn man glaubt, Schulentwicklung an den Eltern vorbei (oder unter nur halbherziger Beteiligung der Eltern) betreiben zu können, unterliegt man einem gefährlichen Hochmut, sozusagen einer „Berufsdeformation“, die mit wahrer Waldorfpädagogik nichts zu tun hat. Nimmt man Rudolf Steiners Hinweise ernst, muss und wird man gerade ein allergrößtes Interesse sowohl an den Wahrnehmungen als auch an den Bedürfnissen der Eltern haben!

Selbstverständlich geht es immer um das Wohl der Kinder. Es gibt aber keine Waldorfschule, deren Lehrer durch ein inniges Eingehen auf die Wahrnehmungen und Bedürfnisse der Eltern nicht sehr, sehr vieles erfahren werden, was dem wirklichen Wohl der Kinder dienen wird! Und natürlich gibt es keine Waldorfschule, in der durch ein solches inniges Eingehen auf die Eltern deren Vertrauen nicht ungeheuer wachsen wird – und wo diese dann nicht um so bereiter sein werden, das aufzunehmen und zu unterstützen, was dann von den Lehrern kommt und gegeben wird...

Nehmen wir als konkretes Beispiel die Frage, ob eine neue Fremdsprache eingeführt werden soll, und wenn ja, welche. Diese Frage lässt sich pädagogisch überhaupt nicht einheitlich beantworten! Jede Sprache hat, wenn man überhaupt tiefer geistig betrachten oder aber Äußerungen Rudolf Steiners darüber finden kann, verschiedene Qualitäten und damit pädagogische Aspekte. Danben gibt es andere Aspekte, z.B. Verfügbarkeit von Lehrern, Möglichkeiten des Erlernens für Quereinsteiger und vieles weitere. Die pädagogische Frage ist hier nur eine unter mehreren, und selbst bei ihr sind völlig unterschiedliche Standpunkte möglich! Eine Entscheidung kann hier sinnvollerweise nur getroffen werden, wenn alle Aspekte zusammenfließen: Pädagogische Aspekte, verschiedene weitere Rahmenbedingungen und – sehr entscheidend! – die Bedürfnisse der Eltern (oder auch der älteren Schüler!). Da pädagogisch keine eindeutige Entscheidung möglich ist, sollte, wenn es im Kollegium nicht eine übergroße Mehrheit für eine bestimmte Option gibt, der Stimme der Eltern sogar das entscheidende Gewicht zugemessen werden!

Und bei noch umfassenderen Entscheidungen? Etwa bei der Frage, ob ein heilpädagogischer Zug oder eine praktisch-handwerkliche Fachoberstufe aufgebaut werden soll? Auch diese Frage kann nicht per Mehrheitsentscheid beschlossen werden! Eine solche Profilbildung ist nur möglich, wenn es die dafür notwendige tätige Initiative gibt. Nicht ein „Dafürsein“ ist gefragt, sondern Willens- und Tatkraft! Und diese kann sowohl auf Lehrer-, wie auch auf Elternseite vorhanden sein – oder fehlen. Aber auch hier geht es neben der Tatkraft wieder um mindestens zwei Aspekte. Um die Frage: Was ist pädagogisch sinnvoll und notwendig, was fordert die Not unserer Zeit? Und welche Bedürfnisse gibt es – bei den Eltern, und hier eingeschlossen bei den potentiellen Eltern, also dem gesamten Umfeld? In letzter Hinsicht decken sich beide Fragen geistig-real gesehen. Darum ist auch hier die Stimme der Eltern (und sogar die noch ungehörte Stimme der künftigen Eltern im Umkreis!) ganz entscheidend. Aber der Beschluss kann nur fallen, wenn es in der Schulgemeinschaft genügend Tatkraft für diese Initiative gibt. Dann muss es auch kein gemeinsamer Beschluss sein, es kann der Willensentschluss einer Gruppe von Menschen sein, die diesen Impuls dann verwirklicht. Aber auch hier: Lehrer und Eltern innig vereint.

Immer wieder muss man sagen: Eine Ausgrenzung von Eltern aus pädagogischen Fragen ist einfach künstlich und letztlich absurd. Was man verlangen kann, ist ein Mindestmaß an pädagogischem Interesse, über das eigene Kind hinaus. Aber an diesem Interesse auch nur zu zweifeln – bei allen Eltern, die sich an einer und für eine Schule überhaupt engagieren – ist eben genau dies: absurd.

Zwischen Dogmatismus und Paradigmenwechsel

Wenn wir zurückblicken, wohin uns all diese Gedanken geführt haben, müssen wir also sagen: Immer wieder zu der Erkenntnis, dass Waldorfpädagogik nur in voller Gemeinsamkeit zu verwirklichen ist – indem das „herzliche Einvernehmen“ ganz konkret und immer wieder wahrgemacht wird.

Die volle Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern ist kein Gegensatz zur „pädagogischen Autonomie“, sie ist ihre Bedingung.

Wenn wir Rudolf Steiner und all seine Worte über die Waldorfpädagogik, das Freie Geistesleben, das Zusammenwirken von Eltern und Lehrern usw. wirklich ernst nehmen, können wir nur zu den Erkenntnissen kommen, die ich hier zu entwickeln versucht habe.

Etwas anderes wird nicht dadurch wahrer, dass es in der Waldorfschulbewegung (d.h. der Lehrerschaft) verbreitet nach wie vor noch ein Konsens zu sein scheint. Manchmal scheint ein Konsens aber auch nur deshalb noch zu bestehen, weil niemand es wagt, den scheinbaren Konsens in Frage zu stellen – eine Kollektivmeinung übt nun einmal einen ungeheuer starken sozialen Druck aus. Kann man von Lehrern erwarten, dass sie sich gegen ihre Kollegen stellen und ein auf den ersten Blick angenehmes „Privileg“ aufgeben, indem sie die einseitig vertretene Form der „Lehrerselbstverwaltung“ anzweifeln, vielleicht noch öffentlich? Damit würden sie vielen Kollegen ja in den Rücken fallen, und dem damit verbundenen Konflikt möchte sich sicher keiner gern aussetzen.

Doch das Spannungsfeld zwischen Anpassung, Schweigen und Wahrhaftigkeit ist das eine. Etwas anderes ist es, die falsche, einseitige Auffassung noch immer voll bewusst zu vertreten. Wird die „Lehrerselbstverwaltung“ und „pädagogische Autonomie“ zur argumentativen Keule (Totschlagargument), um die Distanz zur Elternschaft mit Gewalt herzustellen, wird es wirklich schlimm. Und immer mehr Eltern empfinden heute mit vollem Recht, dass genau hier eine üble dogmatische, sektiererische Tendenz liegt.

Die größte Tragik liegt darin, dass viele Eltern nicht durchschauen, dass sie hier ein völlig falsches Bild vom Wesen der Waldorfpädagogik bekommen – nämlich gar keines, nur das Zerrbild, das dogmatische Lehrer ihnen vorhalten, um sie auf Abstand zu halten. Andererseits gibt es auch viele Eltern, die ein sehr gesundes Empfinden haben und sehr wohl wissen, dass hier etwas nicht stimmt, dass die wirkliche Waldorfpädagogik noch etwas anderes sein muss...

Wie auch immer – obwohl wir absolut keine Autorität brauchen, um die Wahrheit unserer Erkenntnisse etwa bestätigen zu lassen, möchte ich hier doch noch einige Stimmen berufener „Experten“ zitieren, und sei es nur, um auch die Lehrer zu ermutigen, die richtigen, die fruchtbaren, die in die Zukunft führenden Impulse zu stärken.

Von ausgewiesenen Experten ausgesprochen

Christoph Wiechert, bis 2010 Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum in Dornach (sozusagen das Zentrum der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft), schreibt in seinem Büchlein „Lust aufs Lehrersein?!“ (S. 63ff):

Wir sehen, dass Eltern vornehmlich in der Schule eingebunden sind im ersten [Äußeres, Gebäude etc., H.N.] und im letzten Gebiet [Schulführung!!]. Das ist auch richtig so. Der Teil aber, woraus sie sich inspirieren und begeistern können, die Mitte [Pädagogik], ist für die Eltern am wenigsten zugänglich. Dieses Gebiet wird nur mittelbar erlebt an den eigenen Kindern. Man verlangt von Eltern, die im Vorstand mitwirken, aber keine „Nahrung“ aus der Schule selbst empfangen, eigentlich etwas auf Dauer Unmögliches.
Hier liegt eine Schwachstelle vieler Waldorfschulen. Eltern, die bereit sind, für die Schule ehrenamtlich zu arbeiten, müssen unmittelbar genährt werden aus dem, was begeistern kann. Ist dieses Erleben nicht möglich oder schleichen sich leise Vorwürfe gegen dieses Leben der Schule ein – oft aus indirekter Erfahrung –, ist der ganze Organismus der Schule geschwächt. [...]
Was ist schließlich Qualität? Qualität ist nicht etwas, was man von vornherein hat. Die Frage nach der Qualität hängt eng zusammen mit der Frage nach der Entwicklungsfähigkeit eines Organismus.
Ich möchte hier den Gedanken vertreten, dass die Entwicklung des Waldorfschulimpulses, also der Qualität der Schule, eng verbunden ist mit einem Perspektivwechsel den Eltern gegenüber. Eltern und Lehrer sind gleichwertige Partner da, wo es um die Erziehung der Kinder geht. Dazu ist es berechtigt, dass die Lehrerschaft sie einbezieht in das pädagogische Leben der Schule und nicht nur in die Dienstleistungen um den Schulorganismus herum.


Wiechert malt in seinem Buch noch immer das Bild einer Idealpädagogik und will die Eltern eher „von oben herab“ an diesem „Quell“ beteiligen. Meine Kritik an verschiedenen seiner Gedanken habe ich an anderer Stelle geäußert. An dieser Stelle kommt es aber nicht darauf an, ob Wiechert oder die folgend zitierten Menschen die hier entwickelten Gedanken ebenfalls in reiner Form äußern – das tun sie nicht –, sondern darauf, die in ihren Worten und zwischen den Zeilen sehr deutlich sich ankündigende Tendenz herauszuhören.

Eine der großen Gestalten der Waldorfbewegung ab den 70er Jahren, als die Zahl der Waldorfschulen stark wuchs, war Manfred Leist. In seinem wegweisenden Buch „Eltern und Lehrer. Ihr Zusammenwirken in den sozialen Prozessen der Waldorfschule“ schrieb er 1986 bereits sehr vieles, was ganz in die Richtung dieses Aufsatzes geht.

Sehr feinsinnig und pointiert formuliert er etwa (S. 32f):

So einleuchtend und von der Sache her überzeugend die entscheidende Bedeutung des Vertrauens für das Geschehen Schule auch ist, es kann niemals befriedigen, wollte man diese gewiß ganz unerläßliche Basis als erschöpfende Beschreibung der Beziehung zwischen Eltern und Lehrern verstehen.


Und später (S. 67f):

Lehrer, die ihre eigene Aufgabe und das Gesamtwesen Schule richtig verstehen, wollen letztlich niemals Eltern bevormunden. [...] So haben Eltern auch nur in seltenen Ausnahmefällen (also nicht häufiger als Lehrer oder alle anderen Menschen) ein sachfremdes Machtstreben, sie wollen die Lehrer nicht majorisieren. Aber sie haben ein feines Gespür dafür, ob sie sich wirklich voll als Gesprächspartner in eine Gemeinschaft einbezogen sehen können.


Im weiteren schildert Leist sehr ausführlich die notwendige Zusammenarbeit, die auch auf Lehrerseite notwendige „volle Bereitschaft, auch Kritik positiv entgegenzunehmen“, den vielfach existierenden Elternbeirat, von dem er sagt, dass er im besten Sinne zu einer „Eltern-Lehrer-Konferenz“ werden könne, was ebenfalls viele Schulen bereits praktizieren würden. Und er schreibt (S. 55):

Zusammenfassend kann man sagen: Von einem gewissen Gesichtspunkt aus betrachtet, kann der Elternbeirat zu einem Mittler-Organ für das ganze Schulleben werden. Als ein Bindeglied, ein Ort des Austausches zwischen Eltern und Lehrern steht er neben Kollegium und Vorstand; nicht so sehr Handlungsorgan wie diese, mehr ein Bereich des fühlenden Wahrnehmens, des abwägenden Begleitens: ein Stück „Schulgewissen“. Lehrer wie Eltern können durch diese Zusammenarbeit zu einem vertieften Verstehen und einem entschiedeneren Handeln im Sinne des Erziehungsauftrages der Freien Waldorfschule impulsiert werden.


Heute scheint es verbreitet so zu sein, dass diese so genannten „Eltern-Lehrer-Konferenzen“ nur noch dem Namen nach existieren, das heißt noch maximal zwei, drei Lehrer teilnehmen, womit der Name eigentlich wieder allen Sinn verliert, weil die Intention überhaupt nicht mehr erfüllt ist. Diese Gremien sind damit im Grunde wieder zu Elternkonferenzen mit Lehrervertretern herabgesunken. Ein Impuls, der in den 70er Jahren offenbar schon einmal stärker da war, ist zunächst wieder in sich zurückgefallen.

In den letzten Jahren war es unter anderem Karl-Martin Dietz, der mit mehreren Schriften auf die Fragen des Geisteslebens und der „dialogischen Zusammenarbeit“ hingewiesen hat. In seinem Büchlein „Produktivität und Empfänglichkeit. Das unbeachtete Arbeitsprinzip des Geisteslebens“ schreibt er 2008 (S. 16f):

Während heute auf der einen Seite erste Stimmen nach einem staatsfreien Schulwesen rufen, scheint gleichzeitig das „freie Geistesleben“ in eine Krise geraten zu sein. Fragen nach Führung, Kommunikation und Zusammenarbeit treten in den Vordergrund und lenken von den eigentlichen Zielsetzungen ab; der Geist ist tot – es lebe die Verwaltung! [...] Dass Behinderungen von „innen“ mindestens so unfrei machen können wie die äußeren, wird oftmals übersehen. Und die Hauptsache fehlt völlig: Wie wird der beanspruchte Freiraum ausgefüllt? Manchmal wird sogar kurzerhand der Ständestaat ausgerufen: die Lehrer gehören zum Geistesleben, der Vorstand des Trägervereins steht für das Rechtliche, die Eltern gelten vor allem als Wirtschaftsfaktoren. Unter der schrillen Begleitmusik von derartigem Nonsens geht die eigentliche Mission des freien Geisteslebens, die Realisierung geistiger Produktivität, allzu leicht verloren.
Zwei grundlegende Eigenschaften des freien Geisteslebens werden dabei häufig übersehen: dass es frei von jeglichen Vorgaben ist und sich seine Verhältnisse selbst schafft, ähnlich wie ein Fluss, der sich sein Bett im Fließen selbst gräbt und verändert; und dass es dabei sein Handeln vollständig selbst verantwortet. Das zweite übersehene Charakteristikum des freien Geisteslebens ist [...] sein Prinzip der Zusammenarbeit, das von dem des Rechtslebens (Rechte und Pflichten) grundlegend verschieden ist.


Und zum Abschluss möchte ich Dieter Brüll zitieren, den Pionier in Bezug auf die Zusammenschau des „anthroposophischen Sozialimpuls“ (so der Titel seines Hauptwerkes). In dem Buch mit dem sehr sprechenden Titel „Waldorfschule und Dreigliederung. Der peinliche Auftrag. Vom Risiko, eine anthroposophische Institution zu sein“ schreibt er einleitend in dankenswerter Klarheit:

Der Anlaß zu diesem Buch ist ein dreifacher. Da waren an erster Stelle die Fragen zur Struktur der Waldorfschule, die von allen Seiten auf mich zukamen. Meist waren sie aus der Besorgnis geboren um das, was in der ‘eigenen’ Schule geschah. Oft geschah es auch aus Abkehr von Geschehnissen: „Wie kann so etwas in einer Waldorfschule passieren?“ [...]

In diese Richtung ging auch die zweite Überlegung. Mein Lebenslauf hat mich in fast alle mit einer Waldorfschule zusammenhängenden Positionen gebracht. Aus jeder habe ich Erfahrungen mitgenommen: als Waldorfschüler, als Ehemaliger, als Waldorfseminarist, als Lehrer, als Waldorfvater, als Vorstandsmitglied und schließlich als freistehender Berater. Jedesmal stand ich vor Rätseln, manchmal vor Entdeckungen. Sie fügten sich im Lauf der Zeit zu einem deutlichen Bild dessen, was den Waldorfschulen fehlt und immer wieder zu Unannehmlichkeiten führt. Wie verschieden die Ursachen auch aussahen und wie sehr sie auch stets durch Menschen hindurch wirkten, die man dann zum Sündenbock machen konnte – der gemeinsame Nenner war und blieb, daß zeitgemäße Pädagogik sich nur in einer zeitgemäßen Struktur richtig entfalten kann. Die diesbezüglichen Erkenntnisse, etwas systematisch geordnet der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wird mir – warum sollte ich mich dessen schämen? – gegen das Lebensende immer mehr zu einem Bedürfnis.


Und in Bezug auf die Frage der Zusammenarbeit im Geistesleben, also hier die Pädagogik, d.h. die „Pädagogische Konferenz“, schreibt Brüll (S. 26):

Wer gehört von Rechts wegen zum Organ des Geisteslebens? Das ist einfach zu bestimmen: jeder Mitarbeiter [lies: jeder, der wirklich mittragen will, H.N.], der seine Aufgabe als eine pädagogische auffaßt. (Also nicht: wie sie von anderen aufgefaßt wird!) Da hier keine Beschlüsse gefaßt werden, schadet es nicht, wenn jemand dabeisitzt, an dessen Berechtigung man zweifeln könnte. [...] In der Schule meiner Kinder gab es einen Hausmeister, dessen pädagogische Qualitäten die der meisten Lehrer überragte. Kamen sie mit einem Schüler nicht zu Rande, wurde er zu diesem Mann geschickt. Er meisterte die berüchtigsten Schülerpersönlichkeiten mühelos. [...]