Weltanschauung und Waldorfpädagogik

Stefan Leber: Weltanschauung, Ideologie und Schulwesen. Ist die Waldorfschule eine Weltanschauungsschule? Freies Geistesleben, 1989, S. 9-21 und 65-84.


Inhalt:
Weltanschauung und Ideologie – zweifache Denunziation
Gesamtsicht Weltanschauung
Ideologie – zweifach
Destruktion des Weltanschauungsbegriffs
Waldorfschule – Pädagogik aus der Anthroposophie
Ist die Waldorfschule eine Weltanschauungsschule?
Anthroposophie als Methode und als Verständnis des Menschen
Weltanschauliche Implikationen alles Unterrichtens – und der Umgang mit ihnen

 

Weltanschauung und Ideologie – zweifache Denunziation

Gesamtsicht Weltanschauung

Gehen wir von der Wahrnehmung aus: Der „stiere Blick“ sieht nichts, ganz anders der Sehende, noch mehr der Schauende. Da liegt im Sehen, in der Anschauung zugleich die Führung des Blicks, der eindringt, durchdringt, Zusammenhänge herstellt. [...]

Die Fähigkeit zur An‑schauung hat sich Goethe, der Schöpfer des Begriffes Weltanschauung, wie kein anderer er‑übt. Nicht der flüchtig über die Erscheinungen hinschweifende Blick, nicht der alles sehende, aber nichts festhaltende Eindruck, sondern der genaue, mit dem Be­wußtsein begleitete, ja mit Sorgfalt wie mit Gefühl, mit Hingabe, Andacht und Erkenntnis durchdrungene Blick war es, den Goethe sich mühselig heranschulte. Gegenüber den flüchtigsten Erscheinungen: den Wolkenbildungen, trainierte er sich, sie festzuhalten, mit Stift und Papier zeichnete er Tausende von Augenblicksbildern und versuchte, über Tage hinweg das gestrige Erlebnis und die verflossene Erschei­nung im Gegenwärtigen, Heutigen mitzusehen. Begleitet war dieser Vorgang der Anschauung mit einer Fragestellung: wie ist bei gegebener Wolkenformation das Wetter heute, wie war es gestern, wie wird es möglicherweise morgen sein? Diese Frage im Hintergrund, läßt er sich „Von den Erscheinungen belehren“, und in der Anschauung erfährt er die Belehrung, weil im Blick schon frühere Belehrung, künftige erwar­tend, mitschwingt. „Suche nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Erklärung.“

Was Goethe so an den Erscheinungen der Meteorologie und des Lichts übte, wandte er dann auch auf die Pflanzen und die Tierwelt an, um durch die Anschauung auf die zugrundeliegende Gesetzmäßigkeit in den Erscheinungen zu kommen. Und er erkannte: ein Einheitliches – eine Idee – durchdringt die mannigfachen Erscheinungen der Welt, und dieses ist in seiner Differenzierung in den Erscheinungen durch das Anschauen aufzuspüren. Indem sich der Sehende vom Erscheinenden „belehren“ läßt, was aber nicht in der nur rezeptiv‑sensorischen Beein­druckung, sondern allein bei innerer Regsamkeit vonstatten geht, wird vom Anschauenden verlangt, die Erscheinungen nachzuschaffen, mitzugestalten. Hat er aber diese grundsätzliche Einstellung zur Welt, dann kommt er zur Welt‑Anschauung. Stufenweise erschließt sich ihm „die Wahrheit des Ganzen“.

Seine Weltanschauung führt Goethe und die ihm Folgenden dazu, daß er die Erscheinungen auf sich wirken läßt, sie zu erkennen versucht, in sie eindringt, und dadurch von ihnen belehrt wird. Jedes „Gewalttä­tige“ wird ebenso abgelehnt wie das sich der Sache Bemächtigende und Aneignende. Ihm geht es um den Gebrauch der menschlichen Fähigkei­ten so, daß nicht gefragt wird: was nützt es mir, sondern: was sprechen die Erscheinungen selbst aus? Nicht um Herrschaft, sondern um Beleh­rung, um Erkenntnis, um gleichsam „Göttliches“ geht es.

„Ein weit schwereres Tagwerk übernehmen diejenigen, deren lebhafter Trieb nach Kenntnis die Gegenstände der Natur an sich selbst und unterein­ander zu beobachten strebt: denn sie vermissen bald den Maßstab, der ihnen zu Hilfe kam, wenn sie als Menschen die Dinge in bezug auf sich betrachten. Es fehlt ihnen der Maßstab des Gefallens ..., des Nutzens und Schadens. Diesem sollen sie ganz entsagen, sie sollen als gleichgül­tige und gleichsam göttliche Wesen suchen und untersuchen, was ist, und nicht, was behagt.“
J.W. Goethe: Der Versuch als Vermittler von Object und Subject, 1793.


Das Gesamt von Methode und dadurch gewonnenen Erkenntnisin­halten, die Gesinnung, mit der geforscht wird und das Wie der Erkennt­nisgewinnung bildet also das, was Goethe Weltanschauung nennt.

Kaum geprägt, wird der Begriff Weltanschauung Gemeingut der ge­bildeten Welt. Und so legt jeder Gebildete Wert darauf, als Individualität über eine Anschauung der Welt zu verfügen, von seinem Stand­punkt aus die Welt zu erkennen, zu deuten, zu ordnen, und zwar in ihrer Gesamtheit.

Ideologie – zweifach

Gleichzeitig mit Goethe arbeitet in Frankreich von ganz anderen Vor­aussetzungen ausgehend eine Gruppe von sensualistischen Denkern zusammen. Noch heute bekannte Namen wie Condorcet (1743‑1794), Victor de Mirabeau d.Ä. (1715‑1789), Louis Michel Lepeletier (1760­-1793), Condillac (1715‑1780), aber insbesondere Destutt de Tracy (1754‑1836) sind zu nennen. Für das Gesamte ihrer Anschauungen wird von ihnen der Begriff der Lehre von den Ideen gebraucht: Ideolo­gie. In einem Kosmos von miteinander zusammenhängenden Ideen lassen sich durch das Erkennen verschiedene Erscheinungen eindeutig bestimmen. Aber nicht nur dies – auf das soziale Leben angewandt, wird nicht nur beschreibbar, was ist, sondern auch bewertbar, was zwar ist, aber doch recht unzulänglich und sinnwidrig sich für den Erkennenden ausnimmt. Nicht nur das Seiende, sondern auch imperativisch das Sein­-Sollende, ist für ihn angebbar. [...]

Bei der Gruppe der „Ideologen“, den Lehrern des Ideengefüges kommt eine im Unterschied zu Goethe entschieden handlungsorientier­te und damit „gewalttätige“ Note zum Zuge, die das, was Weltanschau­ung meint, übersteigt und ausweitet. Die Gruppe der „Ideologen“ entwirft in der Tat zur Zeit der Französischen Revolution Konzepte, wie die gesellschaftliche Wirklichkeit des Ancien R6gime, die mit den ersten Etappen der Französischen Revolution aufgebrochen worden war, ausgestaltet werden könnte. Pläne, etwa wie ein demokratisches Schulwesen zu gestalten sei, werden entworfen und Condorcets Plan sieht als wirklich demokratische Schule einzig die Gesamtschule (Ein­heitsschule) vor. Er war 1791 Abgeordneter der Nationalversammlung geworden, als deren Präsident er einen Entwurf für eine künftige Nationalerziehung vorlegte. Viele von ihm entworfene künftige Struk­turen sind bis heute noch unerfüllt, so die Autonomie des Bildungswe­sens oder der Anspruch auf Allgemeinbildung für alle bis in das Jugendalter. Kurz, die Entwürfe sind außerordentlich zukunftsträchtig und nahmen teilweise gesellschaftliche Wirklichkeit des 20. Jahrhun­derts vorweg.

Einer der wenigen Politiker, der sich mit der Gruppe der Ideologen verband, also jenen Gebildeten, die die Zukunft weiterzuent­wickeln gedachten (nach dem Ende der Schreckensherrschaft, zur Zeit des recht ideenlosen Direktoriums), war Napoleon Bonaparte, damals allerdings noch nicht an der Spitze der Macht. So kam es, daß er, von den „Ideologen“ inspiriert, auf seinem ägyptischen Feldzug Wissen­schaftler zur Erforschung der Landesgeschichte und Geographie mit­nahm. Als er dann 1899 durch seinen Staatsstreich vollen politischen Einfluß erlangte, standen ihm die Möglichkeiten offen, das vorher mit und durch die Ideenlehrer Konzipierte in die Tat umzusetzen. Doch zu­nächst war Napoleon mit anderem beschäftigt, nämlich mit der Legiti­mation seiner Macht als Konsul, zunächst durch das Plebiszit für zehn Jahre. Dazu ist allerdings notwendig, daß er sich als Machthaber glanzvoll fürs Volk inszeniert und eine prächtige Hofhaltung entwic­kelt. 1802 wird er Konsul auf Lebenszeit, 1804 Kaiser, jedesmal durch Plebiszit. Zur Mehrung der gloire hat er dann allerdings anderes als die Durchführung innerer Reformen zu tun, er wendet sich in den Kriegen nach außen – siegreich und damit auch die Zustimmung der Bevölke­rung erlangend. Im Hinblick auf die zuvor konzipierten Reformwerke ist das in die politische Praxis Umgesetzte für die Ideenlehrer allerdings enttäuschend. Und so mahnen sie bei ihm an, was einst vorgenommen und projektiert war, jetzt auch tatsächlich zu tun. Napoleon weist sie daraufhin schroff ab sinngemäß mit der Formulierung: „Ihr Ideologen, was versteht Ihr von der politischen Praxis?“

Der an sich edle Begriff Ideologie – Lehre von den Ideen, Lehre von dem Geistkosmos, der hinter aller Erscheinungswelt steht –, ist damit denunziert und herabgewürdigt, indem ihm unterschoben wird, die wahre Wirklichkeit liege in der Praxis, beim politisch Handelnden, während das, was in der Erkenntnis erfaßt wird, dahinter zurückbleibe, weniger sei, eben nur die halbe Sache ausmache, nur einen Aspekt der Wirklichkeit darstelle. Die politische Praxis, das Handwerk der Macher, sei die sattere Wirklichkeit und stets anders, reicher als das, was der schmale Denker zu erfassen vermag; Ideologie sei nicht wirklich. [...] Diese Denunziation hat Folgen und wirkt weiter: niemals kann sich fortan der Begriff Ideologie, Lehre der Ideen, von dem ihm von Napoleon versetzten Schlag erholen. [...]

Zunächst geschieht die Denunziation und Destruktion nur gegenüber dem Begriff der Ideologie, nicht gegenüber dem der Weltanschauung, denn in der Weltan­schauung bleibt die Anbindung an die Erscheinung und damit an das in der Welt Wirkende gesichert, während bei bloß innerer Anschauung, beim bloß Gedachten, offenbar die Gefahr besteht, daß diese sich von der Erscheinungswelt – hier als politische Praxis verstanden – abheben und damit die Wirklichkeit verfehlen. [...]

Rund vier Jahrzehnte nach der Destruktion des Begriffs der Ideologie durch Napoleon verlagert sich die Diskussion unserer Fragestellung in den Kreis der Hegel‑Schüler nach Deutschland, denn noch immer besteht die Frage, ob, wie Hegel meinte, durch theoria zugleich auch die Probleme der Praxis zu lösen sind oder ob es doch anderer Mittel bedürfe. [...]

Am Anfang war die Tat, stellt Cieszkowski als Motto seiner Prolegomena einer Historiosophie (1838) voraus, die bewußt an Kants Leistung anknüpft, dann Hegel würdigt, ihn aber dort weiterführt, wo er in seiner verkürz­ten, an Preußen orientierten Geschichtsauffassung stehen geblieben war. Es ist ferner Moses Hess, der von der Philosophie der Tat spricht und durch ihn vermittelt, schließlich Karl Marx, der, gleichsam die Antithese zu Feuerbach bildend, in seiner 11. These formuliert: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Im dialektischen Umschlag zu seinem Ausgangspunkt Bruno Bauer und dessen „Kritischer Kritik“ formuliert Marx eine „Kritik der kritischen Kritik“, die später im Obertitel „Heilige Familie“ lautet. Hier – ähnlich wie in der 1844 in Brüssel abgefaßten, jedoch erst im 20. Jahrhundert erschienenen „Deutschen Ideologie“ – besteht nun Marx seinerseits darauf, daß das Handeln tatsächlich dann zu verändern vermag, wenn es auf sachge­rechter Geschichtserkenntnis aufbaut. Diese aber ist zu erlangen, wenn man die Grundgesetze geschichtlichen Werdens kennt; ein Hindernis, sie zu erkennen, aber baut sich dann auf, wenn ein „falsches Bewußt­sein“ vorliegt wie bei seinen einstigen Freunden – und nach dem dialektischen Umschlag nun entschiedenen Gegnern – Bruno und Edgar Bauer, Max Stirner und anderen. [...] Ideologie ist falsches, weil verkürztes, weil – undurchschautes – Klassen‑Bewußtsein. [...]

Marx verwendet also denselben Begriff wie Napoleon, allerdings ra­dikalisiert und verallgemeinert er ihn. Die Gründe, warum alles Erken­nen außer für Marx und die Arbeiterklasse stets ideologisch ist, kann Marx für die ihm Folgenden, nicht jedoch für das Bürgertum verständ­lich machen. [...]

Dieser Bedeutungsgehalt, wie er im ausgehenden 19. und beginnen­den 20. Jahrhundert von Napoleon über Marx allmählich unspezifisch in den gesellschaftlichen Sprachgebrauch übergegangen ist, verkoppelt sich nun mit einer anderen Entwicklung, bezogen auf den Weltanschau­ungsbegriff, der nun seinerseits destruiert wird und dann nahezu syno­nym Ähnliches wie Ideologie bezeichnet. Dazu müssen die noch fehlenden Linien nachgezogen werden.

Destruktion des Weltanschauungsbegriffs

Im Anschluß an Goethe fand in gebildeten Kreisen der von Goethe geschaffene Gebrauch der Weltanschauung allgemeinste Anwendung. Allerdings anders als in der bei ihm durchaus bewußten Methodenan­wendung erhält der Begriff beim Übergang, in die „gebildeten Kreise“ eine leichte Unschärfe, insofern er einerseits den Standpunkt meint, von dem aus ein Betrachter die Welt anschaut, und andererseits jene Nuance, nach der das Gesamt bzw. die darin waltenden Prinzipien der von einer Persönlichkeit erarbeiteten Sichtweisen bezeichnet werden. In diesem Sinne legt zunehmend jeder Angehörige der gebildeten Schicht darauf Wert, eine Weltanschauung zu haben, d,h. aber seine ganz persönliche Sicht und Deutungsweise der Welt. [...]

Jacob Burckhardt schreibt an Gottfried Kinkel (26.4.1844): „Vor Zeiten war ein jeder ein Esel auf seine Faust und ließ die Welt in Frieden, jetzt dagegen hält man sich für „gebildet“, flickt eine „Weltanschauung“ zusammen und pre­digt auf den Nebenmenschen los.“ Parallel zu Marx, der sich dem Materialismus verpflichtet weiß, vollzieht sich in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts auch ein tiefgreifender Umschwung, der metho­disch ein für allemal die Trennung zwischen res cogitans, dem Subjek­tiven, dem auch alle Weltanschauung zugehört, und res extensa zu ermöglichen scheint, indem „exakte Methoden“ für wahre wissen­schaftliche Forschung Gültigkeit haben und Weltanschauung ins Reich des Beliebigen, aber damit auch Subjektiven und Privaten versetzt wird. Die schon bei Cartesius veranlagte, bei Kant vertiefte Qualität wird nun radikalisiert, auf die Wurzel zurückgeführt. Wer sich mit den Erscheinungen beschäftigt, mit der res extensa, hat frei von allen Zutaten des Meinens zu sein. Einzig die Mathematik hat aus dem Bereich des Erkennens, dem Reich der res extensa, Zugang zu dieser Welt. [...]

Nun ist es aber keineswegs so, daß damit der Rückzug der Weltanschauung in das eindeutig zu erklärende Gebiet erfolgte, vielmehr werden die wenigen neu gefundenen Prinzipien in jeder Richtung angewendet, es wird also ganz „weltanschaulich“ verfahren: der Kampf ums Dasein wird im Leistungsbegriff der Liberalen (und Konservativen) aus dem Darwinis­mus gleichsam naturwissenschaftlich unterfüttert, das Gesetz von der Erhaltung der Kraft wird auf den Anfang (Urknall) und das Ende der Welt (Wärmetod, Entropie) zurückgewendet. Es geht also um den Ausbau von Gesamtanschauungen. Eigentlich sind es im Unterschied zu Goethe eben keine Anschauungen, sondern theoretische Konstrukte, an denen trotz oder wegen der naturwissenschaftlichen Neuerungen kein Mangel herrscht. [...]

Nicht aus diesen Gründen, daß nämlich Naturwissenschaft in Kon­frontation mit Weltanschauung gestanden hätte – vielmehr verstand sich Naturwissenschaft damals auch als eine Form der Weltanschauung –, sondern aus einem politischen Regreß heraus erfolgt schließlich die Denunziation der Weltanschauung. Der Erste Weltkrieg war stimmungsmäßig in breiten Bevölkerungskreisen mit tiefen Erschütterun­gen und Verunsicherungen aufgenommen worden; führte er doch statt zum erhofften Siegfrieden zur bedingungslosen Kapitulation, zum Verlust der Monarchie und des Großmachtanspruches, zu gesellschaft­lichem Aufruhr und dem Aufstieg niederer Klassen [...]. Für viele verspricht einzig die Führung einer starken Hand, die Restitution alter Werte, eine sichere Ordnung, welche die für die Herrschenden umstürzlerische Großgefahr, den Sozialismus zurückzudrängen in der Lage ist.

Es ist die Reaktion der Rechten, der Nationalen, Alldeutschen, der Gewalttätigen, die sich aus Bruchstücken – auch naturwissenschaft­lichen – nun eine „Weltanschauung“ zusammenzimmern. Somit war jener einst anspruchsvolle Begriff in diesen Zusammenhang geraten und damit verkommen. Die Lehre von Blut und Boden, die Rassenleh­re, der Antisemitismus, stellenweise gespeist mit modernsten naturwis­senschaftlichen Einsichten, dem Darwinismus, werden auf die Ent­wicklung des Menschengeschlechts übertragen, und es entstehen nationale, nationalsozialistische, schließlich aber auch national‑liberale Weltanschauungen in Fülle. Es sind dies zwar faktisch nichts anderes als politische Ideologien, die ganz der Rechtfertigung der eigenen tat­sächlichen oder erwünschten gesellschaftlichen Stellung dienen – strenggenommen also mit utopischen Einschlägen –, sie nennen sich aber nicht mehr Ideologie, sondern wohlgefällig Weltanschauung. Und so vollzieht sich, was beim Begriff der Ideologie sich schon vollzogen hat, noch einmal. Ein edler, aus dem besten Erkenntnisleben der Menschen hervorgehender, ja ausgereifter Begriff verkommt, wird pe­jorativ durch mißbräuchliche, den Sinn verfälschende Nutzung seitens politischer Gruppen. [...]

Wenn heute jemand einem anderen „Weltanschaulichkeit“ vorwirft, dann ruft er die Geschichte mit ihrer doppelten Denunziation mensch­licher Erkenntnisbemühung auf, wie sie zunächst im Hinblick auf den Ideologie‑ und schließlich dann den Weltanschauungsbegriff im Laufe von etwa 130 Jahren sich entwickelt hat. Mit der ersten Denunziation wurde z.T. ein Berechtigtes entlarvt: das verkürzte Bewußtsein, wel­ches daran hindert, die Wirklichkeit voll zu umspannen, wobei durch kritisches Bewußtsein (Ideologiekritik) dieses Defizit ausgeglichen werden kann. Im zweiten Fall liegt eine Verkürzung zwar nicht vor, aber durch mißbräuchliche Benutzung des Begriffs der Weltanschau­ung für etwas, was seiner Qualität nach problemlos als Ideologie zu entlarven ist, kommt der reine Begriff in ideologisch verseuchtes Gebiet und wird zumindest ohne klaren Aufweis des Gemeinten mitge­schädigt. Genau das aber wird dort genutzt, wo es darum geht, einen andersdenkenden Gegner anzugreifen, zu verdächtigen, herabzusetzen oder seinen Einfluß zu paralysieren. [...]

Waldorfschule – Pädagogik aus der Anthroposophie

Ist die Waldorfschule eine Weltanschauungsschule?

[...] Zu dieser Frage, ob die Waldorfschule eine Weltanschauungsschule sei, nimmt Steiner selber in der Vorbereitungszeit der Schulgründung, welche parallel zu den entsprechenden Beratungen der verfassungge­benden Nationalversammlung verläuft, ganz eindeutig und entschieden Stellung, indem er den Weltanschauungscharakter der von ihm pädagogisch gestalteten Schule bestreitet. Ganz von der zuvor dargestellten Bedeutung des Goetheschen Anschauungsbegriffs und von Goethes Vorgehensweise überzeugt, sieht Steiner in der Anschauung der Welt ein zentrales Anliegen für jeden verständig Erkennenden. Um zum Bewußtsein des eigenen Menschentums (Anthroposophie) zu kommen, benötigt der Mensch ein Verständnis seiner selbst. So ist also Anthro­posophie tatsächlich eine „Weltanschauung“ im besten Sinne Goethe­schen Weltverstehens, und doch weist Steiner die Anwendung des Weltanschauungsbegriffs auf die von ihm nach seiner Pädagogik ge­staltete Schule entschieden und immer aufs neue zurück, weil er bemerkt, welche Implikationen und welch verkürzte und politisch zu gebrauchende Kampfmittel im Sprachgebrauch und dessen sozialer Entwicklung vorborgen liegen. [...] Zu den Lehrern gewandt, unmittelbar vor Schuleröffnung, sagt Steiner:

„Wir wollen hier in der Waldorfschule keine Weltanschaungsschule einrichten. Die Waldorfschule soll keine Weltanschauungsschule sein, in der wir die Kinder möglichst mit anthroposophischen Dogmen vollstopfen. Wir wollen keine anthroposophische Dogmatik lehren. Anthroposophie ist kein Lehrinhalt, aber wir streben hin auf praktische Handhabung der Anthroposophie. [...]“
20.8.1919, GA 293, S. 206.


[...] Steiner selbst bezieht also im Hinblick auf die Weltanschauungsschu­le eine eindeutige Position, und zwar so, daß er einerseits diesen Begriff für seine Pädagogik zurückweist, weil sie keine Dogmen, d.h. also Glaubensinhalte lehren soll, zum anderen läßt er ausdrücklich durch die Religionsgesellschaften deren unterschiedlichen Bekenntnischarakter als von diesen zu verantwortenden Bereich pflegen, mit der klaren Ent­scheidung, Religionsunterricht an der Waldorfschule einzuführen. [...]

Vor englischen Erziehern führt Steiner 1921/22 nachdrücklich aus, daß es niemals in der Zukunft in der Erziehung darum gehen dürfe, Kinder zum Abklatsch der Erzieher zu machen. Dieser Gedanke zieht sich als Grundüberzeugung durch Jahr­zehnte der Steinerschen Biographie hindurch, in seiner frühesten schriftlichen Fassung 1898 lautet er so:

„Wir haben nicht die Aufgabe, unserer heranwachsenden Generation Überzeugungen zu überliefern. Wir sollen sie dazu bringen, ihre eigene Urteilskraft, ihr eigenes Auffassungsvermögen zu gebrauchen. Sie soll lernen, mit offenen Augen in die Welt zu sehen. Ob wir an der Wahrheit dessen, was wir der Jugend überliefern, zweifeln oder nicht: darauf kommt es nicht an. Unsere Überzeugungen gelten nur für uns. Wir bringen sie der Jugend bei, um ihr zu sagen: so sehen wir die Welt an; seht zu, wie sie sich euch darstellt. Fähigkeiten sollen wir wecken, nicht Überzeugungen überliefern. Nicht an unsere „Wahrheiten“ soll die Jugend glauben, sondern an unsere Persönlichkeit. Daß wir Suchende sind, sollen die Heranwachsenden bemerken. Und auf die Wege der Suchenden sollen wir sie bringen.“
1898, GA 31, S. 233f.


Diese Achtung vor der inneren Freiheitssphäre [...], ist ein Grundanliegen Steiners.

Daraus kann sich unmittelbar auch ergeben, wie das Verhältnis von allgemeinem zu speziellem, bekenntnishaftem religiösen Unterricht sein kann:

„Wir dürfen heute den ethisch‑religiösen Unterricht nicht so erteilen, daß wir im allgemeinen Unterrichte schon irgendwelche Formeln oder irgendwelche Dogmen beibringen, sondern wir müssen dasjenige, was als Göttlich‑Geistiges in der Menschenseele lebt, eben auch entwickeln lernen; dann werden wir in der freien und richtigen Weise das Kind seinem Religionsbekenntnisse entgegenführen. Dann wird es sich selbst nicht in Zwiespalte hineingestellt finden, wenn es sieht, daß der eine der Hochkirche, der andere dem Puritanismus usw. angehört. Und bis zu diesem Auffassen des real‑religiösen Elementes müssen wir es bringen. Und ebenso müssen wir es dahin bringen, daß durch die drei Elemente des gefühlsmäßigen Seelenlebens, Dankbarkeit, Liebe und duty, es dahin komme, daß das Ethische aus der Seele herauswächst, nicht als etwas hineingepfropft wird mit moralischen Vorschriften.“
7.1.1922, GA 303, S. 309.


[...] Wie steht es nun mit der Anthroposophie selbst als Weltanschauung? Denn Anthroposophie ist die Grundlage der Pädago­gik Rudolf Steiners.

Anthroposophie als Methode und als Verständnis des Menschen

Zunächst eine grundlegende Aussage: Anthroposophie ist in ihrem Selbstverständnis nur dann richtig begriffen, wenn sie primär nicht von ihren Erkenntnisaussagen her – diese gibt es selbstverständlich auch verstanden wird, sondern von ihrer Methode her. In diesem Sinne ist Anthroposophie ein Erkenntnis‑Weg, doch eben ein Erkenntnis‑Weg, der wie in jeder Wissenschaft zu Ergebnissen und Einsichten führt. Diese Ergebnisse, für sich genommen – abstrahiert von Weg und ange­wendeten Erkenntnisverfahren –, haben in und aus sich durchaus einen Wert und können einen für die Seele befriedigenden Sinngehalt geben; doch sind sie dann wegen dieser Verwendung durchaus als dogmatisch zu bezeichnen [wie alle Ergebnisse, H.N.]. Genau in diesem Sinne gebraucht Steiner, wie ­zitiert, den Ausdruck „anthroposophische Dogmen“. Aber eben diese will Steiner nicht im Unterricht vermittelt haben; vielmehr soll der Lehrer durch die anthroposophische Methode – möglicherweise auch durch die Inhalte – dazu angeregt werden, sich in seiner Tätigkeit des Unterrichtens zu befähigen, vor allem aber darin, das Wesen des Kindes besser zu verstehen. [...]

In einer gründlichen Untersuchung wurden jüngst die in den letzten zwanzig Jahren in der Erziehungswissenschaft vorhandenen und disku­tierten Konzepte der Erziehung, Didaktik und Methodik daraufhin untersucht, welches Verständnis vom Menschen ihnen – zumeist unaus­gesprochen – zugrunde lag. [Eckehard Meinberg 1988: Das Menschenbild der modernen Erziehungswissenschaft] [...] Aus dem sozialwissenschaftlichen Untergrund kamen Anre­gungen und verschiedene Konzepte in die Erziehungswissenschaft, denn Erziehung vollzieht sich in einem gesellschaftlich geformten Raum. So rückt das in der Sozialwissenschaft ausgebildete empirisch­analytische Wissenschaftsmodell den Verstandesmenschen, die kri­tisch‑dialektische Schule hingegen den emanzipierten Menschen in den Interessenblick. Aber auch der Rollenspieler, der Homo Soziologicus, wird erörtert, ebenso wie seine Konditierung nach behaviouristischem Muster. Durch die Systemtheorie wurde schließlich der Systemmensch im Gegensatz zu „alteuropäischen“ Menschenbildern diskutiert.

Durch all diese verschiedenen Konzepte erhielt und erhält die Erzie­hungswissenschaft reiche Anregungen. Mit der neuerlich eingetrete­nen „Alltagswende“ kam nach fast drei Jahrzehnten zum Bewußtsein, daß es neben diesen Anregungen durchaus noch um eine andere Dimension gehe: nämlich um den „ganzen Menschen“. Die verschiede­nen bisher eingenommenen Sichtweisen schärften den Blick jeweils für ganz bestimmte Zusammenhänge, vergaßen dabei aber, daß der Mensch mehr ist als das aus eingeengter Sicht Betrachtete und vor allem: daß stillschweigend verengte, einseitige Menschenbilder unter­legt wurden, die als solche nicht ins Bewußtsein kamen. [...] Karl Jaspers schreibt:

„Verabsolutierung eines immer parti­kularen Erkennens zum Ganzen einer Menschenerkenntnis führt zur Verwahrlosung des Menschenbildes. Die Verwahrlosung des Men­schenbildes aber führt zur Verwahrlosung des Menschen selber. Denn das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, wird selbst ein Faktor unseres Lebens.“
Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, S. 50.


Anthroposophie legt ihrer Erkenntnisgewinnung in Bezug auf den Menschen bewußt und damit auch ausgewiesen eine dreifache Be­trachtungsart zugrunde:

‑ eine leibliche, die sich mit dem sinnlich Erfahrbaren beschäftigt und den menschlichen Leib in seinem Werden und Wandel in der Entwick­lung betrachtet – einschließlich des Vergleiches mit dem Bauplan der Tierwelt –, hierin auf weiten Strecken der (philosophischen) Anthropo­logie verwandt;

‑ eine seelische, die sich mit dem Erleben, der Gefühlswelt, besonders aber mit Vorstellen und Wollen sowie der entsprechenden Organgrundlage beschäftigt, ebenso wie genetisch mit der Entfaltung und dem Verhältnis der Kräfte zueinander in Kindheit, Jugend usw., sie fordert eine durchdringende Psychologie;

‑ und eine geistige Betrachtungsart, bei der Bewußtseinszustände wie Wachen, Träumen, Schlafen in ihrer Bedeutung für den Menschen und für die Pädagogik erfragt werden; indem die Betätigung des Erkenntnisvermögens auf verschiedenen Ebenen ins Auge gefaßt und indem die Frage nach der Identität des eigenen Wesens (dem Ich) sowie nach der Erkenntnis des Wirkenden, Geistigen in den Welterscheinungen gestellt wird, stellt sich zugleich die Frage nach dem Wesen des menschlichen Geistes. (Hierbei lassen sich nur zu einzelnen Fragestellungen, nicht aber zum Gesamt Parallelen in den Fachwissensschaften ziehen.) [...]

Lange vor einer irgendwie thematisierten Weltanschauungsdiskus­sion, lange vor der unsäglichen Reduktion des Begriffes Weltanschau­ung zur Parteilichkeit und damit zur Ideologie (im Dritten Reich) wurde von Steiner der inzwischen erfolgten Verengung des Begriffes Weltanschauung im Sinne von „meiner Sichtweise“, „meines Standpunktes“, später „meiner Partei“ dadurch vorgebaut, daß er diesen Begriff ausweitete und ihn beweglich, dynamisch zu begreifen suchte.

Steiner stellt 1914 dar, wie es immer notwendiger wird, festgefügte Gedanken und Begriffe nur als Ausgangspunkt für einen weiteren Weg zu benutzen. „Gefordert wird von uns, wenn wir von den speziellen Ge­danken in den allgemeinen Gedanken aufsteigen sollen, daß wir den speziellen Gedanken in Bewegung bringen...“ Diese erneute Bewe­gung ist schon gegenüber bestimmten festgefügten, starren Alltagsgedanken erforderlich, die auf weiten Strecken zwar durchaus im Sinne eindeutiger Gebrauchsanweisung genutzt werden können, aber schon gegenüber lebendiger Wirklichkeit versagen. Mehr noch ist die Beweglichkeit in den bereits festgewordenen Anschauungsweisen, den Welt­anschauungen, nötig. [...] Erst die „Vernetzung“, die Schaffung eines sich gegenseitig beeinflussenden Beziehungsgeflechtes hilft hier weiter. Eben dies bezeichnet Steiner mit der Notwendigkeit, Begriffe beweglich zu machen. Für ausgebildete „feste“ Weltanschauungspositionen hat dies gleichfalls Konsequenzen. Steiner stellt vier ausgeprägte – ganz gegensätz­liche – Richtungen einander gegenüber:

                           Materialismus
Idealismus                                            Realismus
                          Spiritualismus

Diese vier Richtungen haben sich in ganz grundsätzlicher Art im 19. Jahrhundert ausgebildet, gleichsam als modi, die Welt zu betrachten. [...]

Steiner fügt dann als weitere mögliche Arten der Anschauung Ratio­nalismus, Mathematismus, Sensualismus, Phänomenalismus, Dyna­mismus, Monadismus, Pneumatismus und Psychismus hinzu. Für jede Weltanschauung gibt es scharfsinnige Gründe vorzubringen, die schlüssig sind – und außerdem können noch weitere gefühlshafte Varianten wie Mystik, Voluntarismus, Kritizismus, Pessimismus u.a. ebenso berechtigt eine Weltsicht einfärben. [...]

Für eine durchdringende Erkenntnis, wie sie die Anthroposophie anstrebt, ist es Aufgabe, sich durch die verschiedenen Weltanschauungen hindurchzubewegen.

„Die schlimmsten Feinde der Wahrheit sind die, abgeschlossenen und nach Abschluß trachtenden Weltanschauungen, die ein paar Gedanken hinzimmern wollen und glauben, ein Weltgebäude mit ein paar Gedanken aufbauen zu dürfen. Die Welt ist ein Unendliches, qualitativ und quantitativ.“
Rudolf Steiner, 23.1.1914, GA 151, S. 78.


Die „sich überhebende Einseitigkeit, die ein Ganzes sein will“, ist das größte Hindernis in unserer Zeit. Es gilt, das jeweils Berechtigte einer Anschauung zu erkennen, ihren Wert aufzuschließen und die Wirklichkeit zu erfahren – doch wird die Wirk­lichkeit erst dann voll erfaßt, wenn man sich durch die verschiedenen Weltanschauungen hindurch bewegt. [...]

Der Pädagogik Rudolf Steiners liegt die Bemühung zugrunde, diese innere Beweglichkeit, das Hindurchgehen durch verschiedene Weltanschau­ungen, auf allen Stufen gemäß der kindlichen Entwicklung zu prakti­zieren. Das verlangt einerseits die Vermittlung „offener“, erweite­rungs‑ und reifungsfähiger Begriffe, die in ihrem Gehalt wachsen und sich anzureichern vermögen; andererseits aber auch Behutsamkeit, damit nicht eine Unentschiedenheit und Unverbindlichkeit (Relativis­mus) entsteht. Darauf wendet sowohl die Didaktik wie die Methodik für die einzelnen Altersstufen ihre besondere Aufmerksamkeit.

Durch die Waldorfschule wird die Leerformel der „Weltanschau­ungsschule“ am allerwenigsten einen Inhalt erhalten können, denn gerade der Weltanschauungscharakter – die Schüler nach und an einem Bilde auszurichten – ist ihrem Selbstverständnis und ihrem Erziehungs­auftrag zutiefst zuwider. [...]

Weltanschauliche Implikationen alles Unterrichtens – und der Umgang mit ihnen

Wie gezeigt, ist Anthroposophie eine Methode, die als Methode auch in die Didaktik hineinwirkt. Doch kennt Anthroposophie auch Inhalte; so gehört etwa der Reinkarnationsgedanke oder der Gedanke einer historischen Entwicklung, die sich in qualitativen Umbrüchen vollzieht, ebenso wie bestimmte Vorstellungen über die „geistige Welt“ zu ihren „Lehrinhalten“, also zu ihrem „dogmatischen Teil“, wenn man nur die Aussagen ohne methodischen Unterbau vergegenwärtigt. Da kann es angebracht sein zu fragen: Wirken diese Inhalte nicht zugleich in den Unterricht hinein, gleichsam den Lehrstoff formend? Von voreingenommenen Kritikern wird gerade diese „weltanschauliche Beeinflussung“ immer wieder unterstellt, niemals aber schlüssig erwiesen. Und in der Tat ist es doch wie selbstverständlich deutlich, daß jede Form von Schulehalten die Konsequenz prinzipieller weltanschaulicher Grundüberzeugung ist. [...]

Die Waldorfschule nimmt für sich einerseits den Weg der Angebotsschule wahr, anderer­seits reflektiert sie aber auch offen ihre weltanschaulichen Komponen­ten im genannten und sehr eingeschränkten Sinn, und sie kann diese weltanschaulichen Implikationen, die in jeder Art Wissensvermittlung – auch der scheinbar objektivsten – enthalten sind, begründen. Ferner hat sie aus ihrem Menschenverständnis heraus nicht die Absicht, die Kinder zu „ihrem Bilde“ zu erziehen, vielmehr zur persönlichen Frei­heit und Verantwortung. Zu glauben, es gebe Wissen ohne Wertent­scheidung, d.h. ohne Weltanschauung im ursprünglichen Sinne des Wortes, ist naiv; und selbst dann, wenn es mit Nachdruck und Überzeu­gung vorgebracht wird, weist es schlicht nur Unaufgeklärtheit aus. Gerade eine „wertneutrale“ positivistisch‑objektivistische Wissen­schaftskonzeption ist nicht nur Weltanschauung, sondern gelegentlich sogar Ideologie im reinsten Sinn. Anders geht die Waldorfschulpädagogik vor, die eben die häufig unbewußt gemachten Voraussetzungen für sich bis in ihre didaktischen Auswirkungen bewußt macht und reflektiert.

Dafür sollen hier allein zwei Beispiele dienen: Der Naturkunde- und der Geschichtsunterricht. Für den naturwissenschaftlichen Unterricht besteht eine offenbar schwer zu überbrückende Kluft zwischen dem, was der Mensch sinnlich wahrnimmt, erlebt, erfährt, und dem, was als wissenschaftliches Erklärungsmuster für die Phänomene angeboten wird. Allzuleicht wird dabei die lebensweltliche Erfahrung durch wissenschaftliches Zurechtrücken laienhafter Anschauungen denunziert. Dabei funktioniert in der didaktischen Vermittlung die Lebenswelt lediglich als Vor‑ und Nachspiel für abstrahierende Akte. [...] Die Klage Wagenscheins gilt unvermindert:

„Die Schule bringt dem Menschen das Urteil in den Kopf, ehe er die Sache sieht und kennt.“
Martin Wagenschein: Naturphänomene sehen und verstehen. Stuttgart 1995, S. 136.


[...] Denn das Schulwissen wird zwar für die Prüfung beherrscht, verbindet sich aber ebenso wenig mit der Persönlichkeit wie die Erklärungsmodelle der Naturwissenschaft mit der vom Schüler erfahrenen Lebensweit zur Einheit verschmelzen. Das führt dazu, Wege zu suchen, die die „Vermittlung naturwissenschaftlicher Tatsachen existential‑relevant“ machen. Die Analyse von Lehrfilmen und Unterrichtsbeispielen zeigt, wie weltanschauliche Implikationen „verschwiegen und dennoch als heimliche Erziehung wirksam“ sind und wie die glorifizierte Rolle der Naturwissenschaft vermittelt wird, wobei die Auswirkungen der Anwendung eben dieser Konzeption für Natur und Umwelt ausgeblendet bleiben.

„Nehmen wir an, für den Schüler setzt sich die nächste Welt zusammen aus Menschen, die er kennt, seinen Eltern, den Geschwistern, Freunden, die er hat, einem Mädchen, das ihm nicht aus dem Kopf geht. In seinen Verhältnissen mit ihnen gelten die Kügelchen nicht, denn es macht keinen Sinn zu sagen, sein Mädchen bestünde im wesentlichen aus Wasser, das seinerseits nichts als eine Ansammlung von Kügelchen sei.“
Mins Minssen / Peter Buck: „Das also ist Wasser!“ oder: „Das alles ist Wasser“, chimica didactica 12/113, 1986, S. 115.


[...] Der die Schüler‑Existenz berührende Ansatz geht vom Erleben des Phänomens aus und durchdringt das Wahrgenommene mit Begriffen. Die auf Übermittlung von Modell­wissen ausgerichtete Methode kommt ohne Wahrnehmungen des in den Formeln Beschriebenen und durch Gedächtnis und Vorstellungs­gebrauch Gelerntes aus, doch die Inhalte bleiben dem Schüler und erst recht dem Erwachsenen fremd.

Es geht also um die Anschauung der Welt, wobei darüber Rechen­schaft abzulegen ist, in welchem Verhältnis das vermittelte Wissen (etwa H2O) in Beziehung zur Erscheinung (Wasser) steht, wie Kenntnis und Erleben zusammenhängen, zum anderen um das anthropologische Verstehen, in welchem Alter das Kind welche Erlebens‑ und Verständ­nismöglichkeiten hat. Die Waldorfpädagogik geht davon aus, daß Ver­stehen und Erleben, Wahrnehmung und Urteil nicht getrennt werden dürfen. Das führt zu einer phänomenologischen Methode, wo von Anschauungen und Erfahrungen ausgegangen wird und sich dann dar­auf Kenntnisse und wieder später Theorien aufbauen. Dann verbinden sich Lebenerfahrung und naturwissenschaftliche Kenntnis miteinander. Soweit so gut. Es ist aber zu fragen, ob ihr dergestalt – nicht nur bei ihr – reflektiertes Konzept auch zu dem führt, was sie erstrebt. Darüber liegen nun glücklicherweise Zeugnisse namhafter Vertreter der Naturwissenschaft vor: [...]

„Ich kann nicht beurteilen, ob die Waldorfschulen die besten aller Schulen sind. Aber ich halte sie für die besten, die wir heute haben und wünschte, sie gewännen die Zukunft“.
Martin Wagenschein: Erinnerungen für morgen. Weinheim/Basel 1983, S. 23.


Ein anderer Physiker schreibt (in einem Brief an Wagenschein):

„Ich habe lange Jahre im Physikalischen Institut der Universität Frankfurt viele Studenten im Anfängerpraktikum betreut. Eines Tages fiel mir ein Student auf, der sich von seinen Kommilitonen durch sein Verhalten wohltuend unterschied. Er war gelassen und nicht beflissen streberhaft, er arbeitete interessiert, aber nicht verkrampft ehrgeizig, er unterhielt sich mit mir ohne Scheu, aber nicht kumpelhaft, kurz, er war ein freundlicher angenehmer Mensch. In Gesprächen mit ihm habe ich dann erfahren, daß er an der Waldorfschule sein Abitur gemacht hatte. Nach meiner Promotion bot sich mir die Gelegenheit, an diese Waldorf­schule fast fünf Jahre unterrichten zu dürfen. Ich habe mich an dieser Schule sehr wohl gefühlt und die Schule oft um diese pädagogische Atmosphäre beneidet [...]“.
Adam Muth: Didactique d’Humanité, Physica didactica 14 (1987), ½, S. 11f.


Das Beispiel des Geschichtsunterrichts zeigt, wie jedes Unterrichtsfach, weltanschauliche Implikationen. Der Durchgang durch die Ge­schichte erfolgt in der Volksschulzeit der Waldorfschule so, daß er die aufeinanderfolgenden Hochkulturen als geistiges Band zugrundelegt. Aus mythischer Urzeit sind unterschiedliche Mythologeme überliefert, z.T. verschiedene Kosmogonien. Diese treten, da Geschichte es ja mit der Chronologie zu tun hat, gleichsam als vorgeschichtliche Erinnerung dem Kind durch Erzählungen in Bildern entgegen: in der dritten Klasse der wohl tiefsinnigste Bericht von der Weltentstehung im 1. Buch Mose, in der vierten Klasse dann die Überlieferung des vorgeschicht­lichen Zusammenhanges, in dem die Schule liegt, so im nördlichen Europa die germanische Mythologie. Gleichsam noch immer nicht Geschichte, eher Bilder aus der Geschichte, sind dann die Berichte Platons über die Atlantis, darauf Überlieferungen des alten Indien, der Seßhaftwerdung mit Züchtung der Kulturpflanzen (Getreide) und Domestikation der Tiere (alter Iran), schließlich die Flußkulturen von Sumer und Ägypten, anschließend Griechenland und Rom. Es folgt die mittlere und dann der Übergang zur neueren Geschichte, wesentlich in ihren wirtschaftlich‑technischen Aspekten. Also von der Eiszeit mit ihren Jägern und Sammlern geht der Weg zu den Hochkulturen des Ostens über Ägypten, Griechenland, Rom in das Abendland, zur Neu­zeit und in die Gegenwart. Der innere Entwicklungsgang ergibt sich für den Lehrer sicherlich durch anthroposophische Einsichten, doch immer in Anlehnung an Fundgeschichte, mythologische oder kulturkundliche Überlieferung. Weder eine nationale noch europozentrische, aber auch keine Geschichte allein entlang an den Werkzeugen oder rein politische Geschichte wird vermittelt; vielmehr wird integrierend vorgegangen. [...]

Die Waldorf­pädagogik hat aus dem Verständnis, daß die Menschheit eine einheitli­che, sich durchaus auch entwickelnde ist, daß aber politische Geschich­te nur einen Teil der Wirklichkeit darstellt, eine Konzeption zugrunde gelegt, durch die mythische, religiöse, zivilisatorische Faktoren in Bildern, dann immer stärker in kulturell‑geschichtlichen Abläufen ver­gegenwärtigt werden, um schließlich in einem zweifachen Durchgang behandelt zu werden (Kl. 5 Antike, bis Kl. 9 Neuzeit, 10. Kl. Alte, 11. Kl. Mittlere Geschichte, aus dem Blick des 19./20. Jahrhunderts zu sehen, 12. Kl. jüngste Zeit). Man kann sich so der Begrenztheit des eigenen Ansatzes sehr wohl bewußt sein und, da Schule nur in begrenz­ter Zeit geschehen kann, sich ganz bewußt dafür entscheiden, daß aufgrund der notwendigen Beschränkungen in der Oberstufe jede mögliche Verengung wieder ins Offene geführt wird, indem nun bei weitergreifendem Verständnis der Schüler – unter teilweisem Verzicht auf die Überfülle möglicher Tatsachenvermittlung – sehr verschiedene, ja gegensätzliche Deutungsmuster der Geschichte und der Bedeutung für den Menschen vergegenwärtigt werden; so etwa paradigmatisch in der 12. Klasse an Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts, Novalis: Die Christenheit oder Europa, Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Karl Jaspers: Vom Sinn der Geschichte. Damit wird dem Anliegen Steiners, nicht Dogmen zu vermitteln, auch insoweit Rechnung getragen, als zu Ende der Schulzeit der Mensch erstmals in der Lage ist, sich „seine Weltanschauung“ selbst zu suchen und zu bauen.