01.02.2011

Warum Anthroposophie tägliche Arbeit des Lehrers sein müsste

...weil es eine Gesinnungspädagogik ist

Die Beschäftigung mit der Anthroposophie wirkt gesinnungsbildend – oder man kann auch sagen: bis ins Innerste verwandelnd. Rudolf Steiner ist nie müde geworden, diese innere Arbeit als essentielle Grundlage, als zentralen Aspekt der Waldorfpädagogik zu betonen.


Der Alltag in den Schulen, und da machen auch die Waldorfschulen keine Ausnahme, besteht darin, dass in vielen Klassenzimmern und in vielen Augenblicken des Alltags die Probleme überhand nehmen, und zwar Probleme, deren Lösung man sich kräftig nähern könnte, wenn man eine innere Arbeit betreiben würde. Es geht um ein Verständnis der Kinder, um ein wirklich inneres Band zu den Kindern und ihrem Sein, ihren Fragen, ihren tiefsten Bedürfnissen. Gerade die wahrhaftigsten Lehrer werden sich am meisten darüber im Klaren sein, wo überall sie an ihre Grenzen stoßen.

Eine Waldorfbewegung, in der immer weniger Lehrer und Kollegien an den anthroposophischen Grundlagen der Waldorfpädagogik arbeiten, und zwar ernsthaft, intensiv und mit Begeisterung, gerät in kurzer Zeit in eine Katastrophe.

Natürlich ist man schnell dabei, mit den Fingern auf „Katastrophenprediger“ zu zeigen und zu sagen: Es ist doch alles wunderbar! Was will man uns denn schlechtreden? – Nun, das ist eben immer eine Frage des Standpunktes. Wenn man den Standpunkt derer, die von einer Katastrophe sprechen, nicht einmal mehr versteht, dann ist es ohnehin zu spät. Um „Schlechtreden“ kann es nicht gehen, sondern nur um den außerordentlich besorgten Hinweis auf eine reale Katastrophe, die dennoch einen Zustand bedeuten kann, in dem vieles andere noch immer wunderbar ist.

Von der Wirksamkeit der Gedanken

Rudolf Steiner hat immer wieder betont, wie viel von der inneren Haltung und Gesinnung abhängt, mit der Menschen sich begegnen. Und wir alle wissen es doch nur allzu gut aus unserem eigenen Alltag, und auch die moderne Hirnforschung hat einen Beitrag zu einem Beweis dieser Tatsachen geleistet.

Es gibt Versuche, wo Lehrern als Versuchsperson gesagt worden ist, dass im nächsten Raum ein Schüler mit (angeblich) unterdurchschnittlicher Intelligenz sitzen würde. Man hat die Hirnströme dieses Schülers gemessen. Als der Lehrer den Raum betrat, spielten die Hirnströme „verrückt“. Der Schüler war außerstande, sich zu konzentrieren. Und was war die Ursache? Die bloßen Gedanken des Lehrers über den Schüler!

Stellen wir uns vor, es wäre wahr gewesen, dass der Schüler „dümmer“ war als andere Schüler. Was bedeutet es, wenn wir diese Dinge überhaupt denken, diese Urteile – ob wahr oder unwahr – in uns tragen? Es bedeutet, dass wir die Kinder ganz stark mit dazu verurteilen, dass diese Urteile wahr werden (und bleiben). Wir sind es selbst, die den Schüler „dumm“ machen und „dumm“ bleiben lassen, allein schon durch unsere Gedanken und Gefühle – ganz abgesehen von unseren Worten, Gesten, Taten und allem anderen, was stimmungsmäßig in unserem Unterricht lebt oder nicht lebt!

Und wie oft mögen wir vor einer bestimmten Situation in der Klasse oder einem einzelnen Kind hilflos stehen, weil uns die notwendige, richtige, heilende Idee in diesem Moment nicht kommt! Rudolf Steiner sagte aber, dass die ernsthafte Beschäftigung mit der spirituellen Menschenkunde den Menschen allmählich so ideenreich werden lässt, dass er sich nur immer wieder selbst wundern kann.

Vertiefen wir uns also in diesen spirituellen Schatz – mit all der inneren Stärke und Ernsthaftigkeit, die uns zur Verfügung steht, damit wir diese wunderbare Pädagogik wirklich von innen heraus immer mehr wahrmachen können! Damit wir immer mehr in jedem Augenblick, in jeder Stunde oder auch in anderen Situationen die richtige Atmosphäre finden und schaffen können ... den richtigen Blick, das richtige Wort, die richtige Idee. Durchdrungen von einer Liebe und einem Verständnis, die zu einem bleibenden Band werden, das wirklich ganz real mit der Seele der Schüler verbindet und auch in den Stürmen des Alltags nicht schwächer wird, sondern nur stärker werden möge!

Waldorfpädagogik ist nicht nur Gesinnungspädagogik – sollte es sein! –, sondern sie hat auch das Instrument, den Weg, um diese notwendige Gesinnung ganz individuell in der eigenen Seele auszubilden. Dieser Weg gehört so notwendig zur Waldorfpädagogik wie ... die Kinder, die darauf warten, dass wir diesen Weg beschreiten...

Was die größte Tragik ist...

Die Beschäftigung mit der Anthroposophie würde unendlich vieles geben können. Eine zunehmende innere Seelenstärke, Seelentiefe, Verständnis, kollegialen Zusammenhalt; eine innere Gesinnung, die stark genug ist, um nicht in den Stürmen oder auch schon kleineren Böen des Alltags völlig über den Haufen geworfen zu werden; ein inneres Band zu den helfenden Kräften – beginnend mit den Phantasiekräften oder anderen notwendigen Inspirationen und weitergehend in noch spirituellere Bereiche.

Es geht nicht um Vorwürfe, Anklagen oder einen erhobenen Zeigefinger, sondern um die Feststellung, dass eine ernsthafte, substantielle kollegiale Vertiefungsarbeit unendlich vieles für die ganz konkreten Probleme des Alltags beitragen würde – und um die Erkenntnis, dass all das oben Angedeutete heute immer wieder schmerzlich fehlt.

Und die größte Tragik ist noch nicht einmal, dass das so ist, sondern dass man es nicht einmal zugeben will! Es ist aber heute die Realität in der Waldorfbewegung, dass nur noch einige Kollegen diese Tragik essentiell und mit großen Schmerzen empfinden. Dann gibt es viele, viele andere, die sagen: „Ja, es stimmt, diese Grundlagen müssten wir eigentlich (mehr) pflegen. Müssten...“. Und dann gibt es eine immer mehr wachsende Zahl noch anderer Kollegen, die schon beim Namen „Steiner“ innerlich die Augen verdrehen und sagen: „Was soll dieser ganze Blödsinn? Je eher wir aufhören, ständig von ‚Grundlagen’ zu reden, desto besser können wir uns den konkreten Themen widmen.“

Darum sage ich: Die eigentlich essentielle Arbeit wird nicht mehr verstanden und nicht mehr gewollt, und die Tragik besteht darin, dass diejenigen Menschen, die noch aus ganzem Herzen die Notwendigkeit dieser Arbeit erkennen, nicht auf diese Katastrophe hinweisen.